Friedrich Schiller, am 10. November 1759 im schwäbischen Marbach am Neckar geboren und am 9. Mai 1805, erst 45jährig, in Weimar verstorben, war tatsächlich ein unermüdlicher Verkünder der Freiheitsidee. Sie lag in der Luft, ohne Zweifel, zumal im von unzähligen Duodez-Fürstentümern zerstückelten Deutschland. Aber es stimmt nicht, daß das dahinsiechende alte Reich generell ein Hort der Unfreiheit, der politischen Unterdrückung war und quasi in vorrevolutionärer Unruhe brodelte. Als die Franzosen während der Revolutionskriege Mainz einnahmen, erteilte die Bürgerschaft ihrem General, Custine, den Bescheid, man wisse nicht, inwiefern man durch das französische Regiment „freier“ geworden sei, da man auch vordem keinen Mangel an bürgerlichen Mitwirkungsmöglichkeiten gelitten habe.
Schiller, der im Revolutionsjahr 1789 auf Goethes Vermittlung hin seine Antrittsvorlesung als außerordentlicher Professor für Geschichte in Weimar hielt, war weniger skeptisch als die Mainzer Bürger. Er hatte Zensur und obrigkeitliche Gängelung in seinen frühen Jahren zur Genüge am eigenen Leib erlebt. Sein erstes Drama „Die Räuber“, 1781 inkognito in Mannheim uraufgeführt, läßt sich geradezu als Lob des entfesselten Anarchen lesen, der mit jedweder Konvention gebrochen hat. „Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh’ unter“, verkündet Franz von Moor im ersten Akt, und es klingt wie das Programm heutiger Ultraliberaler: „Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten; Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.“
Die Französische Revolution – ein abschreckendes Beispiel
Dabei ist es bekanntlich nicht geblieben, ungeachtet der Tatsache, daß die Pariser Nationalversammlung Schiller für sein freiheitliches Bekennerpathos noch 1792 offiziell das französische Bürgerrecht verlieh. Doch um diese Zeit hatte er sich von der Entwicklung jenseits des Rheins innerlich längst distanziert. Über die revolutionären Ereignisse bestens informiert – er ist regelmäßiger Leser der Gazette nationale ou le Moniteur universel, eines politischen Tagesjournals –, sind ihm die barbarischen Auswüchse der Revolution nicht verborgen geblieben, die schon mit der Erstürmung der Bastille und ihren grausigen Begleitumständen ihren Anfang nehmen. Frankreich ist das erste europäische Land, das unter der Herrschaft der Jakobiner einem totalitären Tugend-Terror anheimfällt – während andererseits die Nationalversammlung bereits im August 1789 ihren Katalog volltönender „Menschenrechte“ verkündet.
Schiller sieht sich desillusioniert, als im Dezember 1792 ein formelles Verfahren gegen König Ludwig XVI. eröffnet wird. Er spielt mit dem Gedanken, nach Paris zu reisen und sich dort persönlich für Ludwigs Verteidigung zu verwenden. Doch schon im Januar 1793 wird sein Ansinnen hinfällig, als sich die Nationalversammlung mit knapper Mehrheit für die Hinrichtung des Königs entscheidet. Unter den entsetzten Augen der Mitwelt wird Ludwig XVI. am 21. Januar 1793 enthauptet.
Wie viele seiner Zeitgenossen, ist auch Schiller zutiefst erschüttert. „Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln mich diese elenden Schindersknechte an“, schreibt er an einen Freund. Fortan sind ihm tagespolitische Erörterungen ein Greuel. Die Französische Revolution ist sein Damaskus-Erlebnis. Ans Utopische reichende Ideale, muß er sich eingestehen, sind das eine, ihre Verwirklichung auf dem Boden des Politischen das andere. Paradoxerweise ist gerade die Geschichte der „Freiheit“ eine Chronik des Schreckens.
Schiller verarbeitet das Trauma der Revolution auf höchst eigene Weise. Er vertieft sich in die Philosophie Kants, ist bestrebt, sich der Chimäre „Freiheit“ fortan systematisch anzunähern. Kants Kategorischer Imperativ bietet ihm dazu einen außerordentlich dankbaren Anknüpfungspunkt. Schiller begreift das Problem der Freiheit als moralische Zentralfrage und erkennt, daß die Wahrnehmung äußerer, politischer Freiheitsrechte das moralisch souveräne, sittlich reife Individuum zur Voraussetzung hat, während der umgekehrte Weg zwangsläufig ins Chaos führen muß. Schon ein Brief aus der Revolutionszeit läßt Skepsis am radikalen Freiheitspathos der Jakobiner erkennen: „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das Zentrum aller Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.“
Schiller ist um diese Zeit Geschichtsprofessor in Weimar. Vor allem aber ist er Dichter. Zumal als Künstler sieht er sich gefordert, mit den großen, wirkmächtigen Ideen seiner Epoche ins Reine zu kommen, während ihm ihre menschlichen Protagonisten wie Napoleon kaum der Beachtung wert scheinen. „Dieser Charakter“, urteilt er einmal über den großen Korsen, „ist mir durchaus zuwider – keine einzige heitere Äußerung, kein einziges Bonmot vernimmt man von ihm.“
Während Europa Zeuge des kometenhaften Aufstiegs Napoleons wird, wächst Schiller zur literarischen, zur geistigen Instanz empor. Die Freundschaft mit Goethe, dem um zehn Jahre Älteren, schenkt der Nachwelt das Wunder der deutschen Klassik, deren stilbildende Kraft sprichwörtlich geworden ist. Deutschland wird, während das Heilige Römische Reich unter den Schlägen des Korsen zusammenbricht, zur Kulturnation. Noch Friedrich der Große hatte ein Menschenalter zuvor über die deutsche Literatur gespottet, sie sei keinen „Schuß Pulver“ wert. Um 1800 sind es Deutsche, die auf allen Gebieten des geistigen Lebens tonangebend sind; Madame de Staël, die glühende Feindin Napoleons, hat ihnen in ihrem berühmten Buch „De l’Allemagne“ ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Schiller wird, zehn Jahre danach, noch immer vom Trauma der Revolution umgetrieben. 1799 entsteht sein berühmtes „Lied von der Glocke“, auswendig gelernt von zahllosen Schülergenerationen, ein unvergängliches Dokument der deutschen Seele und ihrer Sehnsucht nach Ordnung und Innerlichkeit. Mit den Phrasen der Pariser Revolutionäre („Freiheit“, „Gleichheit“) verbindet Schiller jetzt ausdrücklich das Grauen entfesselter Gewalten, die keine Sittlichkeit, kein Gesetz mehr in Schranken hält:
„Wo rohe Kräfte sinnlos walten, / Da kann sich kein Gebild gestalten; / Wenn sich die Völker selbst befrein, / Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.“
Man hat Verse wie diese, die Schiller mit Schilderungen einer idyllisch-heilen Bürgerwelt kontrastiert, als Ausdruck einer zutiefst privaten, unpolitischen Grundhaltung des Dichterfürsten interpretiert. Dazu paßt, daß er sich, zumal in den Jahren der Reife, immer wieder in die Geste des „Olympiers“, des klassisch Entrückten flüchtet – auch dort, wo es um konkrete Tagesereignisse geht, die er dann mit blühender Metaphorik allenfalls umschreibt …
Die Botschaft ist unmißverständlich: Der Ertrag politischen Handelns ist vergänglich, der Weg zum Ruhm von Leichen gesäumt. Allein sittliche Größe vermag überzeitliche Geltung zu beanspruchen und demzufolge das Fundament der irdischen Ordnung abzugeben. Konsequenterweise enden die meisten Helden in Schillers Dramen unter wenig ruhmvollen äußeren Umständen, jedoch im Status der moralischen „Erhabenheit“, auch dies ein Begriff, den Schiller in seinen ästhetischen Schriften immer wieder bemüht.
Natürlich hält sich der politische Nährwert dieser Attitüde in Grenzen. Sie hatte – und hat – jedoch ihre Berechtigung in Zeiten der Unsicherheit und epochaler Veränderungen, wie sie Europa in den Jahrzehnten der Napoleonischen Ära erlebte. Gerade den Deutschen blieb wenig, woran sich realpolitische Erbauung knüpfen ließ. 1806 fand das alte, das Heilige Römische Reich ein ruhmloses Ende, im Jahr darauf wurde auch Preußen, letzter Hoffnungsanker gegen Napoleon, bei Jena und Auerstädt vernichtend aufs Haupt geschlagen. Was blieb, war die Utopie der Kulturnation.
Schiller war einer ihrer wirkmächtigsten Verkünder. Schon zeitig bemühte er sich, das Wesentliche der Nation in die Bezirke „ewiger“, nämlich sittlicher Werte zu projizieren – und damit vor der Hinfälligkeit im Strudel realhistorischer Katastrophen zu retten. Im Entwurf zu einem unvollendet gebliebenen Gedicht, betitelt „Deutsche Größe“, heißt es: „Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur.“
Um deren tragende Fundamente, die Formulierung der ewigen Gesetze der Ordnung rang Schiller bis zuletzt. Wobei es schließlich keinen Unterschied macht, ob es um die große Ordnung des Kosmos oder die irdische im sozialen Miteinander geht; ihre Universalität erweisen die im Spätwerk geschauten, durch die Feder des Dichters verkündeten Wirkgesetze ja gerade dadurch, daß ihnen Mensch und All gleichermaßen unterworfen sind. Das Wissen um die ewigwährende Harmonie des Kosmos, uraltes platonisches Erbteil seines Denkens, ist die große Zuversicht des späten Schiller. Einmal dichtet er:
„Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
wie auch der menschliche wanke;
hoch über der Zeit und über dem Raume webt
lebendig der höchste Gedanke;
und ob alles in ewigem Wechsel kreist,
es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.“'
Mit dem überschäumenden Rebellenpathos der frühen Jahre haben solche Zeilen nur mehr am Rande zu tun. Der Dichter des „Tell“, des „Demetrius“ weiß: Freiheit ohne Ordnung geht nicht; Freiheit bedarf der Regeln, will sie nicht zur Willkür entarten – eine Einsicht, in der sich europäische Denker stets einig waren. Es bedurfte erst der Neuen Welt und ihrer grenzenlosen Möglichkeiten, damit dieser Konsens brüchig wurde.
Es ist deshalb reichlich verfehlt, Schiller posthum zum Ahnvater eines schrankenlosen Liberalismus, gleichsam zum literarischen Übervater der postmodernen Spaßgesellschaft zu erklären. Bei Schiller ist Freiheit das „vertraute Gesetz“, das die Freiheitsbedürfnisse und -phantasien des einzelnen an die „heil’ge Natur“, an das eherne Prinzip einer prästabilisierten kosmischen Koexistenz zurückbinden soll. Amerika (samt 68er) setzte dagegen: das größte Glück der größten Zahl, einen Freiheitsbegriff der Superlative, der puren Quantität.
Abgründe trennen Alte und Neue Welt auch in diesem Punkt. Der „war on freedom“ des George W. Bush war der blanke Hohn auf 2000 Jahre europäischen Denkens. Schillers Erben kümmert das wenig. Im Deutschunterricht heutiger Gymnasien müssen seine Dramen häufig wie Fremdsprachentexte erarbeitet, ja übersetzt werden, so weit hat sich die PISA-Nation vom Autor der „Maria Stuart“ oder des „Fiesko zu Genua“ entfernt.
Der Rapper und Schauspieler Tyron Ricketts, Sohn einer österreichischen Mutter und eines jamaikanischen Vaters, der seiner Musik Schiller-Verse unterlegt, hält den Dichterfürsten immerhin für einen „pfiffigen Kerl“, während auf den großen Bühnen Verballhornung angesagt ist. „Ein trauriges Schauspiel!“, so selbst die Wochenzeitung Das Parlament (29. März 2005) im Schillerjahr 2005.
Der immerwährenden Aktualität Schillers tut das keinen Abbruch. Verfälschung und Verhöhnung seiner künstlerischen Hinterlassenschaft teilt er mit ungezählten Denkern und Lehrern unseres Volkes, deren Äußerungen heute problematisch und oft genug strafbar wären. Doch das geht vorüber.
„Der Staat muß untergehn, früh oder spät“, dichtete der große Jubilar 1805, „wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“ Wir werden es abwarten können.
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Die Aula“