Der französische Front National (FN) galt lange als der europäische „Trendsetter des Rechtspopulismus“.1 Man nahm an, in Frankreich könne es passieren: Rechtspopulisten erreichen auf legalem, parlamentarischem Wege die Regierungsmacht, während vergleichbare westeuropäische Formationen – etwa die Lega Nord in Italien – ewige Protesterscheinungen blieben. Doch im Mai 2018 sieht die Sache plötzlich ganz anders aus: Die Lega (ohne den einschränkenden Zusatz „Nord“) tritt plötzlich an, um eine (höchst fragile) Regierungskoalition mit den Allround-Populisten „Fünf Sterne“ einzugehen, während der Front National in der größten Krise seit Jahren steckt. Wie konnte es im Mutterland des Populismus dazu kommen?
Von Benedikt Kaiser, M. A.
Die Verwendung der Bezeichnung – Frankreich als Mutterland des Populismus – muß einleitend präzisiert werden: Zum einen ist das Land politischer Vorreiter populistischer Theorie und Praxis. Hier verbreiteten sich die Ideen von Populismusdenkern wie Alain de Benoist (rechts), Chantal Mouffe (links) und Jean-Claude Michéa („transversal“, d.h.: „Querfront“) schneller als anderswo, hier nehmen mit dem Front National und dem Front de Gauche zwei populistische Formationen gewichtige Rollen im fluiden, sich rasch wandelnden, zersplitterten Parteiensystem ein, hier regiert mit Emmanuel Macron seit 2017 eine Persönlichkeit, die selbst populistische Stilmittel (nicht: Inhalte) verwendet.
Zum anderen wird im vorliegenden Kontext „Populismus“2 nicht im demagogischen Sinne verwendet, um politische Gruppen zu stigmatisieren, sondern wird als möglichst präzise Beschreibung einer auf das Volk als Subjekt abzielenden Politik unter den Bedingungen einer Mediengesellschaft und der parlamentarischen Demokratie begriffen. Denn die etymologische Bedeutung ist wertfrei: Das Wort Populismus stammt vom lateinischen populus ab, das „Volk“ oder „Bevölkerung“ bedeutet. Die Endung „-ismus“ zeigt meist eine weltanschauliche Fokussierung auf das vorangegangene Wort an; Populismus ist also – etymologisch betrachtet – nichts anderes als die weltanschauliche Fokussierung auf das „Volk“, wobei ebendiese Kategorie unterschiedlich mit Inhalt verkoppelt wird. Verstehen die einen Kräfte – vor allem von „rechts“ – das „Volk“ als unveränderliche oder aber dynamische Abstammungsgemeinschaft, unbeeinflußt von der möglichen Klassenzugehörigkeit, herrscht in anderen – speziell linken – Kreisen das Verständnis des „Volkes“ als gewissermaßen zufällige Ansammlung von Menschen in einem bestimmten Territorium vor. Wieder andere – marxistisch und postmarxistisch argumentierende Akteure – sehen im „Volk“ das „Populare“ im Sinne Antonio Gramscis verkörpert, meinen also die „subalternen“ (untergeordneten) Schichten, die „Volksklassen“, die unteren und mittleren Schichten jenseits der obersten, besitzenden, regierenden Klasse.3 In dieser Traditionslinie steht die französischsprachige Belgierin Chantal Mouffe4, deren denkerische Arbeit speziell auch der Stiftung eines positiven „Linkspopulismus“ dient und deren Ideen im französischen Front de Gauche des Linkssozialisten Jean-Luc Mélenchon rezipiert wurden.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß einzelne Ansätze von Mouffe – Kontrastierung Volk vs. Elite, undemokratische Entwicklung der Markt-EU etc. – auch für die politische Rechte fruchtbar gemacht werden können. Einem wie auch immer gearteten „Querfront“-Konzept5 steht sie hingegen nicht zur Verfügung – anders als Jean-Claude Michéa. Der politische Philosoph stammt zwar – wie Mouffe – aus der radikalen Linken. Dort störte ihn allerdings vor allem die Weigerung, einzugestehen, daß eine tiefgreifende Einheit des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Liberalismus offenkundig ist, in dem das „Volk“ jede Bedeutung zugunsten demokratisch nicht legitimierter „Eliten“ verloren habe.6 In seinem bisher wichtigsten Werk Das Reich des kleineren Übels, das in Frankreich weite Verbreitung fand, plädiert er für einen nicht eindeutig linken, aber auch nicht eindeutig rechten Populismus, der sich an einem wertegebundenen Gesellschaftsbild orientiert, dessen Grundmaximen „Moral“ und „Gemeinschaft“ bedeuten und dem der Abschied von Wachstumsideologie und One-World-Streben innewohnt.7
In seinem jüngsten Werk8, in Frankreich vieldiskutiert, knüpft Michéa an diese Standpunkte an. Er fordert einen Populisme transversal, den man ins Deutsche mit Querfrontpopulismus übersetzen könnte, wenn man „Querfront“ in diesem Kontext nicht als die Verschleierung der Bedeutung der alten Termini „links“ und „rechts“ versteht, sondern als dialektische „Aufhebung“ im Sinne dessen, daß etwas Überkommenes (die gegenwärtige Linke und die gegenwärtige Rechte) zerstört wird, aber als etwas Neues (als eine höhere Synthese mit linken und rechten Elementen) weiterlebt.9 Michéa fordert einen transversalen Populismus, der sich primär gegen den Souveränitätsverlust des Volkes gegenüber dem nicht greifbaren – aber um so mächtigeren – Kapital und seinen einzelnen Interessenfraktionen in der Europäischen Union wendet. Es ist dies ein Umstand, den Front National wie Front de Gauche in populistischer Manier in Wahlkämpfen aufgreifen, aber auch ein Umstand, den Michéa mit Mouffe und dem französischen Vordenker der europäischen Neuen Rechten Alain de Benoist gemein hat.
Wie schaut nun im neurechten Kontext Populismus aus? In einem bedeutenden Grundsatzbeitrag10 hat Benoist seinen Standpunkt umrissen: „Populismus“ erscheine nur auf dem Tableau der Tagespolitik, „um zu diskreditieren oder zu disqualifizieren“.11 Der Mainstream will so die eigene Politik als alternativlos verewigen; wer aufbegehrt, ist Anhänger des Populismus, ist demagogisch, im schlimmsten Fall ein Befürworter der Diktatur, so der Kampfbegriff, der aber nicht alleine zähle. Populismus im engeren Sinne ist für Benoist volksnahe Politik, die sich dann artikuliert, wenn eine politische Legitimationskrise das Establishment erfaßt. Der Populismus erscheint so also als legitime Reaktion wider den volksfernen Mainstream und seine herrschende Klasse, „die je nachdem als bürokratisch, ineffizient, machtlos, korrumpiert gesehen wird“ – anders gesagt: „als abgehoben von der Alltagsrealität“.12 Hinzu komme die ewige Krise des Nationalstaats und die Frage, die auch Mouffe und Michéa quält: die Frage der Souveränität. Jene des Volkes schwinde, und der Schwerpunkt der Macht wandere zu Technokraten und Parteien samt ihrem oligarchischen Apparat. Der Populismus favorisiere im Regelfall die direkte Demokratie mit Volksabstimmungen. Aktive Staatsbürgerschaft, der Sinn für Gemeinwohl und gemeinsame Werte, die instinktive Abneigung von Finanzkapitalismus und der Marktlogik prägten den Populismus. Er wende sich gegen die arrogante Bevormundungspolitik der Etablierten. Die Verunglimpfung des Populismus durch ebendiese Etablierten – also ihr „Antipopulismus“ –, außerdem ihre Art und Weise, der „Verachtung für das Volk“ und der letztendlichen „Geringschätzung für Demokratie Ausdruck zu verleihen“:13 All das nähre die Genese von neuen Populismen. Solange die Herrschenden also so handeln, so lange werde es populistische Erscheinungen geben.
Wie Mouffe und Michéa sieht Benoist den populistischen Moment ganz aktuell gekommen, weil die Völker nicht mehr länger akzeptieren, daß das Ideal der liberalen Ordnung in seinen realpolitischen Konsequenzen „Regieren ohne das Volk“ oder aber, wie in einigen Mitgliedsstaaten der EU, sogar „Regieren gegen das Volk“ bedeutet.14
Das Volk in Frankreich empfindet fast zur Hälfte in diesem Sinne, denn bis zu 40 Prozent wählten bei den letzten Wahlen 2017 die Links- und Rechtspopulisten des Front de Gauche und seines Gegenspielers Front National. Benoist lieferte also den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen sich Links- und Rechtspopulisten in Frankreich im Aufstieg befanden.
Der FN, dem wir uns nun zuwenden, wurde bereits 1972 als Sammlungsbewegung der radikalen Rechten gegründet, erreichte jedoch in den ersten Jahrzehnten nur selten mehr als ein Prozent der Stimmen. Das Jahr 2002 erlebte soziale und ethnische Spannungen und den Aufbruch des FN: Es wurde zur Zäsur. Jean-Marie Le Pen, der Gründer und Motor des FN, kandidierte in einem polarisierten Land zur Präsidentschaftswahl gegen mehr als ein Dutzend Kandidaten. Er erreichte – knapp hinter Jacques Chirac – fast 17 Prozent der Stimmen. In der Stichwahl mobilisierten alle Parteien unabhängig von der politischen Herkunft gegen den FN-Kandidaten. Le Pen erzielte nur 17,8 Prozentpunkte. Die Zeit nach dieser Generalmobilmachung gegen den FN war für ihn eine schwere Phase. Erst 2012 gelang dank einer vollumfänglichen Modernisierung – Außendarstellung, innere Struktur, Programmatik – ein regelrechtes Comeback. Unter Marine Le Pen, der Tochter des „Patron“ Jean-Marie, die seit 2011 die Geschicke der Partei und insbesondere deren „Entdiabolisierung“ leitet, wurde die alte Stärke übertroffen. Bei der Präsidentschaftswahl von 2012 gelang Marine Le Pen ein Achtungserfolg von 17,9 Prozent, sie kam aber nicht in die Stichwahl. Noch wichtiger als dieses Wahlergebnis war aber die Arbeit vor Ort, in den Dörfern, Gemeinden, Städten, in den Départements. Der FN löste sich von „altrechten“ Zöpfen und durchbrach – mit einem sozialorientierten Patriotismus nach innen und einem nationalen Souveränismus nach außen bei strikter populistischer Fokussierung auf „das Volk“ – den klassischen Cordon sanitaire des politischen und medialen Establishments, verankerte sich vor Ort als „greifbare“, die Bürger umsorgende Wahlalternative.
Zwischen 2012 und 2017 durchlebte der FN eine personelle wie gestalterische Frischzellenkur, wobei traditionell „nationalistische“ Agitationsweisen zugunsten eines modern gestalteten, volksnahen, populistischen Diskurses aufgegeben wurden. Dieser reproduzierte als zentrale Botschaft jene des „Anders-seins“ als „die da oben“ oder „die im System“. Diese erfolgreichen Bemühungen kulminierten am 23. April 2017 im Präsidentschaftswahlergebnis der Spitzenkandidatin Marine Le Pen; sie erzielte 21,3 Prozent der Stimmen und mußte sich damit nur dem Wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron geschlagen geben, der auf 24 Prozent der Stimmen kam. Die eigentliche Überraschung war aber die Marginalisierung anderer etablierter politischer Kräfte, darunter der Sozialdemokratie, deren Kandidat Benoît Hamon auf 6,4 Prozentpunkte kam, aber auch der (Neo-)Konservativen, die mit François Fillon in den Wahlkampf zogen und mit 20 Prozent scheiterten. Auch wenn der Wahlsieg Macrons im zweiten Wahldurchgang am 7. Mai 2017 mit circa 65 zu 35 Prozent erwartbar deutlich ausfiel: Ein Grund zum Feiern für das Establishment war dieses Ergebnis nicht. Nur gemeinsam konnte eine Allparteienallianz von Linksextremen bis zu Marktradikalen den Front National besiegen.
Le Pen agierte während der Wahlkämpfe „klassisch populistisch“ in jenem Sinne der Definition, daß sie die Gegenüberstellung der „Kandidatin des Volkes“ gegen den „Kandidaten der Oligarchie“ zuspitzte, indem sie mit Globalisierungs-, Eliten-, EU-, Multikulturalismus- und Kapitalismuskritik in den Wahlkampf zog. Einmal mehr vermengte sie „linke“ und „rechte“ Inhalte zu einer neuen Synthese des Front National und konnte so die unteren und mittleren Schichten aktivieren, denen der neoliberale, aber populistische Fragmente (Kritik „der“ Parteien, Ablehnung verkrusteter Strukturen, Forderung nach schlanken Behörden) verwendende Macron als zu abgehoben und volksfern galt. Denn die FN-Expansion – d. h. der lange Aufstieg von 2002 bis 2017 – konnte nur erreicht werden, weil die „popularen Klassen“ in großem Maße dem Front National zuliefen. Resultat dieser Entwicklung ist beispielsweise Didier Eribons Erfolgswerk Rückkehr nach Reims, das in Frankreich schon 2009, in deutscher Übersetzung aber erst sieben Jahre später erschien.15 Eribon, der linksintellektuell-republikanisch zu verorten ist, kehrt zurück in seine „proletarische“ Heimat. Dort haben sich die sozial schwächeren Schichten längst von ihren ehemaligen politischen Heimathäfen der Sozialdemokraten/Sozialisten und Kommunisten gelöst und sich dem Front National zugewandt. Eribon muß erfahren, wie sich die linken Parteien und Bewegungen von den unteren Gesellschaftsklassen abgenabelt haben und die Lebensrealität der Menschen im Zuge intellektueller Selbstreferentialität verdrängen bis leugnen. Daher sei es gewissermaßen „eine Art politische Notwehr der unteren Schichten“16, sich einer nun sozial aufgestellten Rechten anzunähern. Diese Annäherung fand zweifellos statt und zeigt sich bisher als stabil. Das liegt nicht nur am Fehlverhalten der linken Parteien und der Untätigkeit der Liberalkonservativen, sondern vor allem an einem Rechtspopulismus Marke FN, der eine klar souveränistische, patriotische und dezidiert soziale Weltanschauung mit populistischen Elementen verbindet.
Nüchterne Fakten allein haben jedoch noch keine Partei stabil gehalten; viele FN-Anhänger und -Funktionäre wollten 2017 mehr: Streitigkeiten und gegenseitige Schuldzuweisungen eskalierten bereits im Vorfeld der Parlamentswahlen. Denn kaum war der Präsidentschaftswahlkampf im Mai vorbei, begann der Wahlkampf zur Nationalversammlung. Die parteiinternen Gegner Marine Le Pens, etwa die Anhänger des dynamischen Partei-Vizes Florian Philippot, warfen ihrer Chefin vor, die Niederlage im entscheidenden TV-Duell gegen Macron verschuldet zu haben. Philippot – sozialpatriotischer Stratege der Partei, Absolvent von Eliteschulen, bekennend homosexuell – traf einen wunden Punkt: Le Pen hatte sich tatsächlich in keinem guten Licht präsentiert. Sie beging taktische Fehler und brachte wichtige Fakten auf unterschiedlichen Feldern durcheinander. Macron, der bewußt smart und volksnah zugleich auftrat, triumphierte, Philippot spottete. Dabei war er als ihr wichtigster Berater aufgetreten und trug somit nach Ansicht der Parteibasis mindestens eine Teilschuld. Doch dies interessierte viele Sympathisanten nicht mehr, als die Parlamentswahl im Juni 2017 verlorenging. 13 Prozent der Stimmen bzw. lediglich 8 Mandate trotz Polarisierung und Proteststimmung – der Aufstieg war nicht nur gestoppt, er war bereits nach kürzester Zeit in einen Abstieg gemündet. Ränkeschmiedereien und interne Skandale zeigten: Der FN war eine „normale“ Partei geworden, die sich von der Konkurrenz im Verhalten nicht mehr abheben konnte. Philippot wollte ganz in diesem Sinne der modernen Abläufe nach Wahlniederlagen das Ende der Ära Le Pen einleiten und gründete den Verein „Die Patrioten“ als Sammelbecken der Partei-Unzufriedenen, als eine eigene Hausmacht. Marine handelte, und Philippot wurden die wichtigsten Aufgaben entzogen. Er sollte neben Le Pens Lebensgefährten Louis Aliot Vizepräsident des Front National bleiben, aber in Einfluß und Gestaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt werden. Philippot ätzte daraufhin weiter und verkündete am 21. September 2017 seinen Parteiaustritt. Auch wenn es viele Journalisten anders präsentierten und eine inhaltliche Spaltung des FN aufgrund der Trennung suggerierten: Inhaltlich unterscheiden sich Marine Le Pen und Florian Philippot kaum. Beide vertreten einen souveränistischen Sozialpatriotismus (ohne diesen aber ideologisch zu unterfüttern). Vielmehr war der Konflikt Ausdruck von Kompetenzgerangel und Postengeschacher.
Die inhaltliche Problematik kam nun aber ganz anders zu tragen. Nicht Anhänger Le Pens und Philippots stritten sich über den Kurs der Partei. Wer jetzt aufbegehrte, waren jene traditionellen FN-Aktiven, die durch die Erfolge des Duos Le Pen/Philippot jahrelang in den Hintergrund gedrängt worden waren. Der schroffe Anti-EU-Kurs, der in den Wahlkämpfen 2017 mit einer bewußt sozialen bis sozialpopulistischen Ausrichtung gehalten wurde, fand ohnehin keine Zustimmung bei den Nationalkonservativen, die aber angesichts der Erfolge während der langen Aufstiegsphase Zurückhaltung geübt hatten. Nach dem Herbst 2017 änderte sich dies: Der marktliberale, rechtskonservative Flügel fordert eine Annäherung an die neokonservative Mitte bei gleichzeitiger Neuausrichtung der Partei in den Bereichen Europapolitik, Wirtschaft und Soziales – wobei man hier nicht nur von einer Neuausrichtung, sondern von einem regelrechten Roll-back sprechen müßte, denn der FN war in den 1980er Jahren dezidiert wirtschaftsliberal und staatskritisch; erst unter Le Pen/Philippot erfolgte die Genese der „sozialen Heimatpartei“.
Doch das Duo war längst keines mehr. Florian Philippot trat im Herbst 2017 nach: Marine Le Pen habe die alten Dämonen des klassischen Nationalkonservatismus unterschätzt und nicht genug eingehegt. Nun holten sie den FN ein und hinderten ihn an neuem Wachstum nach der Krise. Le Pen wiederum erwiderte via Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP), Philippot inszeniere sich als „Opfer“, seine Aussagen seien „verleumderisch“. Die geschwächte Marine Le Pen und ihre Anhänger kämpften Ende 2017 und Anfang 2018 innerhalb des eigenen Lagers an zwei Hauptfronten: Einerseits mußte verhindert werden, daß die Befürworter eines markliberalen Kurses bei neokonservativer Law-and-Order-Agitation das Erfolgsrezept Sozialpatriotismus rückgängig machten. Andererseits drohte bei ebenjenem bisherigen Erfolgsgaranten Konkurrenz: „Die Patrioten“ von Philippot erhielten unterdessen Parteistatus und bauten landesweit Strukturen auf. Doch ähnlich wie in Österreich (rund um FPÖ-Friktionen) und Deutschland (rund um die AfD) haben als „Spalter“ wahrgenommene Akteure kaum Aussichten auf Wachstum. Das Gerüst des FN blieb Marine Le Pen und dem Mutterschiff erhalten, nur wenige folgten Philippot. Im Süden Frankreichs, der jahrzehntelangen Hochburg des FN, können „Die Patrioten“ bis heute keine Verbände aufbauen.
Bis März 2018 wurde nun innerhalb des Front National gestritten und diskutiert. Dann fand der nächste Parteitag statt, bei dem die Medien des Mainstreams eine neue Stufe des FN-Abstiegs herbeischreiben wollten. Allein, diese Stufe wurde nicht beschritten. Vielmehr überraschte Marine Le Pen mit dem Vorstoß, die inhaltliche Programmatik – sozial- und nationalpopulistische Positionierungen – weitgehend unverändert zu belassen, aber statt dessen den Namen des Front National in Rassemblement National (Nationale Sammlung) zu verändern, denn „Front“ klinge für viele Wähler zu militärisch – ein Schachzug, der an ihre bewährte Strategie der Entdiabolisierung anknüpfte: 52 Prozent stimmten für Le Pens Initiative, das maßgeblichere Ergebnis des Mitgliederbasisentscheids wird im Juni erwartet.
Marine Le Pen konnte unterdessen beweisen, daß der Abstieg des FN nicht ihren persönlicher Abstieg innerhalb der Partei bedeutete: Nordkoreanisch anmutende 100 Prozent der Delegierten stimmten für sie; nach der Abspaltung des Philippot-Lagers droht zumindest in dieser Hinsicht keine neue Reibung. Das größere Problem für den FN, der aus einem temporären Abstieg eine dauerhafte Stagnation werden lassen könnte, ist vielmehr die Personalie Emmanuel Macron. Nach einem Jahr seiner Präsidentschaft frohlocken schon die ersten prinzipiellen FN-Gegner. In einem Gespräch mit der linken Tageszeitung neues deutschland trifft der Leiter des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg, Univ.-Prof. Frank Baasner, durchaus den Kern und zeigt so die Grenzen einer populistischen Formation auf, wenn sie nicht auf ein verkrustetes Parteienestablishment, sondern auf einen dynamisch wirkenden Gegner trifft (der freilich selbst Teil des Establishments ist): „Es war immer ein Teil des Erfolgs des Front National zu sagen, das System muss sich ändern. Und nun ist Macron da und ändert das System ziemlich heftig. Es funktioniert nicht mehr für den FN zu behaupten: Guck mal, die anderen Parteien sind doch alle gleich und systemtragend. […] Die Dynamik ist weg bei der [sic!] Front National.“17
Gewiß: Permanente Dynamik läßt sich nicht erzielen. Und doch läßt sich über Marine Le Pen konstatieren, daß sie die populistische Welle reitet und reitet, aber kein Rezept für windstille Zeiten besitzt (respektive für Zeiten, in denen ein anderer – Macron – einstweilen die bessere Performance beim Wellenreiten darbietet). Erschwerend kommt hinzu, daß Marine Le Pen oftmals eine substantielle Rückbindung an weltanschauliche Anker zu fehlen scheint, mit denen eine „große Erzählung“ für la France éternelle zu bestreiten wäre, die über das bloße „Dagegen“ hinausginge; auf Dauer wird eine populistische Agitation allein nicht ausreichend sein. Ebenjenen Vorwurf äußern denn auch außerparlamentarische Zirkel der Rechten, denen die reine Wahl-Ausrichtung des Front National ein Greuel ist und die unvergängliche Erkenntnisse der Metapolitik in Erinnerung rufen.
Diese Kreise können sich dabei auf Antonio Gramsci berufen, der den Dreischritt der Macht in der Erlangung kultureller Hegemonie, der Gestaltung politischer Hegemonie und dem Regierungsantritt bzw. der Übernahme der Regierungsmacht sah.18 Le Pen fokussiert sich ausschließlich auf Punkt drei, vergißt dabei aber, daß kein substantieller Wandel in der Gesellschaft denkbar ist, der die Abfolge des Dreischritts nicht beachtet und die Tiefenstruktur des Denkens der Menschen – die Mentalität bzw. den „Alltagsverstand“, das „volkstümliche Element“ (Gramsci) – nicht zuallererst in den Fokus nimmt. Daran scheitern rechte Populisten Westeuropas serienmäßig: Die Beispiele Österreich und Italien, bei denen die unverzichtbare (kulturelle) Hegemonie in Medien und Gesellschaft nicht ansatzweise erlangt wurde, bevor man glaubte, Regierungsverantwortung übernehmen zu müssen, sollten ausreichende Warnung sein. Noch bliebe dem FN Zeit, einen Schritt zurückzutreten und sich der Notwendigkeit einer lebendigen wie umfassenden Kärrnerarbeit im vorpolitischen Feld zu entsinnen – ein Schritt zurück ist nicht per se ein Rückschritt; bekanntermaßen dient er auch dem Anlauf. Und ob Macron die Welle noch elegant reiten wird, wenn seine umfassenden Reformpläne für Frankreich und Europa nicht ausreichend Resonanzraum finden, bleibt zu bezweifeln. Dann könnte dem Auf- und Abstieg des Front National ein neuer Aufschwung folgen – diesmal nachhaltig.
1 Florian Hartleb: Die Stunde der Populisten. Wie sich unsere Politik trumpetisiert und was wir dagegen tun können, Schwalbach/Ts. 2017, S. 15.
2 Vgl. einführend Institut für Staatspolitik: Die Stunde des Populismus. Das Volk, die Elite und die Krise der Repräsentation, Schnellroda 2017.
3 Gramsci selbst verwendete das Wort „nazionale-populare“. Die Gramsci-Herausgeber in Deutschland entschieden sich bei der Übersetzung für „popular-national“; am ehesten träfe es aber wohl das Wort „volklich“ (nicht: „völkisch“), das besonders im Umfeld der linksnationalen Zeitschrift wir selbst um Henning Eichberg genutzt wurde – oder aber schlichtweg „volkstümlich“.
4 Einführend vgl. Benedikt Kaiser: „Querfrontpotential? Populismus bei Mouffe und Laclau“, in: Sezession 79 (August 2017), S. 26–30.
5 Zur Frage nach Sinn und Unsinn einer Links-Rechts-Kooperation oder, alternativ, einer ideellen Links-Rechts-Synthese vgl. Benedikt Kaiser: Querfront, Schnellroda 2017.
6 Vgl. Jean-Claude Michéa: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, Berlin 2014, S. 13–16.
7 Vgl. ebd., S. 18.
8 Vgl. Jean-Claude Michéa: Notre ennemi, le capital. Notes sur la fin des jours tranquilles, Paris 2017.
9 Vgl. Kaiser, Querfront, S. 86
10 Alain de Benoist: „Populismus“, in: Junge Freiheit 8/2000.
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Vgl. Alain de Benoist: Le Moment populiste. Droite–gauche, c’est fini!, Paris 2017, S. 98.
15 Vgl. Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Berlin 2016.
16 Ebd., S. 124.
17 „Bei der [sic!] Front National ist die Luft raus“. Uwe Sattler im Gespräch mit Frank Baasner, in: neues deutschland v. 12. Mai 2018.
18 Vgl. einführend Harald Neubert: Antonio Gramsci. Hegemonie, Zivilgesellschaft, Partei, Hamburg 2001.