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„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“

Von Dr. Angelika Willig

Wie vor 20 Jahren die Berliner Mauer fiel

Im Spätherbst des Jahres 1989 fährt ein roter Peugeot auf der Transitstrecke in Richtung Berlin. Mit eingeschaltetem Scheinwerfer kriecht der Wagen durch den Nebel, der von der Saale aufsteigt und mit jeder Minute dichter wird. Endlich kommt ein Parkplatz mit Intershop. Der Peugeot hält, und eine junge Fahrerin betritt den Laden. Die Verkäuferin übt sich in Gelassenheit. Eine Tugend, die man in der DDR lernen konnte. „Das ist hier oft so mit dem Nebel“, bemerkt sie.

Zwei Welten treffen aufeinander

Zu gleicher Zeit kommt ein Trabbi in typisch beige-grauer Färbung angefahren und hält in sicherem Abstand vom Intershop. Da dürfen sie nicht rein. West-Auto und Ost-Auto kühlen bei abgestelltem Motor von innen aus. Endlich gehen die Insassen bei einfallender Dämmerung aufeinander zu. Man kommt ins Gespräch und ist sich einig, daß es „Wahnsinn“ wäre, bei dieser schlechten Sicht zurück auf die Autobahn zu fahren. Gemeinsam zwängt man sich in den Trabbi und teilt die Kognakfläschchen aus dem Intershop sowie die Schokoplätzchen. Das Ehepaar aus Warnemünde hat aufregende Abenteuer zu berichten. Zum allerersten Mal sind sie heute im Westen gewesen. Bei Verwandten. Wie es bei denen in der Wohnung aussah: wie im Fernsehen! Dabei ist der Mann auch nur Angestellter. Dann waren sie bei Karstadt und haben diese bunten Steppjacken gekauft. Nur 40 Mark. So etwas bekommt man in der DDR für kein Geld auf der Welt. Jedenfalls für kein Ostgeld.
Die West-Frau fühlt sich plötzlich in der Zeitgeschichte angekommen. Natürlich hat sie in den letzten Monaten die Nachrichten gehört und weiß, daß am 9. November nach diversen Demonstrationen der Grenzübergang an der Bornholmer Straße geöffnet worden ist. Irgendwann mußte das ja passieren, denkt sie. Nach nur zwei Besuchen in der „Hauptstadt der DDR“ im Verlauf der 1980er Jahre ist ihr klar geworden, daß dieses System in etwa die Lebenserwartung eines Krebskranken mit Metastasen hat. Für die Betroffenen mag der 9. November ein historischer Großtag sein, für den neutralen Beobachter ist das Experiment Realsozialismus bereits seit Jahrzehnten gescheitert. Selbst die Westlinken wagten es nicht mehr, den „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ zu verteidigen. Jetzt hat es also auch die DDR-Führung selber begriffen, na und?

Der Westen, das ist  der Himmel auf Erden

Doch die euphorische Stimmung der Trabbi-Fahrer reißt sie jetzt mit. Das Dasein der Familie aus Mecklenburg hat sich innerhalb von Tagen total geändert. Gestern noch war Pilzesuchen im Wald das höchste der Gefühle, jetzt breitet sich die ganze Welt in schillerndem Glanz vor ihren Augen aus. Dazu braucht es nicht einmal einen Kurztrip nach Paris oder einen Bummel auf der Via Veneto – es genügt der Besuch der Fußgängerzone von Ingoldstadt. Der Westen, das ist in diesen Wochen der Himmel auf Erden.
Inzwischen ist es ganz dunkel geworden. Hier auf dem Parkplatz kann man nicht übernachten. Auf der anderen Seite der Straße lockt schemenhaft ein Gasthaus. Die DDR-Deutschen schließen das Überqueren der Transit-Strecke aus: „Das darf man doch nicht.“ Später lassen sie sich mit der Auskunft abspeisen, daß keine Zimmer zu vermieten sind. Auf Schritt und Tritt merkt man ihnen die ausgeprägte Untertanen-Mentalität an. Während die West-Frau energisch fordert: „Sie müssen uns reinlassen, wir können nicht die Nacht in der Kälte verbringen.“ Einträchtig schlafen Ost und West auf der Holzbank einem sonnigen klaren Morgen entgegen. Und die DDR-Brötchen sind tatsächlich besser als ihr West-Pendant.
Jeder hat sein persönliches Wende-Erlebnis. Zum 20. Jubiläum werden damit ganze Bücher und Ausstellungen gefüllt. Und meist kommen mit den ersten rührenden Begegnungen auch schon bedrohliche Gegensätze auf. Hinter der Sehnsucht lauert der Neid.

Kam die Wende  von innen oder von außen?

Es gibt zwei Deutungen für jene Ereignisse im Herbst 1989, die als „friedliche Revolution“ in die Geschichte eingingen. Die eine Deutung ist romantisch und national orientiert, die andere eher nüchtern und global. Die Idealisten betonen das Bestehen eines geheimen Widerstandes in der DDR, der von kritischen Kommunisten über liberale Bürgerrechtler bis hin zu engagierten Christen reichte. In Städten wie Dresden, Leipzig oder Berlin-Prenzlauer Berg hatte es seit Jahren Zirkel gegeben, die gegen die SED-Diktatur agierten. Bestätigt durch eine schlechte Versorgungslage und eine entsprechende Unzufriedenheit in der breiten Bevölkerung bereiteten die Dissidenten eine politische Alternative vor. Schließlich trotzten diese „Helden“ sogar der Drohung der Stasi und demonstrierten gegen den eindeutigen Befehl.
So etwa sehen die Vorgänge in den Augen der Idealisten aus. Sie glauben an eine „deutsche Revolution“ und ein seltenes Beispiel dafür, daß das deutsche Volk sich gegen die Tyrannei erhoben und seine Freiheit wieder erkämpft hat.
Für die Realisten kommt das alles nicht überraschend. Da sind die Vorgänge vom Herbst 1989 überhaupt nur eine Folge der sowjetischen Vorgänge. Genau ein Jahr zuvor, am 19. November 1988, ist die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR verboten worden. In „Sputnik“ hatte sich allzu deutlich das neue Programm von Glasnost und Perestrojka abgezeichnet. Die DDR-Führung ahnte, daß mit dem Kurs von Michail Gorbatschow auch die Funktionärskaste von Erich Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke ins Wanken geriet. In letzter Minute versuchte die DDR-Führung, sich vom sowjetischen „Brudervolk“ abzusetzen. Das konnte jedoch nicht gelingen, da die DDR von Anfang nur ein Vasallenstaat Rußlands gewesen war.
Viele Oppositionelle freuten sich damals über Gorbatschow, als ob es sich um einen bloßen Glücksfall gehandelt hätte. Dabei ist seine Wahl bereits ein Eingeständnis der Schwäche. Nach den alten Grundsätzen konnte es nicht weitergehen. Die wirtschaftliche Lage war so schlecht geworden, daß sich die politische Macht nicht mehr halten ließ. Das konnte keinem Marxisten verborgen bleiben.
Das erste Land, das den Ostblock sprengte, war Ungarn. Am 2. Mai 1989 öffnete sich die Grenze nach Westen. Nun war es auch DDR-Bürgern möglich, über einen angeblichen Urlaub die unerlaubte Ausreise anzutreten. Das begann im Sommer 1989. Im September waren es schon ganze Massen, die sich in der Botschaft der Bundesrepublik in Budapest sammelten.
Vor diesem Hintergrund erscheinen nun auch die anschließenden Protestdemonstrationen in Leipzig nicht mehr ganz so tollkühn. Die stählerne Klammer war aufgebrochen. Und leider nicht durch die Deutschen selbst.

Nach dem Pathos folgt  die Ernüchterung

Am Abend des 2. Oktober 1990 sah noch einmal alles glänzend aus. Vor dem Reichstag sind viele Deutsche versammelt, um die Wiedervereinigung zu feiern. Auf dem Balkon stehen Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner vornehmen Erscheinung und der strotzende Bundeskanzler Helmut Kohl. Es ertönt die Nationalhymne, dann zündet ein Feuerwerk über dem Tiergarten. Die Bilder von jubelnden Menschen ziehen am inneren Auge vorüber, der Satz des alten Willy Brandt tönt in den Ohren: „Es wächst zusammen, was zusammen gehört!“
Für den folgenden Tag, den 3. Oktober, ist das deutsche Volk zum Straßenfest unter den Linden geladen. Bei schönem Herbstwetter strömten viele Berliner und angereiste Gäste herbei. Doch schon hat sich das politisch-historische Ereignis in ein rein kommerzielles Spektakel verwandelt. Wie bei tausend „Kiezfesten“ beschränkt sich das Angebot aufs Kulinarische. Keine feierliche Musik ist zu hören, keine Vorführung zu sehen, nicht einmal ein Flugblatt über den feierlichen Anlaß liegt aus. Und kein Politiker läßt sich heute mehr blicken. Statt dessen prangt direkt vor der Neuen Wache eine riesige Pepsi-Cola-Flasche aus Plastik. Einzelne Besucher fragen sich bereits, ob dort die NVA nicht doch eine bessere Figur machte.

Die DDR-Opposition ist zum bloßen Mythos geworden

Irgend etwas ist zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 geschehen, was die Dinge in ein schiefes Licht rückte. Irgendwo muß die Revolution sang- und klanglos in eine Abwicklung übergegangen sein.
Von den Tagen des Berliner Arbeiteraufstands von 1953 bis zu den „Montagsdemonstrationen“ war der DDR-Widerstand praktisch unsichtbar geblieben. Wie zufrieden oder unzufrieden das „Volk der DDR“ in dieser Zeit tatsächlich gewesen ist, wird ewig Spekulation bleiben. Einzig diejenigen, die „drüben“ Verwandte hatten, konnten im persönlichen Gespräch einiges von der Stimmung einfangen. Doch das hat keine statistische Relevanz. Im Nachhinein dürfte klar sein, daß sich die latente Unzufriedenheit zum Ende hin lebhaft gesteigert hat – so sehr, daß auch die öffentliche Zensur brach. Doch dieses Rumoren hatte immer nur eine Richtung: Westen.
Die Opposition indes, die sich in der Stille seit Jahrzehnten formiert hatte, lehnte den Kapitalismus fast ebenso ab wie das eigene staatssozialistische System. Es waren vorzugsweise evangelische Christen und soziale Utopisten auf der Suche nach einem „dritten Weg“. Gerade dieses Milieu wurde von der Stasi mit Argusaugen beobachtet, wie in dem erfolgreichen Spielfilm „Das Leben der anderen“ zu sehen ist. Man muß allerdings auch Zweifel gegen diese Sichtweise erheben: Da vegetiert der Stasi-Offizier einsam in seiner Plattenbausiedlung dahin, während die von ihm observierten Schauspieler und Schriftsteller ein gefährliches, aber erfülltes Leben führen. Die Wahrheit ist aber, daß die Funktionäre ein vergleichsweise angenehmes Dasein hatten, während jede oppositionelle Haltung – auch schon die Teilnahme an der christlichen Konfirmation – in stagnierende und letztlich deprimierende Lebensläufe mündete.
Diese Opfer – wozu haben sie letztlich geführt? Zwar ging die DDR unter, aber mit ihr auch die utopischen intellektuellen Entwürfe. Der tatsächliche Verlauf der „friedlichen Revolution“ ähnelt wohl eher der unromantischen Liquidierung eines Pleiteunternehmens und der raschen Übernahme durch auswärtige Investoren. Was sich die Belegschaft dabei denkt, ist relativ zweitrangig. Am Ende zählt, wer im neuen System am besten überlebt. Und das sind mal wieder nicht die Helden, sondern die Händler.

Wie Kohl die Wiedervereinigung durchdrückte

Es ist auch nicht ohne Reiz, sich die Vorgänge einmal umgekehrt anzusehen, also von der Seite der DDR-Führung aus. Welche Möglichkeiten blieben dem Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Genossen Erich Honecker, als er erkennen mußte, daß der russische Bruder sich von ihm abgewandt hatte? Es bleibt ihm im Grunde nur der Rücktritt. Am 18. Oktober übernimmt Egon Krenz die Regierungsgeschäfte. In den vier Wochen dazwischen überschlagen sich die westlichen Medien in Begeisterung über 200.000 Demonstranten in Leipzig und Gründungsaufrufe von „Neuem Forum“, „Demokratie jetzt“ und „Demokratischer Aufbruch“. Für die DDR-Führung ist dieser Jubel des „Klassenfeindes“ eine besondere Provokation, und es wäre denkbar gewesen, dass die geschlagenen Honecker und Mielke ihren Abgang von einem Blutbad begleiten ließen. Aber nein: „Ich liebe euch doch alle“, hat Mielke am Ende beteuert, und auch Honecker schien gar nicht fassen zu können, weshalb seine „Lebensleistung“ keine Anerkennung in der Welt mehr fand.
Während „Neues Forum“ und „Demokratischer Aufbruch“ über neue politische und wirtschaftliche Programme debattierten und erste Parteistrukturen unabhängig von der SED bildeten, ging es letztlich um die Öffnung der Grenzen. Alles strebte jenem Augenblick zu, als am 9. November im DDR-Fernsehen die sofortige „Reisefreiheit“, sprich die Öffnung der Mauer, verkündet wurde. Ohne das im August 1961 entstandene grausig-kuriose Bauwerk nämlich hätte es die DDR schon längst nicht mehr gegeben. Vor dem Mauerbau hatten so viele Deutsche täglich die DDR verlassen, daß von diesem Staat nicht mehr viel übriggeblieben wäre. Jedenfalls nicht genug, um die Wirtschaft auch nur notdürftig funktionieren zu lassen. Der Mauerbau war von Anfang an die Existenzgrundlage des DDR-Staates, den man deshalb mit Fug und Recht als Gefängnis für Unschuldige bezeichnen kann. Öffnet ein Gefängnis jedoch seine Tore, dann kann man es auch gleich abreißen.
Konsequenterweise verkündet Bundeskanzler Kohl bereits Ende November sein „10-Punkte-Programm“ zur Wiedervereinigung. Noch gab es zwei deutsche Staaten – was sowohl den Russen wie den Amerikanern und sogar den europäischen Verbündeten zunächst nur recht sein konnte. Sie fürchteten das politische und wirtschaftliche Gewicht eines wiedervereinigten Deutschland – wahrscheinlich auch deshalb, weil sie den desolaten Zustand der DDR nicht richtig erkannten. Immerhin hatte die DDR in der Rangfolge der Ostblock-Staaten hinter der Sowjetunion an zweiter Stelle gestanden. Jetzt spukte in vielen Köpfen die Vorstellung von zwei deutschen Supermodellen, die zusammen geradezu „unbesiegbar“ sein würden.
Kohls Verdienst ist es gewesen, solche Bedenken in erstaunlich kurzer Zeit zu zerstreuen. Die entscheidende Tagung von NATO und Warschauer Pakt in Ottawa gibt schon drei Monate nach dem legendären 9. November den Weg zur „Herstellung der Einheit Deutschlands“ frei.

Der Anfang einer weltpolitischen Erschütterung

Auch auch hier darf man nicht bloß romantisch denken. Der Furcht vor einem allzu starken Deutschland steht andererseits die Hoffnung auf eine Wirtschaftslokomotive entgegen, die den Umbau des ehemaligen Ostblocks zu einem riesigen florierenden Markt deutlich beschleunigen und erleichtern könnte. Daran würden alle westlichen Länder mitverdienen. Die „blühenden Landschaften“ erwartete man sich nicht nur in Sachsen und Thüringen, sondern auch in Polen, Ungarn, Jugoslawien. Das wiedervereinigte Deutschland sollte hier führend, aber immer bescheiden tätig werden – zum Wohle aller, die an Geschäften interessiert waren. So ähnlich hat Kohl es seinen ausländischen Kollegen wohl auch dargelegt. Wie wir wissen, ist die Rechnung so nicht aufgegangen. Statt die anderen mitzuziehen, hat die Lokomotive Deutschland an Fahrt verloren.
Die Frage ist nun: Handelt es sich hier um eine vorübergehende Überbelastung, die sich früher oder später wieder ausgleichen wird – oder ist mit dem kommunistischen Modell auch sein überlegener Konkurrent unversehens ins Trudeln geraten? Werden eines Tages auch westliche Politiker mit dem Gestus des „Ich liebe euch doch alle“ vor einem moralischen und ökonomischen Trümmerhaufen stehen?

 
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