Schon die Bibel verdeutlicht es uns beispielhaft: Antagonismen ergänzen einander. Auch in der Anatomie ist das eine selbstverständliche Erkenntnis. Der Arm wird durch Beuger und Strecker bewegt. Man benötigt beides. Dies gilt häufig auch im Politischen. So gehören zur richtigen staatlichen Ordnung die universale und die nationale Komponente — im jeweils richtigen Maß und mit der richtigen weltanschaulichen Grundierung. Die schon im 19. Jahrhundert verschärft auftretenden und sich heute ganz massiv auswirkenden ideologischen Fehldispositionen erschweren freilich die klare Diagnose dieses Sachverhaltes. Weder ist der Nationalstaat etwas an sich Böses noch ist es das universale Imperium. Beide Gesellschaftsentwürfe haben ihre Berechtigung, was sich historisch gut belegen läßt. Noch ein zeitgenössischer französischer Staatsmann, General Charles de Gaulle, hatte die Absicht, das eine mit dem anderen zu kombinieren — als „Europa der Vaterländer“ ist diese Vorstellung in die politische Terminologie eingegangen.
Die völlig berechtigte Kritik an der Lage der Europäischen Union der Gegenwart führt etwa in jenen Kreisen mutiger junger Menschen, die sich völlig ungeachtet der dadurch hervorgerufenen Gefährdung ihrer beruflichen Zukunft gegen das herrschende korrupte und unfähige politische System stellen, häufig zu rechtem Rückgriff auf lokale Identitäten. Zugleich faßt man in den politischen Diskussionen dieser Zirkel das Universelle häufig als „links“ auf und argumentiert diese These mit den auf tiefem Niveau nivellierenden und kostbarstes kulturelles Erbe zerstörenden Handlungsweisen der etablierten Politik. Die Analyse der gesellschaftlichen Fehlentwicklungen im Europa unserer Generationen ist dabei ganz richtig, die Analyse der Ursachen dieser Fehlentwicklungen aber ist irrtumsanfällig. Eine Belegstelle für solchen Irrtum ist die Aussage von den „nivellierenden Universalismen“ in der vorangegangenen Ausgabe dieser Zeitschrift: „Gegen nivellierende Universalismen, ob sie nun christlich, humanitär, kapitalistisch, marxistisch oder gar faschistisch begründet werden, helfen nur sinnvolle Barrieren.“ Nicht der hier formulierte Wunsch nach „sinnvollen Barrieren“ ist zu beanstanden, diese wären heute überaus notwendig, und hier ist dem Autor jener Zeilen entschieden zuzustimmen. Die Gleichsetzung diverser, freilich weltanschaulich völlig entgegengesetzter „Universalismen“ ist falsch. „Universalismus“ ist nicht gleich Universalismus. Und überdies ist zu berücksichtigen, daß die Irrwege der Gegenwart vielleicht von richtigen Ausgangspunkten her eingeschlagen worden sein könnten. Die Europäische Union ist dafür wahrscheinlich ein gutes Beispiel.
Die Idee eines vereinten Nachkriegseuropas, vom exzentrischen österreichischen Aristokraten Coudenhove-Kalergi in den 1920er Jahren ersonnen und nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich von damals führenden christlichen Politikern verwirklicht, hatte zunächst ja viel Charme. Seitdem das Projekt Europa von der ab den 1970er Jahren diesen Kontinent dominierenden Linken gekapert worden ist und sich dort Mißwirtschaft und weltanschaulicher Wahnsinn ausbreiten konnten, hat der Charme natürlich sehr abgenommen. Das sehr berechtigte Mißtrauen, welches die EU zur Zeit in Österreich erfährt, ist die Konsequenz genau daraus, ist Folge krasser Korruption und wirtschafts-, außen- und sozialpolitischer sowie weltanschaulicher Irrwege, die gleichermaßen von den Bonzen in Brüssel sowie von den ihnen hörigen heimischen Partei-Ochlokraten zu verantworten sind. All das sollte aber nicht als Folge eines „Universalismus“ an sich gesehen werden. Wenn ich etwa eine nach Vorgaben internationaler Konzerninteressen und linksextremer Gesellschaftsveränderer gestaltete Weltordnung ablehne, heißt das noch lange nicht, daß ich damit „Europa“ zurückweisen muß. Europa ist ebenso Teil meiner Identität wie der Umstand, in Wien geboren zu sein und hier zu leben. Und ich bin gerne Wiener, auch wenn ich das sozialistische Regime über diese Stadt ablehne. Die Europäische Union hätte nach wie vor viel für sich. Jene von großem politischem Weitblick zeugende Erkenntnis etwa, von Coudenhove früh schon formuliert, daß ein in Bruderkriegen verheertes und zersplittertes Europa zwangsläufig zum mehr oder weniger hilflosen Vasallen Rußlands, aber auch der USA werden muß, verwirklichte sich ja drastisch während des Zweiten Weltkrieges. „Rußland will Europa erobern, Amerika will es kaufen“, schrieb Coudenhove 1923. Daß die USA mittlerweile imstande sind, das politische Establishment Europas in großem Stil ans Halsband zu nehmen, widerspricht nicht den Einsichten Coudenhoves, obwohl dieser Umstand einer durchaus nicht harmlosen und schon längst nicht mehr kostengünstigen Abhängigkeit von den USA zugleich selbstverständlich der Forderung nach Wiederaufrichtung starker „nationaler Barrieren“ recht gibt. Der Austritt aus dieser Europäischen Union ist inzwischen zweifellos ein nachvollziehbarer Wunsch und eine der Optionen für eine wirkungsvolle Gegenwehr. In den Zeiten sowjetischer Hegemonie über den östlichen Teil des Kontinents war allerdings, das soll hier auch gesagt sein, eine der wirksamsten Gegenkräfte zu bolschewistischer Expansion und somit zum „Ungeist der Destruktion“ sehr wohl das sich vereinende westliche Europa.
Die Betrachtung universaler wie auch nationaler staatlicher Ordnung beschäftigt sich mit Fragen der Struktur. Wenn aber die gegenwärtige Krise Europas erforscht wird, sollte man bevorzugt den weltanschaulichen Hintergrund analysieren, denn die letzten Ursachen der Krise sind weltanschaulicher Art und nicht struktureller. Der zweifellos in heutiger Politik wirkende „Ungeist der Destruktion“ hat seine „ideologischen Wurzeln“ eben nicht in „diversen Universalismen“, hier wird die politische Gleichung einfach falsch angesetzt. Nicht diverse Universalismen sind für die Selbstzerstörung Europas verantwortlich, sondern eben die häretischen Weltanschauungen von Liberalismus und Sozialismus, die heute global dominieren. Gewiß möchten ihre Vertreter die Irrlehren auch dauerhaft universal einrichten, und wo ein nationales Gegensteuern möglich ist, sollte dieses gefördert sein. Ein Widerstand gegen die aktuelle Europäische Union sollte aber idealerweise auf christlich-konservativen Einsichten basieren und nicht auf den Irrlehren der Aufklärung. Ein national begrenzter Sozialismus beispielsweise, um es aus anderer Perspektive zu formulieren, ist deshalb nicht richtiger als einer, der sich universal ausbreitet, lediglich der Schaden wäre reduzierter. Der historische Vergleich verdeutlicht es nochmals: Der deutsche Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa ermöglicht den Abwehrkampf gegen den Irrsinn und die Barbarei der französischen Revolution; in dieser Zeit der Romantik ist sein weltanschaulicher Hintergrund ein konservativer; der deutsche Nationalismus ist damals völlig berechtigt und seine Entfaltung bedeutet die Selbstbehauptung. Der deutsche Nationalismus des Jahres 1848 hingegen ist Ausfluß des Liberalismus; solcherart wird er Ausdruck politischen Wahnsinns, welcher die durch Jahrhunderte gewachsene und bewährte habsburgische imperiale Ordnung Mitteleuropas zu zerschlagen beabsichtigt. Der deutsche, der italienische und der ungarische Nationalismus sind damals die Faktoren, die den „Ungeist der Destruktion“ fördern, der kroatische Nationalismus hingegen stützt 1848 die universal angelegte österreichische Monarchie, ist somit eine Kraft zur Erhaltung von Werten und somit eine Komponente der Erhaltung einer humanen Gestaltung der Gesellschaft. Der universale Anspruch des alten Österreich war berechtigt, weil die habsburgische Herrschaft eine tendenziell konservative und katholische und somit die Lebensgrundlagen der Menschen bewahrende gewesen ist. Der habsburgische Universalismus respektierte und förderte bezeichnenderweise auch die nationalen Identitäten der von ihm segensreich regierten Völker. Der universale Anspruch der Europäischen Union ist zu verwerfen, da die Herrschaft ihrer Funktionäre eine tendenziell materialistische und atheistische ist und somit in die Selbstzerstörung der menschlichen Gesellschaft mündet; einer der Aspekte dieser Selbstzerstörung ist das Einebnen lokaler Eigenheiten und die Zersetzung nationaler Traditionen, was gleichbedeutend mit der Vernichtung des kulturellen Reichtums unseres Kontinentes ist.