Mit dem Mythos fing der Mensch an, sich über sich selbst und die Welt Gedanken zu machen. Dabei dachte er nicht analytisch, er dachte in inneren Bildern, metaphorisch, plastisch, allegorisch. Am Anfang der Menschheitsgeschichte stand bei den großen Erzählungen neben Homer, so könnte man sarkastisch anfügen, Walt Disney. Die Welt als Comic. Vielleicht sind wir heute bei der uns umgebenden Bilderflut wieder auf dem Weg zurück zu den Anfängen des menschlichen Denkens. Die Zeichen der Entschriftlichung unserer Gesellschaft sind eindeutig, in oralen Gesellschaften haben Mythen wieder ihre Chance.
Jedenfalls stand der frühe Mensch den Wirkkräften der Wirklichkeit hilflos und ohnmächtig gegenüber. Er war als bipedes Fluchttier im „Absolutismus der Wirklichkeit“, wie das Hans Blumenberg formulierte, gefangen. Er war gezwungen, sich von dem Unvertrauten ein Bild zu machen, wollte er nicht diesem Absolutismus auf immer ausgeliefert sein. Er mußte sich von dem Unzugänglichen und Unvertrauten ein Bild machen; diese Paradoxie löst der Mythos auf, er hat ganz wesentlich eine Entparadoxierungsfunktion. Mit dem Mythos holt der Mensch das Unvertraute ins Vertraute, mit ihm wird das Reden über das Unvertraute im Vertrauten möglich. Man benutzt dabei einen Trick, der heute bei jeder Form von Systembildung angewandt wird und als moderne Technik gilt. George Spencer Braun nannte diesen Trick „re-entry“. Die Unterscheidung vertraut/unvertraut wird auf der vertrauten Seite der Unterscheidung wieder eingeführt und wiederholt, die Grenzziehung wird intern auf der einen Seite der Unterscheidung als Grenzziehung dupliziert. So kann man im Vertrauten über das Unvertraute reden. Unzugängliches wird erklärbar und kann durch entsprechende rituelle Handlungen und Tabus zumindest in der Sicht der Akteure beeinflußt werden: Die Götter können besänftigt werden und damit Einfluß auf die Naturgewalten ausgeübt werden. Der Regen kommt zur rechten Zeit und rettet die Ernte, und die Jagd wird erfolgreich, und die Frauen sind fruchtbar. Auch Hochreligionen arbeiten mit dieser Technik des „re-entry“. Durch die Offenbarung bekommt man Einblick in die Transzendenz, mit Gott kann man im Gebet sprechen, wir machen uns ein innerweltliches, immanentes Bild von der Transzendenz, die doch in Wirklichkeit jenseits unseres Vorstellungsvermögens steht.
Ja und dann kommt die Moderne in Form der Aufklärung, die alle mythologischen und religiösen Vorstellungen zerschlagen will. Vernunft versus Mythos. Veritas non auctoritas facit legem (Autorität, nicht Wahrheit schafft das Recht). Man will die Gesellschaft more geometrico erklären, muß dabei aber immer wieder auf mythologische Vorstellungen zurückgreifen. Da ist beispielsweise die Vorstellung vom „Naturzustand“ aus dem heraus die Prinzipien einer aufgeklärten Zivilgesellschaft abgeleitet werden sollen. Vorstellungen vom „bösen Wilden“ (Hobbes) oder vom „guten Wilden“ (Rousseau) stehen am Anfang der Staats- und Gesellschaftskonstruktionen. Doch gibt es einen Menschen im Naturzustand? Ist der Mensch nicht von Anfang an ein soziales und durch Kultur geprägtes Wesen? David Hume war wohl der einzige in der damaligen Zeit, der den Unsinn vom Naturzustand durchschaut hat. Selbst die Bibel war da weiter. Gott hat Adam geschaffen, der Mensch im status naturalis. Dann stellte er Adam Eva zur Seite, die Gesellschaft war geboren in Form der Gemeinschaft von Mann und Frau. Jetzt nahm die Gesellschaft ihren unheilvollen Lauf. Eva verführte Adam. Der Startpunkt der Gesellschaft war die Vertreibung aus dem Paradies. Der Mensch in dieser Welt ist so von Anfang an ein Sozialwesen. Genauso abstrus ist die Vorstellung der Aufklärer vom „Gesellschaftsvertrag“. Als ob irgendwo in der Welt eine Gesellschaft über einen Vertrag aller inkludierten Individuen geschlossen worden wäre. Das ist ein Ursprungsmythos ins Soziale gewendet. Man suchte einen archimedischen Punkt für den Start einer vernunftgeprägten Geschichte. Mit realer Geschichtsschreibung hat dies nichts zu tun. Kant schließlich, so Günter Rohrmoser, war der Vollender und gleichzeitig der Überwinder der Aufklärung. Er erkannte, daß der Vernunftgebrauch keinesfalls Gott, Glaube, Religion ersetzen kann; weil die Vernunft sich nicht selbst erzeugen kann, es muß einen Grund geben, der der zu gebrauchenden Vernunft vorausgeht. Ohne die regulative Idee Gottes ist das letztlich nicht vorstellbar. So genial Kant in der Erkenntnistheorie und praktischen Philosophie war, in der Geschichtsphilosophie hat er sich vom aufklärerischen Impetus nicht befreien können, er replizierte den Fortschrittsmythos der Aufklärung. Er glaubte an eine providentielle Vernunft in der Geschichte. In Anlehnung an Adam Smith glaubte er an eine „invisible hand“, eine unsichtbare Hand, die trotz der Boshaftigkeit der Menschen diese geradezu in den Status der Legalität treiben würde, weil selbst, wenn die Welt voll Teufel wäre, diese, wenn sie bei Verstand wären, den Status der Legalität wegen eigener Vorteile anstreben würden. Es grüßt die berühmte „Bienenfabel“ von Bernard Mandeville: „private vices“ mutieren zu „public benefits“. Wie der Titel schon sagt, das ist eine Fabel. Und was ist eine unsichtbare Hand, die in das Weltgeschehen eingreift: nichts anderes als ein mythologisches Bild, vergleichbar mit der mythologischen Vorstellung von der Einflußnahme der Götter und Halbgötter auf die diesseitige Welt.
Also ist die Aufklärungsliteratur nicht mythenfrei, wie überhaupt die Moderne ihre eigenen Mythen produziert. Claude Levi-Strauss kommt zu dem Schluß, daß das moderne wissenschaftliche Denken dem gleichen Muster folgt wie das „wilde Denken“, das „pensée sauvage“. Die Wissenschaft übernimmt in der Moderne die Funktion des Mythos. Sie dient wie der Mythos der Unsicherheitsabsorption; Unkontrollierbares soll in für den Menschen in Kontrollierbares transformiert werden. Sie ist Teil eines großen Machbarkeitsmythos. Wenn genug geforscht wird, kann der Mensch die Probleme der Gegenwart zur Bewältigung der Zukunft lösen. Allerdings müssen Unterschiede konstatiert werden: Die alten Mythen waren weitgehend rückwärtsgewandt, sie dienten der Bewältigung von Mächten, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart intervenierten – es waren naturhafte Gefahren von alten, ewig wirkenden Mächten. Die neuen Mythen dagegen sind vorwärts- und zukunfts-zugewandt, sie dienen der Bewältigung des Unvertrauten, das in der Zukunft liegt. Gefahren werden dabei zu Risiken. Nicht mehr die archaischen Naturkräfte bedrohen heute den Menschen, er bedroht sich selbst. Es entsteht eine neue Risikosemantik, der Mensch schreibt die Bedrohung seiner Existenz sich selber zu; es sind die Folgewirkungen seines Entscheidens und Handelns, die den Menschen zukünftig bedrohen. Selbst Naturkatastrophen schreibt der Mensch sich heute selbst zu, schließlich ist er es, der die Klimaerwärmung initiiert hat. Selbst Tsunamis und Vulkanausbrüche werden nicht als Gefahren, sondern als Risiken (eben mit Selbstzuschreibung) wahrgenommen, weil man nicht genug in Frühwarnsysteme und Risikomanagement investiert hat. Das Unvertraute liegt heute in der Zukunft und nicht mehr in der Vergangenheit. Wissenschaft macht Kontingenzbewältigung möglich, die Komplexität möglicher Entwicklungen wird auf gewünschte Szenarien reduziert. Insgesamt ist dies eine Verlängerung mythologischen Denkens, das sich dann auch in mythologischen Beschwörungsformeln Ausdruck verleiht. Eine Beschwörungsformel lautet: „Nachhaltigkeit“. Man will nur das bewirken, was man bewirken will (möglichst ohne Nebenwirkungen) und das möglichst „zukunftsfest“. Kollateralschäden des augenblicklichen Entscheidens des Menschen erscheinen als die neuen Mächte der Finsternis und müssen durch Verwissenschaftlichung vermieden werden. Eine andere Beschwörungsformel lautet: „Prävention“. Prävention ist gleichsam ein Fenster in die Zukunft. Ich kann schon heute Probleme lösen, die ich erst in der Zukunft haben werde. Prävention, so wollen es die wissenschaftsgläubigen Sozialplaner mit Festanstellung uns weismachen, ist Unsicherheitsabsorption mit Garantiesiegel. Es lebe der Mythos von der Beherrschbarkeit von Welt.
Erst recht ist die Politik ohne mythologische Basierung undenkbar. Diese Einsicht verdanken wir George Sorel, diesem französischen Denker, der nie die Aufmerksamkeit bekam, die er eigentlich verdient hätte. Politik ist nach Sorel nicht mythenfrei, weil es in der Politik immer um „Wollungen“ und nicht um Wahrheit geht. Wollungen sind mit Kampf verbunden. Politik ist ein Feld des immerwährenden Kampfes zwischen Ideologien, Interessen und Einflußsphären. Dazu müssen Massen bewegt und motiviert werden. Und das geht nicht ohne Mythos. Denn ein Mythos ist die „phantasierte Vorwegnahme des Kommenden“, er hält wie ein Schwungrad die Massen in Bewegung, er versorgt die Massen mit Bildern, die es lohnenswert erscheinen lassen, sich für die mythologisch unterlegte soziale Bewegung bis zur Selbstaufgabe zu engagieren. Mythische Bilder erzeugen Begeisterung für eine gerechte und erstrebenswerte Sache (was Mißbrauch nicht ausschließt!), egoistische Motive treten in den Hintergrund, es stellt sich „Erhabenheit“ ein, der Mensch wird erst jetzt zu einem moralischen Wesen. Sorel exemplifiziert dies anhand der syndikalistischen Bewegung innerhalb der Arbeiterbewegung. Er stellt sich damit gegen den staatsbejahenden Reformsozialismus, den er als Imagination einer Funktionärskaste identifiziert. Die mythologisch unterlegte Erhabenheit findet er in vielen sozialen Bewegungen: Er findet sie in der frühhellenistischen Geschichte, er findet sie bei den katholischen Mönchen, er findet sie bei den napoleonischen Armeen und er findet sie in den deutschen Befreiungskriegen, wo die mit Quiriten-Tugenden ausgestatteten Deutschen den französischen „Hasenfüßen“ eine Lektion nach der anderen erteilten. Entscheidend für Sorel ist, daß die mythologisch unterlegten sozialen Bewegungen die Geschichte verflüssigen. Alte, petrifizierte Verhältnisse werden umgestoßen. Denken wir nur an die deutsche Wiedervereinigung. Plötzlich hatten die Massen des Volkes die Entwicklung in der Hand, die Berufspolitiker konnten nur reagieren. Mythologisch wurden die Großdemonstrationen in Plauen und Leipzig von dem alten Traum von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ angetrieben, und damit war das Volk und nicht die behäbige Politikerkaste, die alles am liebsten verhindert hätte, geschichtsbildend. Mythen bilden so soziale Bewegungen aus, die verhindern, daß Politik alleine zum Geschäft einer polit-bürokratischen Klasse wird. Ein Mythos mobilisiert den Volkswillen und verflüssigt Politikformen. Das routinisierte Alltagsgeschäft der Politik wird aufgebrochen und neue Horizonte entstehen. Im Sorelschen Sinne ist der Mythos ein Evolutionsbeschleuniger. Eine mythenfreie Politik wäre das Ende der Geschichte, wir wären dann im Orwellschen Superstaat angekommen, der nur noch die Verordnung kennt. Ein Schelm, wer da an Brüssel denkt.
Wir Deutschen sind im übrigen besonders von Mythen umstellt. Als verspätete Nation (Plessner) ist es uns erst sehr spät gelungen, einen rational organisierten Nationalstaat auf die Beine zu stellen. Wie Heine schrieb, lugt in Deutschland das Mittelalter immer wieder in die Gegenwart, die Romantik war vorherrschend, nicht der Rationalismus. Der deutsche Zentralmythos ist das „Nibelungenlied“. Hier wird ein Fest der germanischen Tugenden gefeiert, es geht um Treue, Opferbereitschaft, Ehre, Ehrlichkeit, also um Interaktionsmoral. Diese Interaktionsmoral aus den Wäldern Germaniens beherrscht bis heute das deutsche Politikverständnis. Politik ist im Gegensatz zu anderen Völkern kein Geschäft, keine Seinssphäre eigenen Rechts, wo Kompromisse ausgehandelt und Interessen durchgesetzt werden. Politik ist in Deutschland von Anfang an moralisch, es geht nicht um das gerade noch Machbare, es geht um das Gute und Richtige. Politik ist im Übermaß moralisch aufgeladen. Cora Stephan spricht von einer „Betroffenheitssemantik“ im deutschen Politikverständnis, womit das Wesen des Politischen eigentlich verfehlt wird. Der Deutsche ist eigentlich unpolitisch oder besser apolitisch, er politisiert mit unpolitischen Mitteln nicht erkennend, daß makropolitische Prozesse, wo es um Interessenformulierung und Abwägung von sozialen Großverbänden geht, schlecht mit der familiären Hausmoral und dem interaktionsnahen Sippenethos zu gestalten sind. So ist es nicht verwunderlich, daß bis heute in der Politik bevorzugt mit der Moralkeule gearbeitet wird. Da paßt besonders der Antifaschismus als bundesrepublikanische Staatsraison gut ins Repertoire der Politikinszenierung. Allerdings muß man dabei den ideologischen Wandel des Antifaschismus im Auge haben. In der DDR-Lesart war der Faschismus Teil des Imperialismus und dieser war ein historisch notwendiges Übergangsstadium zum Sozialismus. Der Faschismus war gleichsam die letzte Front, die der Kapitalismus gegen den Sozialismus aufbauen konnte, er war mehr oder weniger eine notwendige Geschichtsepoche im Übergang zum Sozialismus (die sog. Dimitroff-These). Mit der Wiedervereinigung wurde aber diese geschichts-deterministische These des historischen Materialismus zu Grabe getragen und machte einer „bürgerlichen“ Vorstellung von Faschismus Platz. Dabei geht es einmal wieder – das Nibelungenlied läßt grüßen – um Moral. Es geht um Attitüden, um Einstellungen, um faschismus-affine Charaktereigenschaften, die nur mit psychologischen Mitteln wie Bloßstellen, Denunziation und Rufmord-Kampagnen bekämpft werden können. Adornos Studien zum „autoritären Charakter“, den er den Deutschen zurechnete, standen dabei Pate. Der Deutsche hat sich einer andauernden „psychologischen Reeducation“ zu unterziehen. Das vom Soziologen und Systemtheoretiker Talcott Parsons empfohlene Gegenmodell des Aufbaus demokratischer Institutionen, die dann die demokratische Umerziehung von allein leisten, wurde nach dem Krieg von den Befürwortern der psychologischen Umerziehung verworfen. So befinden wir uns in der paradoxen Situation, daß die selbsternannten Antifaschisten, die alles bekämpfen, was ansatzweise deutsch ist, politisch im Grunde „urdeutsch“ argumentieren; der Germanen-Mythos lebt in ihnen weiter. Die Politik in Deutschland hat sich in den letzten Jahren zunehmend antifaschistisch ausgerichtet. Es gilt, diese politische Einseitigkeit zu beenden, sonst ist die Demokratie in Gefahr. Nach zwei Diktaturen, zwölf Jahren Faschismus und über vierzig Jahren Kommunismus brauchen wir einen „antitotalitären Konsens“, der auch die linke Seite des politischen Spektrums in den Blick nimmt. Wir brauchen einen Rückgriff auf den „Freiheitsmythos“, einen politisch symmetrischen Freiheitsbegriff, der die politischen Ränder rechts und links gleichermaßen verwirft. Vorbilder für einen solchen Freiheitsmythos gibt es in der deutschen Geschichte genug: Denken wir an die Varus-Schlacht, das Hambacher Fest, die Befreiungskriege, die Paulskirche, die Bauernkriege, Luthers Kampf gegen Rom und schließlich der Glücksfall der friedlichen Wiedervereinigung.