Das Jahr 2014 war politisch gesehen ein wichtiges. Stellt man angesichts seines nahen Endes die Frage, welche Ereignisse es zu einem besonderen, länger nachwirkenden Jahr machen, mögen zunächst die großen außenpolitischen Brennpunkte in den Blick rücken: der sich auf verhängnisvolle kriegerische Weise zugespitzte Ukraine-Krim-Konflikt und der Terror des Islamischen Staates im Irak und in Syrien. Auch Weichenstellungen, wie die sich abzeichnenden Umwälzungen der parteipolitischen Landschaften Großbritanniens und Frankreichs, können einem in den Sinn kommen, ebenso das Aufblühen der Alternative für Deutschland (AfD) und nicht zuletzt das knapp gescheiterte, psychologisch dennoch immens wichtige schottische Unabhängigkeitsreferendum vom 18. September sowie die wohl noch folgenreichere inoffizielle Volksabstimmung der Katalanen vom 9. November (mit einer überwältigenden Zustimmung von über 80 Prozent für einen eigenen Nationalstaat).
Aus deutscher Sicht gilt es in diese große Kette ein „kleines, aber feines“ Glied einzufügen: 2014 war auch und gerade ein Jahr der Rumäniendeutschen. Darauf soll im folgenden eingegangen werden, zunächst chronologisch und dann mit einem Schwerpunkt auf den sich unter quasi rumäniendeutschen Vorzeichen vollziehenden Umbruch in der Führungsstruktur, der Programmatik und dem medialen Erscheinungsbild des Bundes der Vertriebenen (BdV) in der Bundesrepublik Deutschland.
Beginnen wir das Thema mit dem 8. Oktober. An diesem Tag gab das Osloer Nobelkomitee bekannt, den diesjährigen Nobelpreis für Chemie zwei US-Amerikanern und einem Deutschen zuzusprechen. Letzterer heißt Stefan Hell, ist bekennender Donauschwabe und erhält die bedeutendste wissenschaftliche Auszeichnung für seine Entwicklung höchstauflösender Fluoreszenzmikroskope (die offizielle Verleihung erfolgt am 10. Dezember). Geboren wurde Hell am 23. Dezember 1962 in Arad im Norden des rumänischen Banat. Dort liegt die Heimat einer seinerzeit noch ungefähr 100.000 Personen umfassenden auslandsdeutschen Volksgruppe, für die das Deutsche selbstverständliche Alltags-, Schul- und Kirchensprache war.
Der Preisträger besuchte nach Angaben der Donauschwäbischen Kulturstiftung (www.kulturstiftung.donauschwaben.net) zunächst die deutsche Schule in Sanktanna, ehe er für ein halbes Jahr am Nikolaus-Lenau-Lyzeum in Temeschwar sehr gut ausgebildet wurde. Es war das gleiche Gymnasium, an dem auch eine andere deutsche Nobelpreisträgerin mit donauschwäbischen Wurzeln wichtige Prägungen erhielt: die Schriftstellerin Herta Müller, der 2009 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 8. Oktober 2014 betonte Stefan Hell, man könne ihn ohne den Hintergrund der Aussiedlung, der Tatsache, dass er Banater Schwabe sei, „wahrscheinlich gar nicht verstehen“.
Dieser Prestigeerfolg für die über 200.000 in die Bundesrepublik Deutschland ausgesiedelten Rumäniendeutschen samt Anerkennung ihres traditionell erstklassigen Bildungssystems wurde jedoch in erster Linie in den eigenen Reihen empfunden. Schließlich fand die auslandsdeutsche Herkunft Hells in den Medien allenfalls am Rande Erwähnung und drang nicht ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit.
Anders verhielt es sich beim jüngsten rumäniendeutschen „Paukenschlag“ des Jahres 2014: dem Erfolg des Siebenbürger Sachsen Klaus Johannis in der Stichwahl fürs rumänische Präsidentenamt am 16. November. Der auslandsdeutsche Kontext des sensationellen Siegers (54,5 %) fand durchaus ihren Niederschlag in der deutschen Presseberichterstattung, wenngleich in der Regel ohne die eigentlich angemessene inhaltliche Vertiefung. Vor allem wurde deutlich gemacht, daß „den Deutschen in Rumänien der Ruf“ vorauseile, „besonders arbeitsam, ehrlich und kompetent zu sein“ (Karl-Peter Schwarz: „Bürgerpräsident“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. November 2014.). Boris Kálnoky setzte in der Welt vom 17. November noch eins drauf und schrieb: „Auch wenn man in Griechenland öfter mal gegen Merkels ‚Spardiktate‘ demonstriert, in Rumänien hätten die Bürger nichts dagegen, etwas deutscher regiert zu werden.“
Als Kandidat der Christlich-Liberalen Allianz verkörpert Johannis die Hoffnung der Mehrheit seiner Landsleute, die in Politik und Gesellschaft allgegenwärtige Vetternwirtschaft und den tiefsitzenden Schlendrian überwinden zu können. Sein sozialdemokratischer Mitbewerber Victor Ponta erscheint demgegenüber als typischer korrupter Vertreter des postkommunistischen Polit-Establishments.
Dem 55jährigen studierten Physiklehrer Johannis war es als dreimal wiedergewählter Bürgermeister von Hermannstadt (Sibiu) gelungen, das Zentrum der Siebenbürger Sachsen zu einem Modell für wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung zu machen. Mit einer nachweislich guten Verwaltungsarbeit und seinen im Wahlkampf präsenten „deutschen Tugenden“, wie Fleiß, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Pflichtbewußtsein, sorgte er in ganz Rumänien schon seit Jahren für positive Schlagzeilen. Die Arbeitslosigkeit im 160.000 wohner zählenden Hermannstadt (die deutsche Minderheit umfasst dort heute nur noch 1,6 Prozent) ist niedrig, die Kanalisation wurde gründlich saniert, Wasserleitungen instandgesetzt und die sehenswerte Altstadt umfassend restauriert. Letzteres führte, auch dank des Ehrentitels „Europäische Kulturhauptstadt 2007“, zu einem anhaltenden Tourismusboom. Über hundert Firmen aus deutschsprachigen Ländern haben sich wegen der im überregionalen Vergleich hervorragenden Standortbedingungen sowie der fortwirkenden jahrhundertelangen mitteleuropäischen Prägungen Siebenbürgens in Hermannstadt niedergelassen.
Die Belohnung für all diese Errungenschaften, für die sich die von Johannis geführte, vom Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) gestellte Stadtverwaltung verantwortlich zeichnet, gab es an den Wahlurnen. Klaus Johannis siegte, weil die Wahlbeteiligung mit 62,04 Prozent für rumänische Verhältnisse außergewöhnlich hoch ausfiel, weil ihm insbesondere zahlreiche jüngere Menschen, ein Großteil der Bevölkerung „innerhalb“ des Karpatenbogen sowie sehr viele im Ausland lebende Staatsbürger ihre Stimme gaben und weil seine deutsche Herkunft in Rumänien gute Assoziationen hervorruft. Nicht wenige erinnern sich der engen historischen Beziehungen zwischen Rumänien und Deutschland. So entstammte das in der Zeit der Unabhängigkeit zwischen 1881 und 1947 regierende Königshaus der deutschen Kaiserdynastie derer von Hohenzollern-Sigmaringen.
Der in Rumänien geborene CSU-Bundestagsabgeordnete Bernd Fabritius kommentierte den völlig unerwarteten Erfolg mit den Worten: „Wir Siebenbürger Sachsen können mit Recht stolz sein, daß sich unser Landsmann Klaus Johannis mit den uns auszeichnenden Tugenden Zuverlässigkeit, Nicht-Korrumpierbarkeit, Leistungsbereitschaft und Zielstrebigkeit durchgesetzt hat“ (www.siebenbuerger.de, 19. November 2014). Und er prophezeite: „Die deutschen Tugenden, für die Klaus Johannis steht, werden Rumänien verändern.“ (Karsten Kammholz: „Deutsche Tugenden werden Rumänien verändern“, www.welt.de, 17. November 2014) Hinsichtlich seiner eigenen Verbindungen zum neuen Präsidenten sagte er der „Welt“: „Wir kennen uns sehr, sehr gut, und das seit Jahrzehnten. Wir waren zusammen auf derselben Schule, dem Brukenthal-Gymnasium in Hermannstadt. Wir Brukenthaler sind eine eingeschworene Gemeinschaft.“
Zweifellos werden sich die landsmannschaftlichen Sonderbeziehungen zwischen dem eher hölzern wirkenden Johannis und dem rhetorisch erfrischenden Fabritius in der Gestaltung der rumänisch-deutschen Beziehungen niederschlagen. Insbesondere die guten Verbindungen beider Politiker nach Bayern und ihre – keineswegs ganz unproblematische – Anbindung an die CSU sind offenkundig. Der 1965 in Agnetheln geborene promovierte Jurist und Politologe Fabritius sitzt für diese Partei seit 2013 im Bundestag, gehört dem Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union, dem Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe an und ist stellvertretendes Mitglied im Innen- sowie im Rechtsausschuß. Darüber hinaus vertritt er die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Auf jeden Fall bildet das Zusammenwirken des siebenbürgischen Gespanns Johannis/Fabritius einen öffentlichkeitswirksamen Baustein für die Neuformierung des Bundes der Vertriebenen (BdV), zu dessen Präsident Bernd Fabritius am 7. November gewählt wurde. Der Wechsel von der bisherigen, in Westpreußen zur Welt gekommenen und von dort geflüchteten Präsidentin Erika Steinbach (71) zu dem im Alter von 19 Jahren ausgesiedelten Rumäniendeutschen Fabritius ist eine Zäsur und bietet als solche Anlaß zu mancherlei Spekulationen. In den Mainstream-Medien haben diese üblicherweise einen positiven Tenor, in kritischen konservativen Organen wie der Jungen Freiheit mischt sich Skepsis hinein. So deutete der altgediente, 1942 im sudetendeutschen Karlsbad gebürtige Journalist Gernot Facius in einem Kommentar vom 14. November 2014 die Gefahr einer „Kursänderung“ an, die „der Bundesregierung und auch den Unionsparteien gelegen“ käme. Diese offenbare sich in ersten Äußerungen des neuen BdV-Lenkers, auf die Nachbarstaaten im Osten und Südosten, insbesondere auf Polen, zugehen zu wollen. Dieses beinhalte, wie von Fabritius immer wieder hervorgehoben, die verstärkte Vertretung der minderheitenpolitischen Interessen heimatverbliebener deutscher Volksgruppen (schwerpunktmäßig in der Sprach- und Bildungspolitik).
JF-Kommentator Facius mahnt: „Bei der Erlebnisgeneration leuchten freilich Warnlampen auf. Das Fabritius-Programm impliziert nämlich, daß die Wahrung von Eigentums-Rechtsansprüchen der in Deutschland lebenden Vertriebenen weiter in den Hintergrund gerückt wird oder ganz von der Tagesordnung verschwindet. Es bleibt die vage Forderung nach einer moralischen ‚Heilung‘ des Unrechts.“
Will man sich ein eigenes Bild machen, ist zunächst der Blick auf den heutigen Zustand des Bundes der Vertriebenen unerläßlich. Fast alle Mitgliedslandsmannschaften des Dachverbandes BdV sind völlig überaltert und personell wie finanziell derart schwach, daß es wenig Anknüpfungspunkte für einen Neuanfang oder gar für Aufbruchsstimmung gibt. Vor diesem Hintergrund, dessen Ursachen vielfältig sind und wohl nur zu einem kleinen Teil den Vertriebenenverbänden selbst angelastet werden können, erklärte sich Erika Steinbachs bewundernswerter Einsatz für einen zumindest kulturgeschichtlichen Platz der vertriebenen und geflüchteten Landsleute im kollektiven Gedächtnis der Bundesdeutschen. Das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Hoffnungen, flankiert vom Auf- und Ausbau einer eigenen Museumslandschaft: Pommernmuseum in Greifswald, Ostpreußisches Landesmuseum in Lüneburg, Westpreußenmuseum in Münster, Schlesisches Landesmuseum in Görlitz, Oberschlesisches Museum in Ratingen, Donauschwäbisches Zentralmuseum in Ulm, Siebenbürgisches Landesmuseum in Gundelsheim usw.
Wie schwierig die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine geschichtspolitische Aufklärungsarbeit von dieser Thematik sind, zeigt der jüngste heftige Streit um Prof. Manfred Kittel, den (noch) amtierenden Direktor der Berliner Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Kittel vertritt zumindest weitgehend den ursprünglichen Ansatz des BdV und Erika Steinbachs (die bezeichnenderweise keinen Sitz im Stiftungsrat bekam), das im Deutschlandhaus in der Stresemannstraße geplante hauptstädtische „Zentrum gegen Vertreibungen“ rund um den inhaltlichen Schwerpunkt der deutschen Flucht- und Vertreibungsopfer auszugestalten. Diese Zielrichtung widerspricht einem um den Begriff der „Kontextualisierung“ zentrierten Modell, das in seiner politisch-korrekten Darlegung die Suche nach Ursachen und Schuld allzu sehr auf das NS-Unrechtssystem reduziert. Andere, ältere Erklärungen und Fallbeispiele für die vielschichtigen Massenvertreibungen des 20. Jahrhunderts treten in den Hintergrund, und das quantitativ besonders erschütternde Beispiel der eigenen, deutschen Opfer wird nicht nur „eingebettet“, sondern relativiert, ja bisweilen sogar verharmlost. Kittel selbst hatte nicht von ungefähr davon gesprochen, es drohe eine „zweite, eine geistige Vertreibung“.
Daß der BdV und sein auf kleine Reste zusammengeschrumpftes akademisches Unterstützermilieu im geschichtspolitischen Bereich derzeit einen schier aussichtslosen Kampf ficht, mag der folgende Umstand andeuten: Am 27. August 2014 gab das Bundeskabinett endlich dem langjährigen Drängen des Vertriebenenverbandes statt, einen speziellen Gedenktag für die eigene Opfergruppe einzurichten. Ab dem kommenden Jahr soll nun jeweils am 20. Juni an die Opfer von Flucht und Vertreibung erinnert werden, allerdings nur im Rahmen des an diesem Tag zelebrierten Weltflüchtlingstages der Vereinten Nationen.
Andere mögliche Arbeitsschwerpunkte gerade der historisch ostdeutschen Landsmannschaften, die sich nach dem Umbruch im östlichen Europa nach 1989 eröffneten, wurden von diesen ebenso wie vom BdV völlig vernachlässigt: eine koordinierte Vor-Ort-Unterstützung heimatverbliebener deutscher Bevölkerungsgruppen etwa in Oberschlesien oder Ungarn, die gezielte Knüpfung kommunaler deutsch-polnischer, deutsch-tschechischer, deutsch-slowakischer u. a. Partnerschaften unter Einbeziehung der Organisationen von Vertriebenen und Aussiedlern oder die Vertretung gegenwarts- und zukunftsorientierter minderheitenpolitischer Interessen im Rahmen der hiesigen wie der europäischen Volksgruppen- und Regionalpolitik.
Vielleicht reichten für diese Inhalte die personellen Ressourcen schon nicht mehr aus, wahrscheinlich fehlte es im lethargisch wirkenden BdV aber auch am nötigen Willen. Auf letzteres deutet die Tatsache hin, daß sich im Rückblick auf die vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte sehr wohl manche erfolgversprechende Aktivitäten jenseits der geschichtspolitisch-musealen Ebene finden lassen, allerdings weitgehend außerhalb oder nur ganz am Rande des BdV-Netzwerks.
Die Landsmannschaften aus den Oder-Neiße-Gebieten halten bis heute an ihrem grundsätzlich berechtigten, aber eben auch wenig erfolgversprechenden Ringen um Restitutionen des geraubten Besitzes und zumindest moralische Wiedergutmachungsleistungen fest. Mehr als Lippenbekenntnisse waren und sind hier von den maßgeblichen Politikern nicht zu haben, und die Massenmedien zeigen sich diesen Anliegen gegenüber entweder desinteressiert oder feindselig. Um diese Analyse zu verstehen, sollte man sich gedanklich in die Nach-Wende-Zeit versetzen. Als der Deutsche Bundestag am 16. Dezember 1991 sowohl den deutsch-polnischen Grenzvertrag vom November 1990 als auch den im Juni 1991 geschlossenen deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag ratifizierte, geschah dies mit überwältigender Mehrheit. Die Abgeordneten klatschten demonstrativ Beifall, statt – sofern die hiermit verbundenen schmerzhaften Gebietsabtretungen tatsächlich unvermeidbar waren – würdevoll zu schweigen. Doch die Volksvertretung spiegelte in dieser Angelegenheit zweifellos die Stimmung der großen Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung wider, der die alten Reichsteile östlich von Oder und Neiße längst gleichgültig geworden waren.
Trotz der in der Folgezeit zu beobachtenden Konjunktur von TV-Dokumentationen oder Reiseberichten über die Flucht- und Vertreibungsgebiete verlor die politische Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich weiter an gesellschaftlicher Bedeutung. Der spätestens in den 1970er Jahren eingeschlagene Weg des Bundes der Vertriebenen als parteipolitische Vorfeldorganisation von CDU/CSU erwies sich als Sackgasse. Die eigene personelle Basis und das Gewicht bei Wahlen wurden immer geringer, die Möglichkeiten der in die Parteistrukturen eingebundenen Vertriebenenfunktionäre zu Einflußnahmen ebenso.
Im Vergleich dazu erweisen sich die Landsmannschaften der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben sowie mit Abstrichen auch die der Rußlanddeutschen ungemein lebendig. Nicht von ungefähr hob Bernd Fabritius als Vorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland beim diesjährigen Heimattag zu Pfingsten in Dinkelsbühl vor allem eines hervor: die vielen jungen Leute „mit ganz klaren Bekennungszeichen zu unserer Gemeinschaft“. Er sprach sogar von einem „Heimattag der Jugend“.
Und tatsächlich: Sieht man sich die Bilder dieser landsmannschaftlichen Großveranstaltung an, so fallen die zahlreichen jüngeren Mitglieder in den Heimatortsgemeinschaften, den Trachten- und Tanzgruppen, den Chören und den typisch sächsischen „Nachbarschaften“ auf. Nachwuchsprobleme gibt es offensichtlich keine, statt dessen organisatorische Vitalität, generationenübergreifendes siebenbürgisches Heimatbewußtsein und Gemeinschaftssinn. Hinzu kommt ein Stolz, der sich nicht allein aus Vergangenem speist, sondern ebenso auf das Heute bezogen ist, etwa, wenn Fabritius betont, „daß die Siebenbürger Sachsen gerade in Rumänien wegen ihrer Werte, ihres Siebenbürgisch-Sächsisch-Seins sehr geschätzt werden“. Selbstbewußt erklärte er: „Wir leben nicht nur in der Vergangenheit und in der Gegenwart, sondern wir leben insbesondere in der Zukunft – und zwar als Siebenbürger Sachsen.“
Zukunftsorientierung gepaart mit der Vergegenwärtigung der eigenen Herkunft könnten als Leitmotive über der Präsidentschaft von Bernd Fabritius im Bund der Vertriebenen stehen. Vieles spricht dafür, daß unter seiner Führung die Koordinaten des BdV personell, geographisch, ideell und strategisch verschoben werden. Zunächst einmal verändert sich mit dem Vorsitzenden des wohl dynamischsten, mit reichlich intellektuellem Humankapital ausgestatteten Mitgliedsverbandes – die Siebenbürger Sachsen verfügen seit Jahrhunderten über eine breite gebildete Führungsschicht – der Blickwinkel: Das Augenmerk wird sich verstärkt auf die Herkunftsregionen der Aussiedler richten, also in besonderem Maße Rumänien und Rußland. Deren landsmannschaftliche Gliederungen im Bundesgebiet erfuhren durch die Übersiedlerwellen der 1980er und 1990er Jahre eine demographische Frischzellenkur.
Die wichtigsten Aufgabenfelder für den von Fabritius geführten Verband lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen:
1. Konzentration der Öffentlichkeitsarbeit auf insbesondere für jüngere Menschen attraktives landsmannschaftliches Tun, wie es vor allem Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben sowie ansatzweise auch die Sudetendeutschen in einer lebendigen, gegenwarts- und zukunftsbezogenen Zusammenarbeit mit den Herkunftsregionen praktizieren; denn dort zeigen sich immer mehr akademisch gebildete Vertreter der heranwachsenden Generationen der heutigen Staatsvölker an der ganzen – also auch der deutschen – Vergangenheit ihrer Wohngebiete interessiert und pflegen den grenzüberschreitenden Kontakt auch und gerade mit den deutschen Vertriebenen.
2. Fortgesetzte Erneuerung – sprich: Verjüngung – der landsmannschaftlichen Führungsebenen im Zusammenspiel mit der Zusammenlegung kaum noch handlungsfähiger Landsmannschaften zu organischen Verbünden (beispielsweise von Ost- und Westpreußen, Pommern und Danzigern zu einer einzigen Vereinigung) zuzüglich Modernisierung der eigenen Öffentlichkeitsarbeit (Druckmedien, Internet, soziale Netzwerke).
3. Größtmögliche Prägung der landsmannschaftlichen Heimatmuseen sowie des 2016 seine Türen öffnenden Berliner Zentrums gegen Vertreibungen im Sinne einer umfassenden historischen Versöhnungsarbeit, bei der abweichende nationale Blickwinkel auf die Zeitgeschichte ausdrücklich erhalten bleiben dürfen (statt übernationalen, quasi „europäischen“ Standardisierungen, wie sie sich in den gemeinsamen deutsch-französischen und deutsch-polnischen Schulbuchprojekten manifestierten, und zwar häufig zu Lasten spezifisch deutscher Geschichtsauffassungen) plus Profilierung dieser Einrichtungen durch eine rege grenzübergreifende Ausstellungs- und Seminartätigkeit, die in den öffentlichen Raum ausstrahlt und die wissenschaftlich-mediale Diskussion nachhaltig anregt.
4. Wandlung des Selbstverständnisses von einem eng an CDU/CSU angebundenen vorpolitischen Verband hin zu einer überparteilichen Lobby, die strategische Chancen, wie sie sich gerade mit dem Aufkommen der Alternative für Deutschland (AfD) als neuer bürgerlich-konservativer Kraft bieten, im Sinne der eigenen Ziele geschickt zu nutzen versteht.
5. Deutlicherer Einsatz für solche Vorhaben auslandsdeutscher Minderheiten, die deren Zukunft speziell im Schul- und Bildungsbereich gewährleisten können, und Einordnung dieser Hilfen in die in vollem Gange befindlichen identitären Prozesse in einem „Europa der ethno-kulturellen Vielfalt“ (Schottland, Katalonien, Baskenland, Flandern, Südtirol, Oberitalien usw.).
Die Ausgangsposition, aus der der BdV-Vorsitzende Fabritius diese Herausforderungen angehen muß, ist alles andere als gut. Immerhin könnte er der richtige Mann sein. Alternativen zu seinen neuen gegenwarts- und zukunftsorientierten Schwerpunktsetzungen sind ohnehin nicht erkennbar.