Die Gestalt Ricarda Huchs ragt aus der Geschichte unserer Schrifttums hervor. Als eine Hauptfigur deutscher Sprache und Kultur schrieb sie sich dem Kanon ein. In dieses Jahr fiel ihr 150. Geburtstag. Öffentliche Aufmerksamkeit galt 2014 freilich den politischen Ereignissen des Ersten Weltkriegs und des Wiener Kongresses. Das hat anderes marginalisiert. So bietet sich an, zum Jahresausgang das literarische Vermächtnis Ricarda Huchs zu erinnern.
Im kritischen Epochenkontext zeigt sich Huch als die eigentliche Repräsentantin spätbürgerlicher Literatur in Deutschland. Näherhin ist sie als Hauptvertreterin der Reichsidee in der Literatur der Weimarer Republik zu nennen.
Freilich besteht eine Schere zwischen Forschung und allgemeiner Rezeption: Name und Person der Ricarda Huch, anerkannt und hochgeschätzt, beschränken sich mehr auf ein nominelles Gedächtnis als die lebendige Kenntnis ihres OEuvres.
Grund dafür sind der schiere Umfang ihres Werks, seine formale und mediale Vielgestaltigkeit und die heutigen Lesern teils ferngerückte Mentalität und Poetologie der Jahrhundertwende. Was andererseits den immensen Ideenreichtum ihres Schaffens angeht, so hat sie dessen Themen meist nicht systematisch gefaßt, vielmehr ihren historischen Schriften eingearbeitet.
Aus diesem Grund muß der Interpret die kardinalen Topoi und Motive ihrer „Weltanschauung“ aus zahlreichen Texten zusammenfügen. (Meta-)politisch läßt sich die Huch nicht im gewohnten Rechts-Links-Schema verorten, sie sperrt sich einer klaren politischen Zuordnung. Ferner ist ihr Werk markiert durch ein Spannungsverhältnis von Poesie und Wissenschaft. Huch war eine der ersten deutschen Akademikerinnen. Die im Studium gewonnenen Kenntnisse kamen ihrer Literatur zugute, so daß ihr Schaffen zwischen den Polen Erkenntnis und Ausdruck alterniert.
Unmittelbar nach ihrem Studium (1892) begann die Autorin – in bewußter Wendung gegen den Naturalismus – lyrische Dichtungen, Versszenen, Dramen, Erzählungen und bald auch Romane zu publizieren. Thematisch, sprachlich und ikonografisch steht diese frühe Produktion um 1900 im Zeichen der Neuromantik, hat teil am stilkünstlerischen Ästhetizismus und Milieu des Fin de Siècle.
Ein zweiter erzählerischer Komplex fällt in die Jahre 1906–1910. Er wurzelt in Huchs Italienerlebnis und beschäftigt sich mit dem Risorgimento, also den Ereignissen und Figuren der neueren italienischen Nationalgeschichte.1 Damit schließt die erste Epoche einer großen Autorschaft ab.
Eine zweite (1912–1914) eröffnet die narrativ-szenische Aufbereitung des 30jährigen Krieges. Sie setzt sich mit weltanschaulichen Schriften, biografischen Arbeiten und solchen zur deutschen Geschichte während der 1920er Jahre fort und findet ihren reifen Ausdruck in Alte und neue Götter (1930).
In Huchs Alterszeit (1932–1947) gehört ihre große, dreiteilige Reichsgeschichte (1934–1949), die sich konzeptionell gegen den NS-Imperialismus richtet und als gültige Summe ihres weiten Denkweges, als repräsentatives Opus magnum, angesprochen werden darf.
Sind andere Autoren auf jeder Station ihres künstlerischen Weges gestalterisch oder ideell am Ziel, zwingt uns die Rückschau im Fall Ricarda Huchs, ihr OEuvre evolutionär zu rekonstruieren. Offenbaren ihre Arbeiten doch einen Zusammenhang, eine höhere Teleologie, die die Autorin Schritt für Schritt zur Ausarbeitung epischer Formen und zur Entwicklung ihrer Leitideen führte. Entstanden ist dabei ein inhaltlich und formal vielfältiges und vielschichtiges Werk von eigentümlichem Reiz, das – den großen Meistern des Essays nicht unähnlich2 – auf spezifische Weise zwischen Dichtung und Wissenschaft lebt. So wie konservative und revolutionäre, rechte und linke Motive sich in ihm verbinden, so schillert es auch zwischen Tradition, Modernität und Antimodernismus. Das macht nicht zuletzt die kompositorische Formgebung der unterschiedlichen Bücher offenbar, deren innere Gestaltungsprinzipien mit den Themenstellungen individuell korrespondieren; was schon die zeitgenössischen Debatten der Kritik3 lebhaft bestimmte. Struktur, Themenführung, Komposition der Romane, später dann vor allem des Großen Krieges, waren zentrale Kriterien schon der Rezeption zu Lebzeiten. In diesem Horizont erscheinen uns rückblickend gerade die Arbeiten ihrer Meisterschaft vollkommen adäquat: nach Inhalt und Form ihre Autorintention treffend.
Ricarda Huch wurde am 18. Juli 1864 in eine altbürgerliche, musische Patrizierfamilie, deren sozialer Verfall sich abzeichnete, in Braunschweig geboren. Herkunft und familiäres Umfeld sind also Autorenkollegen wie Thomas Mann oder Ina Seidel durchaus vergleichbar. Aus der Familie gingen zwei weitere Autoren hervor: der Bruder Rudolf (1862–1943) und der Vetter Friedrich Huch (1873–1913).
Zur zerstörerischen Jugenderfahrung geriet die leidenschaftliche Liebe zu dessen Halbbruder Richard (1850–1914), der freilich 1879 Huchs Schwester Lilly (1859–1947) geheiratet hatte. Ihr Gefühl wurde erwidert; doch fühlte sich der Cousin gebunden. Erst später haben beide ihren Lebenstraum verwirklicht (1907–1911) und sind doch gescheitert.
Um dem Gefühlschaos auszuweichen, griff Ricarda Ferdinand Tönnies Rat auf, sich in der Schweiz akademisch auszubilden. Wie andere Frauen vor ihr begab sich die Huch nach Zürich, um ein Studium der Deutschen Philologie, der Geschichte und Philosophie in den Jahren 1888–1891 zu absolvieren. Als erste Schweizer Diplomandin für das höhere Lehramt promovierte sie kurz darauf mit einer Arbeit zur Eidgenössischen Neutralität im Spanischen Erbfolgekrieg (1892). Während der nächsten Jahre als Bibliothekarin und Lehrkraft am Zürcher Lyzeum entstanden die ersten poetischen Arbeiten.
Nach einem kurzen Bremer Aufenthalt (Worpswede!) traf sie 1897 in Wien ein, wo sie in die literarische Szene eintauchte. Ihrem Denken und Schaffen ist Wien fortan nicht nur positive Erfahrung, sondern eine lebendige Größe geblieben: nicht bloß ein geografischer Ort, vielmehr ein überzeitlicher Wert, der sich mit dem alten Reich, dem Kaisertum und den Habsburgern verband.
In Wien lernte sie auch den italienischen Zahnarzt Ermanno Ceconi (1870–1927) aus Padua kennen und lieben; beide heirateten im Jahr darauf und zogen nach Triest. Der unfrohe Aufenthalt blieb Episode, denn die Ceconis übersiedelten schon 1900 nach München.
Dies erwies sich als treffliche Wahl, denn intellektuelles Leben und künstlerische Bohème zogen beide an. Nur unterbrochen vom Braunschweiger Aufenthalt bei Richard (1907–1910) und zwei Kriegsjahren im Schweizerischen Bern (1916–1918), blieb die Isar-Metropole Huchs Wirkungsstätte bis 1927. München bot gute Arbeitsmöglichkeiten und zwischenmenschliche Begegnungen; so die intensive Freundschaft mit dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864–1945)4. Es entstand dort eine Fülle wichtiger Schriften, so auch der Große Krieg.
Hatte die Autorin vor 1914 ganz politikfern gelebt, so politisierten Weltkrieg und Nachkriegszeit sie nun in hohem Maß. In den 1920er Jahren verfolgte sie die politischen Ereignisse intensiv und kommentierte robust, so 1921 das „Londoner Ultimatum“: „Man glaubt, man könnte den Friedensvertrag unterzeichnen, ohne die Folgen davon zu tragen. Alle kommen mir wahnsinnig vor. Man hätte ihn nie, nie unterzeichnen dürfen […].“5 Kriegsschuldartikel und Schuldsyndrom hat sie stets abgelehnt.
Ihre historischen Publikationen der 20er Jahre festigten ihren Ruf als deutschbewußte Autorin, Sachwalterin der Tradition und bürgerliche Großschriftstellerin: so daß die Berufung in die preußische „Dichterakademie“ 1926 und die Verleihung des hochangesehenen Goethe-Preises der Stadt Frankfurt 1931 (nach Stefan George, Albert Schweitzer, Leopold Ziegler und Sigmund Freud) konsequent erscheinen.
Problematisch entwickelte sich ihre Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste. Deren kurze, komplikationsreiche Geschichte eskalierte 1933, als nach der Machtergreifung den Mitgliedern ein Treuerevers abverlangt wurde.
Huchs schroffe Weigerung führte zu einem dramatischen Briefwechsel mit der Akademieleitung, die die prominente Autorin zu halten suchte. Er gipfelt in Huchs Epistel vom 9. April 1933: „Daß ein Deutscher deutsch empfindet, möchte ich fast für selbstverständlich halten; aber was deutsch ist, und wie Deutschtum sich betätigen soll, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. […] Hiermit erkläre ich meine Austritt aus der Akademie.“6
Fortan lebte sie ihr literarisches Leben unter den Bedingungen der Inneren Emigration (die sie nach 1945 leidenschaftlich verteidigte), geduldet von der Partei, doch argwöhnisch beäugt. Mürrisch kommentierte die NS-Presse ihr Alterswerk, zumal die ersten beiden Bände der dreiteiligen Reichsgeschichte (1934/37), warf ihr „ultramontane“ Gesinnung7 und „Philosemitismus“ vor.8
Nach Aufenthalten in Berlin, Heidelberg und Freiburg, seit 1936 mit der Familie in Jena, geriet die Huch samt Schwiegersohn auch ins Fadenkreuz der NS-Justiz. Dieser gehörte dem Freiburger Eucken-Kreis an; sie selbst unterhielt Kontakte zum Widerstand und hat als letztes Projekt noch eine Ehrung der Toten geplant.9
Nach ihrer Ehrenpräsidentschaft beim ersten Deutschen Schriftstellerkongreß in Berlin (Oktober 1947), wo sie Versöhnung und Neuanfang beschwor, als Gast der Stadt Frankfurt in Kronberg, verstarb Ricarda Huch dort am 17. November 1947.
Literarisch begann die antinaturalistische gesinnte Huch mit Prosa, Lyrik und dramatischen Versuchen im Zeichen der Neuromantik. Die frühen Arbeiten, zumal ihre ersten großen Erfolge, die Romane Erinnerungen von Rudolf Ursleu dem Jüngeren (1893) und Michael Unger (1903), sind Themen und Stilformen des Jugendstils verpflichtet. Sie erzählen sprachlich subtil von der ästhetischen Daseinsform alter Patriziergeschlechter, deren Verfall und von tragischer Liebe. Kennzeichnend sind der gehobene Sprachduktus („Oh, Leben! Oh, Schönheit!“), die durchgehende Stilisierung und poetische Metaphern wie der präraffaelitische Frauentyp. Im Medium eines strömenden Lebensgefühls fügt sich der Figurenreigen zu Ornamenten von malerischer Pracht. Der subjektiv bestimmte, noch lyrische Erzählcharakter des Ursleu gewinnt im Unger größere Objektivität. Realistische Detailtreue und Figurenführung entscheiden im Konflikt von bürgerlicher Pflichttreue und individueller Freiheit zugunsten sozialer Verantwortung.
Ein zweiter Komplex von Arbeiten (1906–1910) gilt der neueren italienischen Geschichte: politischen Kämpfen um den Nationalstaat. Er umfaßt zwei große Garibaldi-Romane, die Essays über Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento und eine F. Confalonieri-Biografie. Motivischer Leitfaden auch hier: die Faszination des Freiheitsthemas. Erzähltechnisch wächst die Autorin weiter an ihren epischen Aufgaben und nähert sich den späteren Geschichtsprojekten an. Die dichterische Auflösung der Spannung von weltgeschichtlichen Figuren und Massenszenen, von situativer Prägnanz und komplexer Verflechtung, von Ereignisdichte und Handlungsführung rühmte die Kritik zumal am ersten Band. Auch die Essays ergreifen Partei für die Nationalbewegung und gegen den(Neo-)Absolutismus.
Ricarda Huch hat in drei großen Arbeiten nach und nach die gesamte deutsche Geschichte aufgearbeitet: zunächst den 30jährigen Krieg, dann das 19. Jahrhundert (bis 1870), schließlich die gesamte Reichsgeschichte bis 1806. Alle drei sind dabei ganz unterschiedlich dimensioniert.
Literarisch auffällig geriet vor allem Der große Krieg in Deutschland (1912–1914). Die Autorin bot weder einen historischen Roman noch ein Sachbuch. Nicht diskursiv und begrifflich, vielmehr anschaulich konkret erzählt sie die Geschichte des Zeitalters nach, und zwar in einer Reihe von 224 Szenen. Es werden die Probleme also nicht sachlich erörtert, analysiert und argumentativ geklärt. Vielmehr tritt die Autorin hinter die Ereignisse zurück, geht gleichsam in sie ein und versucht, das Geschehen situativ zu verdichten. So wird nicht nur erzählt, die Quellen werden vielmehr szenisch umgesetzt. Die Episoden reihen sich aneinander. Sie werden collagiert zu einem mosaikförmigen Bild, das einen beständigen Wechsel von Schauplätzen, Personen, Handlungen – eben von Perspektiven –zeigt. So entsteht nicht der Eindruck eines geschlossenen Bildes, vielmehr etwas inhaltlich und formal Disparates. Dies wurde bei Erscheinen vielfach vermerkt, teils attackiert. Tatsächlich versinnbildlicht das Werk die Anarchie der antagonistischen Kräfte als Bürgerkrieg literarisch treffend. Die in der Romanarbeit entwickelten epischen Formen, Figuren und Griffe konnte Huch jetzt erfolgreich ein-setzen.
Die weltanschaulichen und historischen Schriften der 1920er und 1930er Jahre involvieren eine weitläufige Kritik der Moderne. Diese ist speziell in Alte und neue Götter beobachtbar und liefert das negative Passepartout zu Huchs positivem Menschen- und Weltbild, das sie je länger desto mehr mit dem Mittelalter verband.
In den Jahren 1899–1902 hatte Ricarda ein zweiteiliges Werk über die deutsche Romantik publiziert, das damals Aufsehen machte. Es gehört zu den frühen Arbeiten der Romantikforschung und wird bis heute rezipiert.10 In einer langen Reihe von Themenkapiteln wird ein breites Spektrum der romantischen Welt dargestellt. Dabei fällt auf, daß die Autorin weniger poetische Zeugnisse analysiert, als sich vielmehr für die Romantik als philosophische, weltanschauliche und wissenschaftliche Bewegung interessiert. So nimmt ihre geistesgeschichtliche Auswertung manches vorweg, was Fachleute später in mehr systematischer Form dargelegt haben.11
Jedenfalls waren ihr von da aus viele Gesichtspunkte vertraut, die sie in dem bemerkenswerten Buch Romantischer Sozialismus des Wiener Publizisten Siegmund Rubinstein12 wiederfand. „Dieses Buch möchte ich selbst geschrieben haben […]. Was ich schon als Kind ganz dunkel wünschte und ahnte […], das sehe ich nun auf einmal wirklich werden […]. Ich kam mir gestern vor wie ein Moses, der mit einem Blick in das gelobte Land stirbt. Ich sah das Heilige Römische Reich, [das] für mich immer das Reich der persönlichen Beziehungen [war], wieder aufsteigen, mit einer verjüngten Kirche […].“13
Das gelehrte Werk vereinigt ideengeschichtliche Analysen mit zeitgenössischem Politikprogramm. Der Autor möchte den institutionellen Umbau des Deutschen Reichs seit 1919 beeinflussen und dafür das romantische Ideengut nutzen, etwa die Sozialphilosophie Adam Müllers. Rubinstein geht es um eine Kritik des modernen Staates und der Marktgesellschaft; zentraler Punkt ist das Thema der formalen Demokratie. Der Aushöhlung des demokratischen Gedankens durch den modernen Parlamentarismus setzt er den basisdemokratischen Rätegedanken entgegen, der syndikalistisch motiviert, ihm als eine Form „direkter Aktion“ gilt. Ein weiterer Aspekt ist die intermediäre Funktion der Räte. „Im modernen Staate“, schrieb Ricarda enthusiastisch in ihrer Rezension14, „durchkreuzen sich schneidend Atomisierung und Zentralisation; nebeneinander bestehen lauter selbstständig sein sollende Individuen und willkürliches Zusammenbinden derselben zu starren Einheiten. Diese der menschlichen […] Natur nicht entsprechende Lebensform hat in Deutschland eine leidenschaftliche Sehnsucht nach organischer Gemeinschaft erzeugt, die unverhofft zu einer überraschenden Gestaltung geführt hat, in den sogenannten Räten“. Sie bezieht diese nun auf die mittelalterlichen Zünfte, Gilden und Hansen, also ständische Körperschaften. Gegenüber dem individualistischen Prinzip betrachte das genossenschaftliche den Menschen als „ein Kollektivwesen, das sich freiwillig zu Organen gliedert, die sich […] zu einem beweglichen Ganzen zusammenschließen; jenes führt zu Zentralisation und Beamtenherrschaft, dieses zu Selbstverwaltung und Führung durch Vertrauensmänner […]. Das germanische Gemeinschaftsideal, wie es sich im Mittelalter ausbildete und auslebte, gründete sich auf genossenschaftliche Gliederung, auf persönliche Beziehungen“.
Auch jenseits der expressionistischen Inflationsjahre hat die Autorin ihre Zentralidee konsequent weiterverfolgt. Schon seit ihrer Jugend um 1871 hatte Huch ihren antiborussischen Affekt, aber auch Sympathie für das Alte Reich und die Habsburger entwickelt. Diese Motive kulminieren im Spätwerk.
Seit den 1920er Jahren bestand der geschichtsphilosophische Subtext ihrer Schriften in einem dialektischen Widerspiel aus antimoderner Kulturkritik und Reichsmythos. Dessen konkret-ideellen, historisch-überzeitlichen Komplex von irdischem Reich und Gottesreich suchte sie immer stärker ans Licht zu ziehen. Dies der geheime Nerv ihrer späten Feder. Das Römische Reich Deutscher Nation war halb Realität, halb Utopie, halb Herkunft, halb Verheißung, halb Überlieferung und halb Revolution.
Kulturkritsch hingegen sah sie den historischen Sündenfall im fürstlichen Absolutismus; der verschwand nicht mit dem Ancien Régime, sondern reichte wechselnder Gestalt bis in die Gegenwart. Die Zerstörung körperschaftlichen Lebens zwischen Machtzentrale und (atomisierten) einzelnen bildeten das Grundproblem, den totalitären Bazillus, der moderne Technokraten und Imperialisten, aber auch den Nationalsozialismus ermöglicht hatte. Diese Überlegung bildet das Grundschema, das nach vielen Seiten auszulegen war.
Gleich 1921, in ihrem wichtigsten Weltanschauungsbuch15, beschrieb sie eine wesentliche Seite dieses Vorgangs: „Mit der Umwandlung des Reichs der persönlichen Beziehungen in den unpersönlichen Staat, mit der Umwandlung der Naturalwirtschaft in Geldwirtschaft, mit der Begründung der Herrschaft der Wissenschaft begann die Entpersönlichung des Abendlandes. Das Reich der persönlichen Beziehungen können wir auch definieren als das Reich, in welchem der Einzelwille und der Wille zum Ganzen nicht grundsätzlich voneinander getrennt sind, sondern in dem einzelnen Personen zusammen- und gegeneinanderwirken, so daß jeder zugleich Privatperson und öffentliche Person ist, zugleich sich selbst und das Ganze vertritt.“
Dem Kollektivanarchisten Bakunin, dem sie 1923 slawophile Züge abgewann16, baute sie in ihre Generalsicht mit ein: „Soll ich noch einmal zusammenfassen, was Michel wollte, so war es Dezentralisation zugunsten von selbstständigen Gemeinschaften und verantwortliche Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft im Gegensatz zu der in unverantwortliche Individuen zersplitterten Masse.“17
1925 kam ihre Stein-Monografie heraus.18 Neben Justus Möser wurde er zu ihrer wichtigsten Referenzfigur. In biographisch-historischer Form enthält die Arbeit eine bündige Zusammenfassung ihrer Ideen in den 1920er Jahren.
Sie verknüpft eingangs die Heilige Dreifaltigkeit mit der Reichsverfassung: Als wesentliche Idee enthielt diese „die Idee der Einung, der Genossenschaft. Wie das Ganze und der einzelne, Gott-Vater und Gott-Sohn, durch den Heiligen Geist verbunden gedacht sind, so stellt sich auch das Volk nicht als unendliche, unfaßbare Masse dar, sondern in natürlichen Verbindungen, ähnlich wie der Organismus sich in Gliedern entfaltet, von denen jedes seine besondere Aufgabe und Kraft hat. Der einzelne übte im Mittelalter seine Selbstherrschaft nicht unmittelbar aus, sondern als Glied einer Gemeinde oder Körperschaft, die wiederum ihr eigentümliches Recht aus der Machtfülle des erwählten Kaisers ableitete. Der Kaiser war das höhere Selbst des Volkes […]“. (6) Die historische Feindbestimmung gilt den Territorialfürsten, die das Alte Reich demolierten: „Das Bestreben der Fürsten ging dahin, aus den mit abgestuften Rechten ausgestatteten Bewohnern ihres Gebietes eine gleichartige gehorsame Masse von Untertanen zu machen.“ (9) und die universale Kaiserwürde unterminierten: „[…] denn die Fürsten waren Aufrührer, die in langsamer, folgerichtiger Verschwörung das höchste Haupt der Christenheit seiner Macht beraubten. Ihr Gott war der Gegengott, Satan, der den Anspruch des einzelnen über das Ganze stellt und somit die christliche Grundwahrheit umstürzt, daß alles einzelne vom Ganzen ausgeht“. (8)
Übrig blieben Reichsstädte und -abteien, die Schweiz und mancher Reichsritter. Zu ihnen gehörte auch Stein, der preußische Bürokratie und Zentralismus haßte. Statt dessen plädierte er für ständische Rechte, Freiheit, Selbstverwaltung, die paradoxerweise von gegensätzlichen Zeitpolen bedroht wurden. „Tatsächlich war die Praxis der Französischen Revolution von der des Territorialfürstentums gar nicht sehr verschieden, denn auch dieses strebte ja Gleichheit, nämlich gleiche Untertänigkeit an; Steins Ideal dagegen war die Mannigfaltigkeit, die der Natur entspricht, die nur gemessen wird an der Idee der Gleichheit vor Gott […].“ (80) Hier sah Stein auch eine Spannung zwischen Deutschen und Franzosen: „Dem französischen Schematismus in Erziehung, Schule und öffentlichem Leben stellte er gegenüber die schöne Mannigfaltigkeit Deutschlands […].“ (95) Bismarck und Stein beschliegehangen, jener den Machtstaat gefördert.
Aus der bangen Intuition eines möglichen Endes heraus bereiste Richarda Huch seit Mitte des Jahrzehnts geschichtsträchtige deutsche und Schweizer Städte. Ihre historische Reiseprosa Im Alten Reich erschien in den Jahren 1927–1929 in zwei, dann 1933/34 zu drei Bänden.19
Ihrer Sammlung stellte sie ein programmatisches Vorwort voran: „Ich gestehe, daß ich aus Liebe zur Vergangenheit von verschiedenen alten Städten erzähle. Ich glaube, daß es eine Grenze des Umfangs gibt, jenseits welcher die Dinge und Verhältnisse nicht mehr schön, nicht mehr zweckdienlich, nicht organisch mehr sein können, und ich glaube, daß wir diese Grenze überschritten haben. Nur das halte ich dem Menschen angemessen, was er persönlich übersehen kann, nur das befriedigt seinen Schönheitssinn und seine Vernunft. Aus diesem Grunde liebe ich unsere alten Städte, so wie sie bis etwa zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren. Sie hatten drei Feinde: das Feuer, die Franzosen und die Zerstörungswut und den Ungeschmack der neuen Zeit.“ Wohl könne der Zeitgeist „einmal zur geschlossenen, organischen Form zurückkehren; tut er es nicht, so muß es doch erlaubt sein, des Schönen, Großen und Merkwürdigen, was unsere Vorfahren hervorgebracht und erlebt haben, mit Anteil und vielleicht mit Wehmut zu gedenken“.20
Die Grundidee in Alte und neue Götter21 war, so Huch, die Transformation Deutschlands vom Agrarland zur modernen Industriegesellschaft darzustellen. Mit ihrem Idol Stein setzt der Band ein. „Der erste große deutsche Revolutionär des 19. Jahrhunderts, der Freiherr vom Stein, war zugleich ein Wiederhersteller.“22 68 Kapitel schließen sich daran an. Sie behandeln zahlreiche Exponenten aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Es gibt Abschnitte über Arndt und Jahn, über Friedrich List, Radowitz, Feuerbach, Engels oder die Familie Gagern, den Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV., über das Kommunistische Manifest, das Handwerk, Uhland und den Kaisergedanken oder die Schicksalsfrage: Monarchie oder Republik? Huchs personale Auffassung der Geschichte ist beibehalten. Ob nun anachronistisch oder nicht: sie entsprach jedenfalls ganz ihrem Gesellschaftsmodell der persönlichen Beziehungen. Wieder bilden die einzelnen Themenmomente knappe Einheiten; sie beleuchten Ereignisse, Werte, Konstellationen und ergeben als Reihe ein multiperspektivisches, vielfach gebrochenes Epochenbild. Die szenische Verarbeitung ist freilich einer sachlichen Diskussion des Stoffs gewichen. Allerdings sind Kulturkritik und geschichtsphilosophische Gedanken stärker als sonst präsent. Sie geben dem Thema des Buchs eine pessimistische Ausrichtung. Vehement schlägt das durch im Kapitel über Feuerbach. Huch verknüpft dort das Religionsthema mit der Frage nach der je leitenden Anthropologie: „… eine wesentliche Verschiedenheit der mittelalterlichen Weltanschauung von der modernen liegt darin begriffen, daß man einst von dem Satz ausging: Der Mensch ist schlecht, während die neue Zeit verkündet, der Mensch sei gut. Aus dem glühenden Dunkel der vielen Kirchen bebte es tränenschwer, donnerte es mit Drommetenton; das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf! Das stete Mißklingen dieses tragischen Akkords, das Bewußtsein der Erlösungsbedürftigkeit gab dem mittelalterlichen Leben die Tiefe und das Grenzenlose. Durchdrungen vom Gefühl der eigenen Beschränktheit, wendete sich der Mensch anbetend dem Vollkommenen zu, […] einem ewigen Reich jenseits der verwilderten Erde. […] Der Gegensatz zwischen Jenseits und Diesseits, die, verschieden wie Feuer und Wasser, sich doch durchdringen, machte die Atmosphäre gewitterhaft. [Dann] entstand das neue Lied: Der Mensch ist gut! Dessen flotte Weise den strengen Choral der Vergangenheit verdrängte.“ (186 ff.)
Die Sieger werden am Schluß porträtiert: Finanz- und Konzernmächte, Feudalaristokratie, Militär und Bürokratie; dazu die entfesselte Erwerbsgier der entgrenzten Märkte. (498) „In den Jahren zwischen 1850 und 1870 hatte sich die Umwandlung Deutschlands aus einem agrarischen in einen Industriestaat […] vollendet; das war möglich, weil der Industriestaat die Tendenz des Absolutismus zum zentralisierten Großstaat aufnahm und fortsetzte.“ (512) Das bittere Fazit lautet: „Macht, Gewalt, Geld, Masse, das waren die Prinzipien des neuen Reiches, auch der Opposition; der Sozialismus kämpfte unter denselben Zeichen […] Der Erfolg wurde vergöttert […], während die alte deutsche Kultur zwischen den zwei Ungeheuern Geld und Masse lautlos unterging.“ (512 f.)
Nur wenige Bücher haben in Ricarda Huchs Leben wirklich Epoche gemacht. Von Rubinstein war schon die Rede. Ähnlich erlebte die Autorin 1928 August Winnigs Das Reich als Republik. 1918–192823. Die offenbar spontane Identifikation veranlaßte die Angehörige der preußischen Dichterakademie zu einer öffentlichen Empfehlung, was nicht geringe Turbulenzen in Politik und Medien auslöste.24 Als SPD-Renegat galt Winnig dem Establishment als Persona non grata.
Das Reich als Republik umfaßt zwei Teile: einen historischen, der in großen Zügen Ereignisse und Kräfte der deutschen Geschichte resümiert; sodann eine kritische Analyse des neuen Staates, seiner Gesellschaft und Politik seit 1918. Winnig beginnt mit einer Volkstumslehre, die jedem Volk einen besonderen Charakter zubilligt und die unterschiedlichen Staatsformen aus dieser Identität ableitet, also: der ethnopluralistischen These. Daß die alte Bürgerkultur der frühen Neuzeit in den nachreformatorischen Kämpfen untergegangen und der absolute (Fürsten-)Staat entstanden sei, wird wie bei der Huch als deutsche Katastrophe apostrophiert. Öffentliche Körperschaften, Selbstverwaltung und Genossenschaftsrecht werden gerühmt; der angelsächsische Kapitalismus in Frage gestellt und die Unterwürfigkeit deutschen Geistes unter französische Ideen (die „alte Beziehungslinie“) scharf kritisiert.
Der aktuelle Teil behandelt zahlreiche gesellschaftskritische und politische Themen aus Sicht der nationalen Opposition, wobei Winnigs spezifisch jungkonservativer Standpunkt aus dem Umkreis der Konservativen Revolution auffällt. Diskutiert werden das Rätesystem, der Parlamentarismus, die Niederlage und Versailles, die Verlogenheit öffentlicher Rede, Siegermächte und pazifistische Propaganda, Ruhrkampf, Reparationsfrage, Globalisierung der Wirtschaft und Finanzmärkte oder Rationalisierung und Fordismus versus Gemeinschaftsbildung. Das Buch schließt mit einem bitter-kritischen Fazit der „anthropologischen Revolution“, die Gott durch den Götzen Fortschritt und die Ewigkeit durch materielle Werte ersetzt habe, und wirft die Frage nach dem konservativen Widerstandsgeist auf. Seine bündige These lautet: „In dem Widerstande gegen den Geist der Überfremdung und der Entseelung begegnen sich revolutionäre und reaktionäre Kräfte, sie begegnen sich in der ‚nationalen Bewegung‘, das heißt in den Parteien und Bünden, deren Gemeinsames in der Ablehnung der formaldemokratischen Regierungsform und im Kampfe gegen den außenpolitischen Druck liegt.“25 Der Text endet manifestartig: Winnig empfiehlt Oswald Spengler, Wilhelm Stapel, Hans Blüher und Moeller van den Bruck als Vorbilder: „Der deutsche Mensch nimmt den Kampf, seinen alten Kampf gegen den Geist der Diesseitigkeit und des dinglichen Nutzens wieder auf.“ Es sei „die deutsche Aufgabe, die Lebenswerte der abendländischen Menschheit von der Peripherie nach dem Inneren zu verlegen“ und so das Leben neu zu ordnen. Der Streit um Monarchie oder Republik sei belanglos. „Die deutsche Frage ist anders zu stellen. Sie heißt Auflösung oder Bindung? Zweckmäßigkeit oder Glaube? Genuß oder Dienst? […]. Das eine heißt Siechtum, Ohnmacht und Verfall, das andere ist die Auferstehung des Reichs.“ (349)
1931 bat der Verleger Erich Lichtenstein die Autorin, für einen geplanten Sammelband zur Klärung der Zeitlage einen Text beizusteuern.26 Sie entgegnete mit einer bezeichnenden Selbstauskunft: „Ich bin nicht marxistisch, ich bin nicht kapitalistisch, ich bin nicht nationalsozialistisch, aber ich bin auch nicht schlechtweg demokratisch im heutigen Sinn. Ich bin dafür, daß das Bürgertum den Staat mit ethischer Gesinnung erfüllen sollte.“27
In dieser Situation entstand ihre wichtige Schrift Deutsche Tradition.28 Wichtig, weil die Huch hier eine Wesensbestimmung der Deutschen unternimmt. Deren Zentralidee sei die Freiheit. Nun sei Freiheit an sich „ein vieldeutiger Begriff: die deutsche Freiheitsidee bestand nicht darin, daß jeder tat, was er wollte, woraus bald die ärgste Unfreiheit entstanden wäre; als die Freiheit des mittelalterlichen Lebens erscheint mir das, daß aus dem Volke eine Fülle sich selbst regierender und verwaltender Glieder hervorging, die sich nach innewohnendem Gesetz entfalteten […], ein bedeutendes, wirkungsfähiges Ganzes bildend. Freiheit in diesem Sinne ist der Gegensatz von Zentralisation. […] Das Reich wäre kein organisches Ganze gewesen, wenn es nicht eine Mitte […] gehabt hätte; es war eine, die nicht regierte und verwaltete, sondern vereinigte, ein Herz, das austeilt und sammelt, von dem alle Kräfte ausgehen und zu dem sie zurückkehren. […] Auf diese Weise ist die Welt […] lebendig-göttlich und kein Mechanismus.“ (9 f.) Tragisch sei die neuzeitliche Spaltung und die Verkümmerung der Kaiseridee gewesen: dies war insofern auch eine Selbstentfremdung. Doch bleibe eine Tiefendimension erhalten. Aus deren Quell müßten die Menschen sich periodisch regenerieren: „Durch alle Stadien hindurch, die ein Volk sowie ein einzelner Mensch durchläuft, bleibt ihm ein Wesenskern erhalten, und ich glaube, nur auf der Linie, die von diesem Kern ausgeht, kann es Großes erreichen.“ (60) Dies meine die Freiheitsidee als „freiwillige Bindung an ein höheres Ganzes“. (58)
Als wesentliche Komponenten der Huchschen Reichsidee kann man mit Claudia Bruns29 folgende Konzepte identifizieren: die ständische Gliederung, den romantischen Sozialismus, die Selbstverwaltung, die Kaiseridee und den christlich-nationalen, metaphysischen Ordo. Im Spätwerk der Reichsgeschichte werden sie noch einmal in einem weiten historischen Zusammenhang entfaltet.30
In seiner Laudatio zum 50. Jahrestag ihrer Promotion 1942 in Zürich brachte Robert Faesi drei wichtige Beobachtungen zum Ausdruck: Großartig überlegen habe sich Ricarda Huchs Kraft gezeigt, gewaltige Stoffmengen auf der doppelten Ebene des Dichterischen und Historischen zu bewältigen. „Wissenschaft und Kunst durchdringen sich in Ihnen, und zwar auf eine so erstaunlich vielfache und von Schrift zu Schrift wechselnde Weise […].“31 Überraschend wandte er den Begriff des Reichs auf Ricarda Huch selbst an und nannte ihr Werk nach Fülle, Verschiedenheit und Gestaltung ein eigenes, ganzes Reich.
Dies literarische wie historische Reich auszubreiten und zu schürzen, machte sich die betagte Autorin noch einmal ans Werk, als sie den Auftrag des Verlegers Hürlimann (Atlantis) für eine Reichsgeschichte akzeptierte. Deren erster Band (Mittelalter) konnte 1934 erscheinen; der zweite, Zeitalter der Glaubensspaltung, 1937 (Reformation bis zum Westfälischen Frieden); der dritte Band (1648–1806) passierte weder die NS-Zensur („Der Machtstaat“) vor, noch die französische („Raubkriege“ Ludwigs XIV.) nach 1945; er erschien erst posthum 1949.
In diesem Spätwerk sind Literatur und Wissenschaft optimal vereint. Die Themen werden in der Art einer dichten historischen Essayistik verarbeitet, die im Unterschied zur diskursiv-begrifflichen Norm akademischer Systematik die Verbindung und Einarbeitung zahlreicher Materien zu interdisziplinären Epochenbildern ermöglichte: so Städte, Klöster, Hohenstaufer, Ketzer, Kreuzzüge, Mystiker und vieles mehr.
Ohne an den akademischen Theorie- und Methodendiskussionen seit 1900 teilzunehmen, hatte Ricarda Huch in all den Jahren die ihr gemäße Ausdrucksform gefunden. Sie hat in dieser Verschmelzung verschiedener Kompetenzen und medialer Qualitäten auch eine Antwort gefunden auf den trockenen Positivismus ihrer akademischen Jugendzeit. Vor allem aber hat Huch thematisch-konzeptionell eine alternative Position zur borussischen Generallinie deutscher Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert („Preußens deutsche Sendung“) und ihrer kleindeutschen Optik gefunden. Insofern ist ihr literarisches Geschichtswerk den Gegenpositionen eines Franz Schnabel (1887–1966) oder eines Heinrich von Srbik (1878–1951)32 verwandt.
Auch in diesem Spätwerk bleibt es bei einer lockeren Themenreihung, der episodischen Gliederung statt eines Schemas mit über- und unterordnenden Bezügen. Anders jedoch als früher werden hier die Einzelthemen mehr durchkomponiert, zur Einheit gestaltet. So erscheint jedes Kapitel in sich abgeschlossen, gerade im ersten Band. Huchs kompositorischer „Föderalismus“ waltet auch in der Reichsgeschichte vor.
Groß ist die Rühmung des Alten Reichs: als Spiegel des Kosmos zeigt es sich gar: „Wie im menschlichen Körper geistiges und leibliches Leben einander stetig durchdringen, so verband sich im Körper des Reiches kirchliche Betätigung mit jeder staatlichen und gesellschaftlichen; in Krieg und Frieden, in Handel und Handwerk, auf dem Markt und beim Geldverkehr, im Hause und im Stalle leuchtete die goldene Ader des Ewigen auf, das Alltagstreiben der menschlichen Begierden adelnd. Soweit es auf Erden möglich ist, kann man von dem Reich sagen, daß es […] in der Fülle seiner aufeinander bezogenen Individualitäten, die Sternen und Sternbildern gleich durcheinander schwärmten und sich gelten ließen, in der Großartigkeit und Freiheit seiner Anlage […] den Kosmos spiegelte.“33
Wie schon in den Göttern 1930 enthält auch jeder der Reichsbände Kapitel über Österreich, die Familie Habsburg und über Wien. Schließlich haben die Habsburger in den Perioden des Niedergangs und nach dem Ende des Reichs seine Grundgedanken: die Universalität, die Verbindung mit Rom und Italien34 erhalten, während sich der Reichsgedanke westlich in den „kleinlich eng umhegten Gebieten“ verlor. Doch „er lebte in Österreich, war Österreichs Wesen. Durch Österreich […] wehte der große freie Atem eines Weltreichs“. Schon „dadurch, daß die Habsburger erbliche Träger der Kaiserkrone wurden, ging auf Österreich der Glanz der altheiligen Würde über und verschmolz mit den Ehren, die der jahrhundertelange Kampf und Widerstand gegen die Türken brachte“.35
Krönender „Mittelpunkt des Weltreichs Österreich war Wien, die einzige Stadt Deutschlands, vielleicht des Abendlandes, die sich […] Rom vergleichen kann“.36
Dieses nicht kriegerische, aber „heroische“ Wien37 versinnbildlicht nicht zuletzt die stolze Ricarda Huch. Die hat sich mit dem Preis Goethes selbst ein Epitaph verfaßt: „Güte ist die höchste unter den menschlichen Eigenschaften; wo sie mit Größe zusammentrifft, erscheint das Vollkommenste, was die Erde hervorbringt.“38
1 So die Romane: Aus der Triumphgasse (1902); die beiden Garibaldi-Romane: Die Verteidigung Roms (1906) und der Kampf um Rom (1907); die Essaysammlung: Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento (1908) und die Romanbiografie: Leben des Grafen Federigo Confalonieri (1910).
2 Ich denke dabei an Klassiker dieser Zwischengattung wie: Ferdinand Gregorovius, Karl Hillebrand, Hermann Grimm, Josef Hofmiller, Carl Jacob Burckhardt oder Wilhelm Hausenstein.
3 Dazu reiches Material in: Hans-Henning Kappel: Epische Gestaltung bei Ricarda Huch. Bern 1976. Dort auch ein sehr umfassender, kritischer Forschungsbericht bis dato.
4 Den geistigen Einfluß Wölfflins auf Huch analysiert Else Hoppe: Ricarda Huch. Weg – Persönlichkeit – Werk. Stuttgart 1951; 690.
5 Katalog: Ricarda Huch – 1864–1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. 7. Mai–31. Oktober 1994. Marbach/N. 1994; 260.
6 Der Briefwechsel ist abgedruckt bei Marie Baum: Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs. Tübingen 1950; 342–45.
7 Also katholische Parteigängerei.
8 Vgl. Katalog; 367 f.
9 Erst posthum veröffentlicht: Günther Weisenborn (Hrsg.): Der lautlose Widerstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945. Nach dem Material von Ricarda Huch. Mit einer Einleitung von Martin Niemöller. Hamburg 1953.
10 Ricarda Huchs Romantik-Studie erschien in 2 Bänden: Blüthezeit der Romantik. Leipzig 1899 sowie Ausbreitung und Verfall der Romantik. Leipzig 1902. Die Ausgaben nach 1945 einbändig bei Rainer Wunderlich, Tübingen 1951 ff.
11 Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik. Tübingen 1941.
Nachdem Rudolf Haym (Die Romantische Schule 1870) und Wilhelm Dilthey (Leben Schleiermachers 1870, Das Erlebnis und die Dichtung 1906) wichtige Grundlagen für die künftige Romantikforschung gelegt hatten, muß als früher Markstein der Fachforschung Oskar Walzels „Deutsche Romantik“, Leipzig 1908, genannt werden. Fachwissenschaftlich hat Huchs Romantik à la longue keine allzu große Rolle gespielt, wurde jedoch immer wieder ernst genommen. Julius Petersen
12 Siegmund Rubinstein: Romantischer Sozialismus. Ein Versuch über die Idee der deutschen Revolution. München 1920.
13 Brief an Marie Baum vom 13. März 1921. In: Marie Baum, a. a. O.; 248 f.
14 Wiederabgedruckt in: ebd.; 250–256.
15 Entpersönlichung. Leipzig 1921; 12.
16 Michael Bakunin und die Anarchie. Leipzig 1923.
17 Michael Bakunin und die Anarchie. Frankfurt/M. 1980; 228.
18 Stein. Wien 1925.
19 Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte. 2 Bde. Leipzig 1927 + 1929; 3 Bde. Bremen 1933 + 1934
20 Dass. Leipzig 1927; I.
21 Alte und neue Götter. Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Berlin/Zürich 1930.
22 1848. Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Frankfurt/M. 1980; 13.
23 Stuttgart/Berlin 1928.
24 Zum Vorgang: Katalog Marbach 1994; 319.
25 Ebd.; 339.
26 Diese Sammlung wurde unter dem Titel: Oscar Müller (Hrsg.): Krisis. Ein politisches Manifest. Weimar 1932, publiziert; von Ricarda Huch darin der Aufsatz „Geschichte und Gegenwart“.
27 Ricarda Huch an Erich Lichtenstein vom 18. 3. 1931; zit. im Katalog 1994; 307.
28 Deutsche Tradition. Weimar 1931.
29 Claudia Bruns: Ricarda Huch und die Konservative Revolution. In: WerkstattGeschichte 25; Hamburg 2000; 5–33.
30 Zu diesem epochalen Motivkontext vgl. systematisch: Hans-Georg Meier-Stein: Die Reichsidee 1918–1945 Das mittelalterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung. Aschau 1998.
31 Vgl. Marie Baum, a. a. O.; 413 f.
32 Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 4 Bde. 1929–1937; Heinrich Ritter von Srbik: Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen römischen Reich bis Königgrätz. 4 Bde. (1935–1942) Natürlich vergleiche ich den monumentalen Darstellungscharakter und Erkenntnisgewinn dieser wiss. Großwerke nicht mit Huchs essayistisch gehaltener Reichsgeschichte. Zumal diese (analytisch) nichts eigentlich Neues bietet. Aber nach Mentalität und innerem Impuls richtet auch ihr Werk sich gegen den kleindeutschen Nationalstaat und dessen politische Sanktionierung durch die Berliner Historiographie.
33 Zeitalter der Glaubensspaltung; 16 f.
34 Das Zeitalter der Glaubensspaltung. Frankfurt/M. 1954; 510, 513.
35 1848, a. a. O.; 310.
36 Zeitalter der Glaubensspaltung, a. a. O.; 514. Vgl auch das Wien-Kapitel im 3. Bd.
37 Ebd.; 515.
38 So in der Dankesrede zur Verleihung des Goethe-Preises 1931. Wiederabgedruckt in: Marie Baum, a. a. O.; 316–22, 321–