Bei Felix Ermacora, dem großen österreichischen Staats- und Minderheitenrechtler, findet sich der Satz, man nenne in Österreich die Verweigerung der Selbstbestimmung Realpolitik.
Nicht zur Ehre, aber doch zur Entlastung Österreichs sei in diesem Zusammenhang gesagt, daß die Mißachtung des 1917 von Woodrow Wilson feierlich erklärten Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Volksgruppen die tatsächliche Geschäftsgrundlage der im 20. Jahrhundert zweimal gescheiterten Versuche zur Herstellung einer gerechten Friedensordnung war. Dafür stehen die Namen Versailles, St. Germain und Potsdam. Daran hat nichts geändert, daß das Selbstbestimmungsrecht inzwischen völkerrechtsverbindlich in der UNO-Charta der Menschenrechte und in der Schlußakte der KSZE von 1975 festgeschrieben wurde. Daß es in die Statuten der noch immer regierenden Südtiroler Volkspartei aufgenommen wurde, ist inzwischen zum billigen Schlager in Wahl- und Sonntagsreden südlich und nördlich des Brenners verkommen.
Mit anderen Worten: Wir leben in ganz Europa in einem Zustand der Heuchelei: Nach wie vor bestimmen Macht und nicht Recht das Zusammenleben der Völker. Ungelöste Minderheitenkonflikte köcheln. Der Kontinent wird von gewaltsamen Ausbrüchen mit zunehmendem terroristischen Charakter vom Kaukasus bis Grönland, vom spanischen Baskenland bis in den Südbalkan, von Nordirland bis Malorca und Korsika erschüttert.
Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß vor allem seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1989/91, der deutschen Teilwiedervereinigung, der zum Teil blutigen Auflösung des kommunistischen Jugoslawiens durch faktische Selbstbestimmungsakte zahlreiche Grenzen verschoben bzw. neue Staaten und mit ihnen neue Minderheitenprobleme entstanden sind.
Fälschlich und irreführend wird behauptet, 1975 habe die Konferenz (später Organisation) für Sicherheit und Entwicklung in Europa den Status quo nach Jalta und Potsdam festgeschrieben. Abgesehen davon, daß Vertreibung und Völkermord nach wie vor unverjährbare Verbrechen sind und das Recht auf Heimat ein Menschenrecht ist, haben schon die Helsinki-Akte von 1975 friedliche Grenzänderungen vorgesehen und zugelassen. Wo es, wie im Kosovo, um Großmachtinteressen geht, darf auch das Selbstbestimmungsrecht in die Schranken treten.
Wenn der Dritte Nationalratspräsident Martin Graf aus Anlaß der 200. Wiederkehr des Tiroler Freiheitskampfes von 1809 daran erinnert, daß dieses fundamentale Recht den Südtirolern nach wie vor vorenthalten wird, hat er fast ein Tabu der allgemeinen Heuchelei durchbrochen und einen Aufschrei all jener ausgelöst, welche uns einreden wollen, mit der österreichisch-italienischen Streitbeilegungserklärung von 1992 sei die Südtirolfrage ein für allemal erledigt.
Der Sturm im österreichischen Wasserglas, den Graf mit seiner durchaus legitimen Äußerung ausgelöst hat, hat mit Südtirol nur mittelbar zu tun. Er ist ein weiterer Versuch, den mißliebigen blauen Burschenschafter endlich abzuschießen und damit dem nationalen Flügel der FPÖ eine Niederlage beizufügen. Zugleich kann man sich bei den Nachkriegswiderständlern vom DÖW, der Israelitischen Kultusgemeinde, den Linksgrünen und dem linken Flügel der SPÖ beliebt machen, denen die Erfolge der Blauen und der europäische Rechtsruck seit längerem den Schlaf rauben.
Vielleicht träumen sie alle auch davon, wie man mit einer konzentrierten Medienkampagne wie in den Fünfzigerjahren einen der mächtigsten Männer der Sozialisten, Franz Olah, abzuschießen vermochte. Geht es um den Dritten Präsidenten, den die FPÖ stellt, finden sich genug liberale und bürgerliche Idioten, die in die von den 68-ern und ihren pubertären Ablegern aufgestellte Falle laufen. Bei jedem, auch dem lächerlichsten Anlaß, werden Rücktrittsforderungen skandiert und selbst Anlaßgesetze zur Absetzung gefordert.
Wenn sich die beiden Tiroler Landeshauptleute, der österreichische Außenminister und der ehemalige Erste Nationalratspräsident Khol an die Spitze der Kritiker setzen, den Alleingang Grafs verurteilen sowie Ort und Zeit für undiplomatisch erklären, scheinen sie zu vergessen, daß es die ÖVP war, welche 1966 die bis dahin gemeinsame Südtirolpolitik aufkündigte und die Südtiroler auf den Autonomieweg drängte. Andreas Khol wird einigen Erklärungsbedarf haben, warum er sich im Konvent zur Bundesverfassungsreform für die Aufnahme von Südtirols Selbstbestimmungsrecht und Österreichs Schutzmachtverpflichtungen in die Verfassung stark machte und nun plötzlich den bestehenden Zustand einer von Rom ständig in Frage gestellten und durch Gerichtsurteile ausgehöhlten Autonomie für ein europäisches Vorzeigemodell hält.
Schließlich hat auch Italien 1977 das Selbstbestimmungsrecht – nach langem Widerstand – in seine Verfassung aufgenommen. Ist es nicht beschämend, daß der ehemalige italienische Staatspräsident und Senator auf Lebenszeit, Cossiga, als er vor rund zwei Jahren einen Gesetzesantrag auf Gewährung der Selbstbestimmung für Südtirol im römischen Senat einbrachte, damit in Südtirol und Österreich auf mehr Ablehnung gestoßen ist als in Italien? Unzulässig erscheint es uns, das Selbstbestimmungsrecht damit aushebeln zu wollen, es sei anachronistisch, da in der EU Grenzen faktisch nicht mehr bestünden. Gäbe es diese „Grenzenlosigkeit“ wirklich, darf die Gegenfrage gestellt werden: Was steht der Wiederherstellung der Tiroler Landeseinheit im Wege?
Was kann Italien einzuwenden haben, das – zu Recht – die Trientiner Irredentisten im Allgemeinen und Cesare Battisti im Besonderen (er forderte übrigens nicht die Brenner-, sondern die Salurner-Grenze) feiert, der das Selbstbestimmungsprinzip 1953 für Triest erfolgreich eingefordert und durchgesetzt hat, obwohl Triest länger bei Österreich war als das südliche Tirol?
Es darf nicht heißen, sogenannte Realpolitik gegen Selbstbestimmung, sondern Selbstbestimmung unter Bedachtnahme auf die Südtiroler Realität. Diese erfordert in erster Linie, den Selbstbestimmungsgedanken in Südtirol mehrheitsfähig zu machen. Ob diejenigen Recht haben, die meinen, Cossiga sei in der Frage vorgeprescht, weil er den Ausgang eines Referendums über Südtirols Zukunft keineswegs für eine ausgemachte Sache hielt, muß offen bleiben. Die jüngsten Aussagen des Südtiroler Landeshauptmannes sind in diesem Zusammenhang kritisch zu prüfen.
Fünfzig Jahre Kampf gegen nationales Denken, d. h. ethnische und national-kulturelle Wertvorstellungen, sind auch in Südtirol nicht ohne Wirkung geblieben. Ständige Multikulti-Predigten werden Wiedervereinigungsforderungen als ewig gestrig erscheinen lassen.
Die Tatsache, daß rund 27 Prozent der Südtiroler Wohnbevölkerung ethnisch Italiener sind, zum Teil in der dritten Generation, kann nicht mit dem historisch und völkerrechtlich zutreffenden Argument abgetan werden, dies sei das Ergebnis faschistischer Genozidpolitik. Das Hitler-Mussolini-Abkommen von 1939 mit der folgenden Aussiedlung von rund 80.000 Südtirolern wird dabei gerne verdrängt. Hier müßten die südtirolischen, deutsch-ladischen Selbstbestimmungskräfte in einen konstruktiven Dialog mit ihren italienischstämmigen Landsleuten eintreten. Man darf nicht vergessen, daß man sich nach der großen Kundgebung von Sigmundskron 1953 statt auf ein „Los von Rom“ mit knapper Mehrheit zu einem „Los von Trient“ eingelassen hat.
Autonomie mag in dem von Ermacora gegeißelten Geiste der Realpolitik der Sechzigerjahre realistischer gewesen sein, als die alliierten Siegermächte den Mitsieger Italien in Anbetracht des voll ausgebrochenen Kalten Krieges durch eine Abtrennung Südtirols nicht vor den Kopf stoßen wollten. Doch scheint uns nicht bestreitbar, daß Wien 1945 mit dem Gruber-Degasperi-Abkommen zu früh kapituliert hat. Im Grunde war dieser Kniefall nur die Wiederholung dessen, was schon die politische Handlungsmaxime des guten Kaiser Franz 1809 und der Regierung Renner 1920 gewesen war. Nicht zu vergessen: Dollfuß und seine Nachfolger waren in den Dreißigerjahren bereit, die Brennergrenze endgültig anzuerkennen, um sich Mussolinis Beistand gegen die großdeutschen Anschlußwünsche Hitlers zu sichern.
Die bei parteipolitischem Bedarf immer wiederholte Beteuerung, das Selbstbestimmungsrecht sei unverzichtbar, ist eine hohle Leerformel, zumal es Wien unterlassen hat, das II. Autonomiestatut von 1972 bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU in den Neunzigerjahren vertraglich abzusichern. Rechtlich steht diese Autonomie auf sehr schwachen Beinen, da wesentliche Bestimmungen (z. B. der ethnische Proporz) EU-rechtswidrig scheinen. Nicht zuletzt deswegen mögen die politischen und diplomatischen Entrüstungsschreie auch Versuche sein, das schlechte Gewissen Wiens und Roms zu übertönen.
Graf hat mit seinem Tabubruch den reibungslosen und schaumgebremsten Ablauf des Gedenk- und Bedenkjahres 2009 empfindlich gestört. Vertuscht werden sollte tunlichst auch die Rolle des Freiheitskampfes der Jahre 1959–1969, ohne welche es keine „Vorzeigeautonomie“ zu feiern gäbe. Das unwürdige Spiel darüber, ob und wie man bei der großen Landesfeier die Dornenkrone als Symbol des Unrechtes, der Opfer und der Unversöhnlichkeit Roms mitführen dürfte, beweist, daß man den 20. September in Innsbruck zu einem folkloristisch-musealen Ereignis herabstufen wollte. Der italienische Außenminister Frattini hat die neuerlichen Unterwerfungsgesten Wiens nun offenbart: Man werde die ewig-gestrigen Wilden, welche in der Autonomie keine Endlösung sehen wollen, schon zähmen und dem Gedenkjahr alle „Giftzähne“ ziehen. Wo bleibt die endliche Begnadigung der letzten Freiheitskämpfer der Sechzigerjahre?
Niemandem, der Recht und Frieden will, wird es einfallen, heute eine Lösung der offenen Fragen um Südtirol mit Gewalt anzustreben. Wem aber mittelfristig die Wiederherstellung der Landeseinheit und die Erhaltung der tirolischen Identität Südtirols am Herzen liegt, wird dem Abgeordneten Graf dankbar sein, daß er gegen alle pseudoeuropäische Heuchelei Roß und Reiter beim Namen genannt hat. Er hat die Linie der Freiheitlichen fortgesetzt, welche nie ein Hehl daraus gemacht haben, daß Autonomie nur eine Zwischenlösung sein kann. Statt des würdelosen antifaschistischen Spektakels sollte man zu jener gemeinsamen Südtirolpolitik zurückkehren, welche Bruno Kreisky nach dem Zwischenspiel Klaus–Toncic–Waldheim wieder aufgenommen hat.
Der ganze antifaschistische Wirbel, den der Dritte Nationalratspräsident mit seiner Erklärung zum südtirolischen Selbstbestimmungsrecht ausgelöst hat, beweist eines: Die Südtirolfrage ist ebenso wie beispielsweise die Kärntner Ortstafelfrage längst zur billigen kleinen Münze im parteipolitischen Machtgerangel geworden.