2011 prognostizierte Libyens ehemaliger Diktator Muammar al-Gaddafi: „Wenn anstelle einer stabilen Regierung, die Sicherheit garantiert, die mit Bin Laden vernetzten Milizen die Kontrolle übernehmen, dann werden die Afrikaner in Massen nach Europa strömen. Das Mittelmeer wird zu einer See des Chaos werden!“ Genau so ist es gekommen. Schätzungen zufolge warten derzeit bis zu einer Million Menschen in Libyen darauf, mit dem Boot nach Europa zu gelangen. Daß bei dieser gefährlichen Überfahrt in den letzten Monaten Tausende Flüchtlinge starben, hält anscheinend niemanden davon ab, in die Boote der kriminellen Schlepper zu steigen. Im Gegenteil: Da die Europäische Union als Reaktion auf die jüngsten Flüchtlingskatastrophen die Mittel für die Seenotrettung verdreifachte, ist die Wahrscheinlichkeit, lebend in Europa anzukommen, sogar noch gestiegen.
Was also als humanitäre Pflicht angepriesen wird, erweist sich bei näherem Hinschauen als ein Konjunkturprogramm für das Milliardengeschäft der kriminellen Schleppernetzwerkei, die mittlerweile von der Akquise neuer Migranten in Afrika bis hin zur Bereitstellung einer passenden Geschichte für die Asylbehörde so ziemlich jede denkbare Dienstleistung im modernen Menschenhandel ausfüllen. Die Geschäfte für die Schlepper werden so lange gut laufen, wie Auswanderer in ihrer alten Heimat anrufen und berichten, sie hätten es geschafft. Selbst wenn sich die EU zu einem Militäreinsatz entschließen sollte, um Schlepperboote in Libyen zu zerstören, was einen Krieg und noch mehr Chaos provozieren könnte, bliebe das Grundproblem bestehen: Jeder Illegale, der in Europa bleiben darf, sorgt für Nachahmer und dient für die Schlepper als Argument, daß eine Einreise möglich ist. Seit Jahren führen alle Sicherheitsmaßnahmen der EU nur dazu, daß der Preis der Einschleusung steigt und sich die Flüchtlingsrouten und Methoden ständig ändern. Inzwischen kommen sie auf Luxusjachten, versteckt in privaten Kofferräumen oder werden von korrupten Grenzbeamten einfach durchgewunken.
Sowohl die europäischen Nationalstaaten als auch die EU reagieren auf diesen gut organisierten Ansturm aus Libyen und über andere Routen ziemlich planlos. Das einzige, was helfen würde, wäre, alle illegal Eingereisten automatisch, also ohne Asylverfahren, in ihre Heimat zurückzuschicken, aber dafür fehlt den politisch Verantwortlichen der Mut und Wille. Das hat zwei Hauptgründe: Zum einen ist es für Europa ungewohnt, einen eigenen außenpolitischen Kurs bestimmen zu müssen und nicht einfach den USA zu folgen, die sich in dieser Frage passiv verhalten. Zum anderen besteht größte Uneinigkeit darüber, wieviel Migration überhaupt erwünscht ist und zugelassen werden sollte. Während Wissenschaftler aus Deutschland vorrechnen, die wohlhabende Mitte des Kontinents brauche bis 2050 15 Millionen neue „Fachkräfte“ aus Afrika und Asien, bekommt Großbritannien langsam ein Platzproblem und wiederum andere Staaten wie Tschechien sind lediglich dazu bereit, ein paar Hundert Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen, und betonen, daß man dabei an ethnische Tschechen aus der Ostukraine denke.
Die Einwanderungsbefürworter und -kritiker in den einzelnen Ländern haben jedoch eins gemeinsam: Beide Lager haben sich in den letzten Jahrzehnten darauf konzentriert, in emotional geführten Debatten innenpolitische Strategien zu entwickeln, um mit den globalen Massenwanderungen fertig zu werden. Den Blick nach außen aber haben nahezu alle vernachlässigt. Die Befürworter konnten erfolgreich ihre Utopie einer multikulturellen Gesellschaft skizzieren, die versprochene Vielfalt dann aber nie realisieren. Seitdem bemühen sie sich darum, die neuen Menschenmassen zu verwalten und die Integration in eine individualistische Mehrheitsgesellschaft voranzutreiben. Die Kritiker dagegen hatten eigentlich immer recht mit ihren Befürchtungen hinsichtlich steigender Kriminalität, Problemen an den Schulen sowie der Überfremdung ganzer Stadtteile, doch sie konnten sich zumindest in den größten europäischen Staaten nie mit ihrer Position durchsetzen. Ein Grund dafür dürfte die mangelnde Attraktivität ihrer Position sein. Den Einwanderungskritikern der letzten Jahrzehnte ist es nie gelungen, der Utopie der multikulturellen Gesellschaft eine eigene, heimatverbundene Vision einer „besseren“ Welt entgegenzustellen.
Gerade jetzt, wo der Blick zwangsläufig nach außen gerichtet werden muß, bietet sich dafür jedoch eine neue Gelegenheit. Die Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis, daß es nicht ausreicht, an der eigenen Grenze eine ausreichend hohe Mauer zu bauen oder exzessiv Kontrollen durchzuführen, damit Ausländer gar nicht erst die Möglichkeit erhalten, einwandern zu können. Ein Blick in die spanische Exklave Melilla zeigt, daß die jungen, illegalen Einwanderer aus Afrika und anderen Erdteilen jede noch so hohe Mauer und jede noch so gefährliche Grenzanlage überwinden werden. Es ist ihnen dabei auch egal, wie hoch die Gefahr ist, bei ihrer „Flucht“ zu sterben. Die Attraktivität des Zieles und der erwartete Lohn sind einfach zu hoch. Wer Masseneinwanderung ernsthaft und langfristig verhindern will, muß aus diesem Grund die Welt bewohnbarer machen. Es ist zu kurz gedacht, auf die Millionen potentiellen Einwanderer der nächsten Jahre, die nach Europa wollen, nur mit Sicherheitsmaßnahmen und nie ganz ernstgemeinten, weil utopischen Integrationsbemühungen zu reagieren.
Erstaunlicherweise ist derzeit viel die Rede davon, daß die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Migranten bekämpft werden müssen. Das ist richtig, doch die Lageanalysen und Lösungsansätze gehen weit auseinander. Am einfachsten machen es sich diejenigen, die glauben, die Idee der Menschenrechte, Entwicklungshilfe und militärische Interventionen könnten helfen. Genau diese Strategien sind in den letzten Jahrzehnten gescheitert, was vor allem daran liegt, daß die universalistische Ideologie dahinter keine Rücksicht auf andere Kulturen nimmt und dazu neigt, sich viel zu häufig dort einzumischen, wo es überhaupt keinen Sinn ergibt oder sogar kontraproduktiv ist.
Staaten, die einer solchen Ideologie folgen, überschätzen sich zumeist maßlos. In seinem Buch über Geopolitik schreibt der Publizist Gereon Breuer: „Nur dann, wenn Staaten sich nur dort einmischen, wo das ihren Interessen dient und sich überall sonst heraushalten, kann ihr weltpolitisches Engagement erfolgreich sein. Ironischerweise fällt es gerade denjenigen, die vehemente Verfechter der Frieden schaffen ohne Waffen-Ideologie sind, besonders schwer, diesen banalen Grundsatz zu verstehen.“ii Doch auch diejenigen, die militärische Einsätze befürworten, sollten sich selbstkritisch hinterfragen. Seth Jones und Martin Libicki kommen in ihrer Untersuchung How Terrorist Groups Endiii von 2008 zu dem Ergebnis, daß seit 1968 nur bei sieben Prozent der betrachteten 648 Terrorbewegungen ein militärischer Erfolg erzielt werden konnte. In Nordafrika und im Erweiterten Mittleren Osten geht nun die Wahrscheinlichkeit, mit militärischen Mitteln erfolgreich zu sein, gegen Null, weil überhaupt keine gesellschaftlich relevanten Gruppen in Aussicht sind, die die Macht übernehmen könnten.
Aus diesem Grund ist aber auch eine friedliche Lösung undenkbar. Wenn die Vereinten Nationen Libyen einen Sechs-Punkte-Plan für einen demokratischen Neuanfang mit Verfassung und Wahlen vorlegen, ist das naiv und lächerlich. Auch der Vorschlag des Historikers Michael Wolffsohn in seinem neuen Buch Zum Weltfriedeniv, die Staaten aufgrund der ethnischen und religiösen Bruchlinien föderalistischer zu gestalten, klingt zwar erst einmal gut und richtig, kann aber nur schwer von außen, also von Europa oder dem Westen, gesteuert werden. Vielmehr müssen die Völker ihre Selbstbestimmung in langen, blutigen Kämpfen selbst erringen.
Für den Westen, der mit den unmittelbaren Folgen dieser Kämpfe in Form von Flüchtlingen, Terrorismus und extremistischer Propaganda konfrontiert wird, ist dies keine einfache Situation: Mischt er sich in die ethnischen, religiösen und sozialen Konflikte anderer Länder ein, produziert er im Zweifelsfall noch mehr Haß. Es ist bezeichnend, daß sich die Führungsriege der Terrormiliz „Islamischer Staat“ im US-Gefangenenlager Camp Bucca im Südirak kennenlernte und vernetzte. Viele Terroristen, die derzeit in Syrien und dem Irak Angst und Schrecken verbreiten, haben sich aufgrund des von den USA angeführten „Krieges gegen den Terror“ in Afghanistan und dem Irak erst radikalisiert. Schaut der Westen hingegen weg, muß er sich vorwerfen lassen, daß ihm die Menschenrechte in den Krisenländern egal sind. Nichtregierungsorganisationen spielen also häufig die Rolle des nützlichen Idioten, indem sie mit ihrer aufgeregten moralischen Intervention die Legitimation für die vom Westen geführten „gerechten“ Kriege gegen das Böse liefern. So oder so kommt es zu barbarischen Bürgerkriegen, die neben unvorstellbarem Leid für die einheimische Bevölkerung zu einer Massenproduktion von Flüchtlingen führen.
Die politischen Strategien des Westens, mit dieser Situation klarzukommen, werden also so lange scheitern, wie sie an der Utopie globaler Gerechtigkeit und dem derzeitigen Menschenrechtsbegriff festhalten. Sowohl dem globalen Gerechtigkeitsanspruch als auch den Menschenrechten, so wie sie von den Vereinten Nationen vertreten werden, fehlt der richtige Maßstab. Sie stellen Forderungen auf, die unrealistisch sind und – bei konsequenter Verfolgung – zu einem dritten Weltkrieg führen müßten, in dem sich der Westen mit seinen „Schurkenstaaten“ auseinandersetzt. In dem Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen finden sich zum Beispiel das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, ein Recht auf Arbeit, „Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ und das „Recht auf Erholung und Freizeit“. In Artikel 28 heißt es schließlich: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“
Einmal abgesehen davon, daß die Meinungsfreiheit selbst in Österreich und Deutschland nicht „voll verwirklicht“ ist, müßten die sich selbst als zivilisiert empfindenden Staaten harte Konsequenzen gegen weit mehr als einhundert Staaten verhängen, weil dort die Menschenrechte den aufgestellten Ansprüchen der Vereinten Nationen nicht einmal annähernd entsprechen. Das jedoch ist unmöglich und wäre auch falsch. Jedes Land hat seine eigenen Traditionen und muß selbst eine eigene kulturell-politische Kultur entwickeln, die zu ihr paßt, und Fortschritte erkämpfen. Hier belehrend von außen einzugreifen, führt nur zu noch viel schwerwiegenderen Problemen, an denen dann im Zweifelsfall auch der Westen „partizipieren“ muß.
Amnesty International prangert in 112 von 159 untersuchten Staaten Folter und Mißhandlung an. In 101 Staaten gebe es Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Die Nichtregierungsorganisation besitzt die Arroganz, die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder einzig mit dem Argument zu rechtfertigen, Menschenrechte machten an Grenzen nicht halt. Doch anstatt die eigenen größenwahnsinnigen Forderungen im wahrsten Sinne des Wortes zu erkämpfen, biegt Amnesty auf dem halben Wege wieder um, indem die NGO fordert, Europa müsse mehr Flüchtlinge aufnehmen, damit die Menschen, deren Rechte mit Füßen getreten werden, zu uns kommen können. An dieser Stelle muß man sich entscheiden: entweder die Konflikte im Verursacherland lösen zu wollen oder diesem schwierigen Vorhaben den bequemen Weg vorziehen und eine großzügigere Flüchtlingsaufnahme in Europa zu fordern. Die internationale Ordnung ist bisher in keiner Weise in der Lage, die proklamierten Rechte und Freiheiten auch durchzusetzen. Der Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen ist damit ein zahnloser Tiger, der einzig dazu führt, daß weltweit Millionen von Menschen schnell einen Grund finden können, um in die Staaten des Westens einzuwandern.
Es gibt nun für Europa eine historische Chance, seine erfolglose Weltpolitik mit den vielleicht gut gemeinten, aber in keiner Weise zielführenden Mitteln der Menschenrechte, Entwicklungshilfe und militärischen Interventionen zu überdenken, da sich die USA langsam, still und leise von der großen Weltinsel (Europa, Asien, Afrika) verabschieden. Der Versuch der noch vor kurzem als Supermacht aufgetretenen USA, der gesamten Welt Frieden, Menschenrechte, Freiheit und Demokratie zu bringen, ist spätestens mit dem Debakel des seit 2001 geführten „Krieges gegen den Terror“ gescheitert. Die klugen Köpfe in Amerika und die sicherheitspolitischen Berater der US-Regierung wissen das. Barack Obama hat bereits vor einigen Jahren den Pazifikraum in der geopolitischen Prioritätenliste auf Platz eins gesetzt. Amerika geht seitdem nur noch mit halber Kraft in die Kriege des Erweiterten Mittleren Ostens. Vorbei sind die Zeiten der großen militärischen Schläge der Ära Bush. Die derzeitige Strategie, lediglich mit Waffenlieferungen an Verbündete und vereinzelten Luftangriffen die „Terroristen“ zu bekämpfen, befördert jedoch die Tendenzen zu einem Weltbürgerkrieg nur noch weiter.
Der libertäre Politiker Ron Paul schrieb im Februar zum aktuellen Kampf gegen den Islamischen Staat, daß dieser zwar bereits fast zwei Milliarden Dollar gekostet habe, aber die USA keine Erfolge vorweisen könnten. Im Gegenteil: „Ein neuer, weltweiter Krieg gegen ISIS wird vermutlich nur dazu dienen, den Dschihadisten weitere Rekruten in die Arme zu treiben.“ Die gut 4.000 Luftangriffe in den letzten Monaten haben einzig und allein dazu geführt, daß sich mehrere Zehntausend ausländische Kämpfer dem Islamischen Staat angeschlossen haben.
Nachwirkungen des damit angestellten Chaos wird vor allem Europa zu spüren bekommen. Hunderttausende Flüchtlinge sind schon auf dem Weg nach Europa, erste Terroranschläge auf europäischem Boden hat es bereits gegeben und auch die islamistische Propaganda schwappt immer mehr auf unseren Kontinent über. Die europäischen Nationalstaaten und die EU können diese Verkettung von universalistischer Weltpolitik und Masseneinwanderung nur aufbrechen, wenn sie ihre blinde Gefolgschaft gegenüber den USA beenden und ihre Außenpolitik daran ausrichten, was dem Schutz eigener Interessen am meisten dient. Aus finanziellen und demographischen Gründen werden die USA Europa mittelfristig mit den Problemen auf der Weltinsel allein lassen. Europa wird sich künftig selbst um das kümmern müssen, was vor seiner Haustür geschieht.
Das kann für Europa eine historische Chance sein, da man den Rückzug der einstigen Supermacht dazu nutzen könnte, eine eigene und vor allem klügere Außenpolitik zu betreiben. Es besteht jedoch auch eine große Gefahr: Sollten unsere Politiker ihre naive Weltsicht beibehalten, droht das Chaos, das wir derzeit in Afrika und im Erweiterten Mittleren Osten beobachten müssen, auch bei uns auszubrechen. Der Beweis, daß die Schwachen von der Globalisierung profitieren und zum Westen aufschließen, muß erst noch erbracht werden. Genausogut kann es passieren, daß sich der wohlhabende Westen an die ökonomisch schwächere und politisch instabilere Umgebung im negativen Sinne anpaßt.
Damit dies nicht passiert, ist eine außenpolitische Neuausrichtung notwendig, die es sich zum Ziel setzt, die Welt im eigenen Interesse bewohnbarer zu machen, so daß möglichst viele Menschen gerne in ihrer Heimat leben. Zu erreichen ist dies jedoch gerade nicht durch einen Dauer-Interventionismus. Vielmehr ist es erforderlich, genau abzuwägen, wo sich ein Einmischen tatsächlich lohnt und welche Ziele Europa dabei verfolgen sollte. Grundvoraussetzung dafür ist eine richtige Lageeinschätzung der Krisenregionen. Wenn man etwa im Erweiterten Mittleren Osten und Nordafrika lediglich den „islamistischen Terrorismus“ als Problem wahrnimmt, ergibt sich fast zwangsläufig die Strategie, diesen einfach militärisch ausrotten zu wollen.
Die Lage ist jedoch komplexer: Der deutsch-israelische Publizist Chaim Noll hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es inner-islamische Interessengegensätze sind, die den Erweiterten Mittleren Osten nicht zur Ruhe kommen lassen. Gemeint ist der bis ins siebte Jahrhundert zurückverfolgbare Bruch zwischen Schiiten und Sunniten. Noll betont: „Da die Islamisierung des Mittleren Ostens zunimmt und sich jede Fraktion in den ihr eigenen Fanatismus hineinsteigert, nimmt auch die Erbitterung zu, in der Staaten und kämpfende Milizen gegeneinander Krieg führen.“v
Es ergebe bei der Vielzahl an unterschiedlichen, konkurrierenden, sich spaltenden bzw. manchmal auch kooperierenden Milizen keinen Sinn, sich einen Feind wie den Islamischen Staat auszusuchen, ihn zu bekämpfen und dabei zu verpassen, daß sich an anderer Stelle schon neue gefährliche Allianzen gebildet haben. So aber agiert der Westen bisher und heizt damit die Konflikte nur noch an.
Zu den Bürgerkriegen im Irak und Syrien schreibt Noll deshalb: „In beiden Ländern konnte das Phantasma ‚Nationalstaat‘ immer nur durch brutale Unterdrückung großer Bevölkerungsteile aufrechterhalten werden, mit westlicher Unterstützung, um die fragilen, fragwürdigen Gebilde als Wirtschafts- und Investitionsräume halbwegs intakt zu halten.“ Was wir derzeit dort mit ansehen müssen, wird deshalb mit den Wörtern „Bürgerkrieg“ und „Terrorismus“ nur ungenügend umschrieben. Vielmehr erleben wir die „Rückkehr zu den in der Region seit Jahrhunderten überlieferten Kampf- und Herrschaftsstrukturen“, weil die Gesellschaften im Kern immer tribalistisch blieben. Der libanesische Journalist Hisham Melhem bringt das Dilemma für den Westen treffend auf den Punkt. In einem Aufsatz mit dem Titel „Die Barbaren sind unter uns“, der letztes Jahr erschienen ist, betont er, daß der Extremismus in der arabischen Welt „sowohl von Herrschern als auch von Oppositionellen“vi ausgehe.
Vierfache Abkehr
Wer die Kämpfe in der arabischen Welt für sich entscheiden kann, liegt nicht in europäischer Hand, doch trotzdem können wir durch eine kluge Vertretung eigener Interessen zu einer langfristigen Eindämmung der Gewalt und Migrationsströme beitragen. Unsere Aufgabe muß es dabei sein, Prinzipien für eine Weltpolitik zu entwickeln, die wirtschaftliche und menschliche Vernunft vereint. Das gelingt nur, wenn die historisch-demographische Situation der Völker beachtet wird. Ganz konkret sollte es um folgende Punkte gehen:
Menschrechte
Statt der Menschenrechte brauchen wir ein menschliches Minimum. Dies müßte sich aus den biologischen Bedürfnissen, die jeder Mensch tatsächlich gleich hat, ergeben: Unabhängig von einer staatlichen Zugehörigkeit muß jeder Mensch die Möglichkeit haben, sich frei bewegen, ernähren und fortpflanzen zu können. Alles, was darüber hinausgeht, wie z. B. die Religionsfreiheit, kann nur ein Staat für seine Bürger garantieren und läßt sich realistisch betrachtet nicht global durchsetzen. Für die Bewegungsfreiheit bedeutet dies etwa: Es ist ein Verbrechen, friedliche Menschen auf engstem Raum einzusperren. Begeht eine Regierung ein solches Verbrechen, muß die zivilisierte Staatenwelt dagegen – notfalls militärisch – vorgehen. Die Bewegungsfreiheit ist dann gewährleistet, wenn Staaten ihre Bürger nicht einsperren und ihnen jederzeit die Ausreise erlauben. Die zivilisierte Staatenwelt muß sicherstellen, daß jeder Flüchtling, der seine Grundbedürfnisse gefährdet sieht, in einem anderen (Nachbar-)Land um Asyl bitten kann. Das heißt jedoch nicht, daß diesen Flüchtlingen alle Optionen offenstehen müssen und sie sich ein Land ihrer Wahl für ihre Flucht aussuchen können. Vielmehr ergibt sich eine Pflicht für die aufnehmenden Staaten: Wer Flüchtlinge mit berechtigten Asylgründen aufnimmt, sollte schleunigst dafür sorgen, daß die Mißachtung des menschlichen Minimums in ihrem Heimatland beendet wird.
Militärische Interventionen
Folgt man den Erkenntnissen des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschungvii, dann ist es jedoch sehr zu bezweifeln, ob es gelingen kann, die Anzahl der Kriege in den nächsten Jahren zu verringern. Seit 1945 zeigt sich ein sehr einfacher Zusammenhang: mehr Menschen, mehr Kriege und deshalb tendenziell auch mehr Flüchtlinge. Wer also in guter Absicht Kriege verhindern und eindämmen möchte, muß zunächst einmal Maßnahmen gegen die Überbevölkerung ergreifen. Wenn sich immer mehr Menschen unseren Planeten teilen müssen, werden sie immer irgendeinen Grund finden, gegeneinander Krieg zu führen. Es scheint aktuell unmöglich zu sein, allen 7,3 Milliarden Menschen Frieden, Freiheit und Demokratie zu bringen. Statt dessen sollten wir darauf achten, daß ein menschliches Minimum überall auf der Welt eingehalten wird. Im Klartext heißt das: Kriege führen wir nur, wenn wir damit irgendwo einen Völkermord verhindern können. Wir mischen uns jedoch nicht in Bürgerkriege ein – auch nicht mit Waffenlieferungen an irgendeine Seite. Regime, die wir aus ideologischen Gründen ablehnen, lassen wir gewähren. In Kriegsfragen müssen die Begriffe „Feind“ und „Verbrecher“ auseinandergehalten werden, wie der Staatsrechtler Carl Schmittviii es formuliert hat. Wir dürfen die Welt also nicht in „gut“ und „böse“ einteilen, denn eine Moralisierung internationaler Politik führt immer dazu, daß mehr Kriege geführt werden als dringend notwendig sind.
Entwicklungshilfe
Von „Moral“ wird auch immer viel gesprochen, wenn es um Entwicklungshilfe für schwächere Länder geht. Die Strategie, die unterste Milliarde der Weltbevölkerung mit Entwicklungshilfe aus der Armut zu führen, ist jedoch auf ganzer Linie gescheitert. Seit dem Ende des Kolonialismus hat sich die Lage in Afrika nicht verbessert, sondern zugespitzt. Ghana etwa hatte 1957, im Jahr seiner Unabhängigkeit von Großbritannien, ein in etwa ähnlich hohes Pro-Kopf-Einkommen wie Spanien und war schuldenfrei. Trotz hoher Hilfszahlungen wurde das Land danach „systematisch ruiniert“ (Volker Seitzix) und muß sich nun mühsam wieder den alten Wohlstand zurückerkämpfen. In Nigeria sieht es noch schlimmer aus: Noch vor 30 Jahren gehörte das Land zu den 48 reichsten Staaten weltweit, heute zählt es zu den 25 ärmsten. Ein Grund: Nigerias Politiker haben sich seit 1960 mit geschätzten 500 Milliarden US-Dollar selbst bereichert. Wenn Entwicklungshilfe fließt, entsteht in den Nehmerländern eine „Souveränitätsrendite“ (Paul Collierx). Das heißt, es wird lukrativ, die Macht mittels eines Putsches an sich zu reißen. Hauptproblem aus europäischer Sicht ist darüber hinaus, daß Entwicklungshilfe an politisch instabile Staaten gezahlt wird, dabei aber die Kontrolle ausbleibt, ob das Geld oder die Sachleistung auch wirklich sinnvoll verwendet wird. Wenn überhaupt sollte der Westen nur Entwicklungshilfe an stabile Regierungen zahlen, die etwas gegen die Überbevölkerung unternehmen und abgelehnte illegale Einwanderer aus Europa wieder bei sich aufnehmen.
Westliches Vorbild
Die Abkehr von einer Politik der Menschenrechte, Entwicklungshilfe und militärischen Interventionen muß auch eine Änderung der verfolgten Ziele in den Krisenregionen nach sich ziehen. Bisher ging es den USA und Europa darum, überall auf der Welt Nationalstaaten nach westlichem Vorbild zu etablieren, die in das eigene Wirtschaftsnetzwerk integriert werden können. Die Idee dahinter mißachtete die Vielfalt ethnisch-religiöser Gemeinschaften und Lebensentwürfe auf der Welt. Aus diesem Grund weist der Ansatz von Michael Wolffsohn, Staaten bestmöglich zu föderalisieren, in die richtige Richtung. Massenmigrationen sind langfristig nur zu verhindern, wenn die Menschen in den ärmeren Ländern durch ein nachhaltiges Wachstum in ihrer Heimat glücklich werden können und es dort eine stabile politische Ordnung gibt. Das muß nicht zwingend eine Demokratie oder ein Nationalstaat nach westlichem Vorbild sein. Die politische Ordnung sollte vielmehr zu den Eigenheiten der Völker passen.
Anmerkungen:
i Vgl. Di Nicola, Andrea/Musumeci, Giampaolo: Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen. München 2015. Lesenswert ist dieses Buch, weil die Autoren nicht nur mit ermittelnden Staatsanwälten und Flüchtlingen gesprochen haben, sondern auch mit vielen kleinen und einigen größeren Drahtziehern im „Schlepperbusiness“.
ii Breuer, Gereon: Geopolitik. Das Spiel nationaler Interessen zwischen Krieg und Frieden. Chemnitz 2015. S. 84.
iii Jones, Seth G./Libicki, Martin C.: How Terrorist Groups End. Lessons for Countering al Qa’ida. RAND Corporation, Santa Monica 2008.
iv Wolffsohn, Michael: Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf. München 2015.
v Noll, Chaim: Sharia und Smartphone: Islamischer Aktivismus als Reflexion westlicher Muster. Online abrufbar unter: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/sharia_und_smartphone_islamischer_aktivismus_als_reflexion_westlicher_muste (2015-05-27)
vi Melhem, Hisham: Die Barbaren sind unter uns. In: Die Zeit 48/2014.
vii Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK): Conflict Barometer 2014. Heidelberg 2015.
viii Vgl. Schmitt, Carl: Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. 5. Aufl., Berlin 2011.
ix Vgl. Seitz, Volker: Afrika wird armregiert. Oder wie man Afrika wirklich helfen kann. München 2012.
x Vgl. Collier, Paul: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. München 2008 .