Der Schriftsteller Umberto Eco stellte treffend fest, daß das Wort „Faschismus“ zu einer Synekdoche geworden ist, d. h. in diesem Falle: man benutzt diesen Terminus, der eigentlich eine spezifische Weltanschauung bezeichnet, als Oberbegriff für verschiedenste Ideologien, denen man aufgrund ihres diabolischen Wesens das Übelste des Üblen anhängen möchte, anscheinend um zu zeigen, daß das absolut Böse hier in neuer Verkleidung fröhliche Urständ feiert. Denn insbesondere linke Ideologen, denen selbst der deutsche Nationalsozialismus irrtümlicherweise noch als Faschismus erscheint, haben weitgehend durchgesetzt, daß von „Faschismus“ immer dann die Rede ist, wenn irgendwo und irgendwann ein Regime oder eine Gruppierung mörderisch-barbarisch auftritt: einerlei ob Saddam Husseins Diktatur oder diverse Mudschahedin-Gruppen Afghanistans. Nun wird auch das Wüten muslimisch-sunnitischer Terroristen in Syrien und im Irak als „faschistisch“ deklariert. Das verhindert eine konkrete Auseinandersetzung mit konkreten Phänomenen.
Grotesk, aber erfolgreich: „Islamfaschismus“, „Islamofaschismus“ oder „islamischer Faschismus“ sind Neologismen, die seit etwa einer Dekade Verbreitung finden. Mitglieder der US-Regierung unter George W. Bush fanden ebenso Gefallen an ihnen wie der Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der linke Autor Christopher Hitchens, der „antideutsche“ Wiener Publizist Stephan Grigat, bundesdeutsche Kurdistan-Solidaritäts-Komitees oder das freiheitliche Aushängeschild Heinz-Christian Strache, um einige der bekannteren Beispiele zu nennen. Hamed Abdel-Samad, Intimus von Henryk M. Broder, gelang 2014 mit seinem Buch Der islamische Faschismus1 gar ein Bestseller, der aufgrund seiner Reichweite in diesem Aufsatz zu einer Auseinandersetzung führen muß. Bei dem deutsch-ägyptischen Journalisten wird wie bei keinem zweiten deutlich, daß die große Unklarheit, was Faschismus eigentlich in seiner Essenz darstellt und meint, zu solcherlei Begriffsverwirrungen führen muß.
Zunächst gilt es daher für einen Moment alle gängigen Stereotypen, die „den“ Faschismus bzw. alle seine mannigfaltigen Unterströmungen bedrängen, zu vergessen, und sich an einen verstandesmäßigen Forscher, Zeev Sternhell, zu halten. Der israelische Historiker definierte in seinem Opus magnum: „Die faschistische Ideologie, wie sie um die Jahrhundertwende entstand und in den zwanziger und dreißiger Jahren fortentwickelt wurde, ist das Produkt der Verschmelzung des organischen Nationalismus mit der antimaterialistischen Marxismusrevision, sie drückt einen revolutionären Willen aus, der sich auf die Ablehnung des Individualismus liberaler wie marxistischer Prägung gründet, und sie verkündet die Prinzipien einer neuen, eigenständigen politischen Kultur.“2 Außerdem war der Faschismus in seinen Wurzeln ausgesprochen modernistisch, vitalistisch, elitär, nicht aber zwingenderweise rassistisch oder antisemitisch wie die Hitlersche Variante des Nationalsozialismus. Daher heißt es im angeführten Standardwerk: „Der Faschismus kann keineswegs mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden.“3
Es gäbe noch vieles zu ergänzen über essentielle faschistische Ingredienzien wie den Korporatismus oder das Spannungsverhältnis Klassizismus–Futurismus, über die dezidiert europäische Herkunft und Prägung der faschistischen Ideologiebausteine sowie über die (autoritäre, nicht: totalitäre) Regimephase des realexistierenden italienischen Faschismus und Hannah Arendts entsprechende Analysen.4 Aber bereits dieser kurze Abriß ist ausreichend, um Abdel-Samads Verknüpfung des Faschismusbegriffs mit dem islamischen Fundamentalismus irritierend zu finden. Informative Passagen über die Geschichte der Muslimbruderschaft, die in Ägypten unter Mohammed Mursi kurz regieren konnte, gehen unter in einem Potpourri aus Faschismus-Vorwürfen. Alles Faschisten: sunnitische Extremisten, wahabitische Eiferer, schiitische Nationalisten, säkulare Staatsführer, der Iran ohnehin. Abdel-Samad hat keinerlei Vorstellung, was Faschismus meinen könnte, und verbindet damit daher schlicht und ergreifend Terror, Massenmorde und Dogmatismus. In der Tageszeitung Die Welt5 definiert er Faschismus als „politische Religion, mit Wahrheiten, mit Propheten, mit einem charismatischen Führer“, getragen von „Rachlust“ und der betriebenen „Entmenschlichung der Feinde“. Seine Schlußfolgerung lautet nicht etwa, daß diese Zusammenschau wie keine zweite den realen Stalinismus oder Hitlerismus – nicht jedoch „den“ Faschismus – treffe, sondern er beharrt darauf, daß dies alles in der Urgeschichte des Islam zu finden sei, weshalb er die Verknüpfung Faschismus – politischer Islam für vernünftig hält.
Das Erfolgsbuch läuft in der Konsequenz auf die abenteuerliche wie publikumswirksame These hinaus, die Geschichte des Islam, beim Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert begonnen, sei eine Geschichte des Faschismus. Zu verdeutlichen ist: hier wird eine genuin europäische, hierarchisch-elitäre, staatsorientierte und nationalistische Weltanschauung wie der Faschismus mit dem überwiegend in arabischen Ländern reüssierenden fundamentalistischen Islam gleichgesetzt, der erklärtermaßen egalitär, antistaatlich6 und antinational-universalistisch ist, mithin die exakt entgegengesetzten Schwerpunkte setzt.
Aber nicht nur der laizistisch-liberale Deutsch-Ägypter mit Hang zum US-affinen und häufig islamfeindlichen „Neokonservatismus“ hängt solchen Gleichsetzungen in bezug auf Faschismus/Islamismus an. Auch in der radikalen politischen Linken – jedenfalls auf jenem Flügel, wo man auf entsprechende neokonservative und westlerische Deutungsmuster zurückgreift – stößt man auf sie. Der regelmäßig in der als „antideutsch“ geltenden Wochenzeitung Jungle World publizierende Volker Weiß vertrat im Szene-Organ Antifaschistisches Infoblatt (AIB)7 eine ähnliche Auffassung: Islamismus und Faschismus wiesen, so der Dozent der Universität Hamburg, „historisch, ideologisch und strukturell deutliche Parallelen auf“. Beide seien Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, dem Wesen nach radikalkonservativ, kämpften mit Mitteln der Moderne gegen die Moderne und pflegten einen ähnlichen Stil der Agitation und der Gewalt. Daher sei es zutreffend, für Mörderbanden vom Schlage des IS den Begriff Faschismus anzuwenden.
Gelten hier grundsätzlich die gleichen Einwände wie gegen Abdel-Samads Einlassungen, so muß hier zusätzlich ergänzt werden, daß Weiß die grundsätzliche Staatsfeindschaft (Staat hier im abendländischen Verständnis) der islamischen, meist sunnitisch-wahabitischen Ideologen gänzlich mißdeutet. Er meint gar, die Vorstellung des islamischen Kalifats sei „eine klassische Reichsüberlieferung, in der der religiöse Mythos der Vergangenheit mit der politischen Realität der Gegenwart zur muslimischen Nation verschmolzen werden soll“. Weiß vermengt Richtiges mit Falschem, was an späterer Stelle ebenso kursorisch zu diskutieren sein wird wie die von ihm vorgebrachte „Verschränkung von religiösen und nationalistischen Inhalten“.
Noch absonderlicher äußert sich der Doyen der linken Faschismusforschung, Wolfgang Wippermann, der zwar zurecht den Begriff Islamfaschismus ablehnt, da dieser pauschal eine Weltreligion mit einer politischen Ideologie verquicke, der aber in der Folge nicht etwa auf die doch recht naheliegende Idee kommt, daß islamischer Fundamentalismus zuallererst islamischen Fundamentalismus darstellt. Wippermann plädiert statt dessen ernstlich dafür, den extremen Salafismus „fundamentalistischen Faschismus“ zu nennen.8 In dieser Begriffsbestimmung bleibt von IS, Boko Haram und Co. nicht einmal ihr sunnitisch-islamischer Anspruch übrig; dieser wird vorsätzlich ausgesondert. Die muslimischen bzw. sunnitischen „Gotteskrieger“ sind sodann lediglich besonders radikale oder eben fundamentalistische Faschisten. Erst einmal so simplifizierend vorgegangen, bleibt die binäre Schwarz-Weiß-Sicht der linksdogmatischen Welt mit dem unverzichtbaren Feindbild „Faschismus“ auch im 21. Jahrhundert mühelos erhalten – Wippermann und Co. können nicht ohne ihren Fetisch, und das antifaschistische Ressentiment fordert das Aufrechterhalten alter Stereotypen ein. Dabei gibt es weit mehr gute Gründe, Faschismus und islamischen Fundamentalismus – besser: Neofundamentalismus9 – deutlich voneinander zu scheiden, als eine Synthese aus beidem zu propagieren. Denn was macht islamischen Neofundamentalismus wesensgemäß aus, ist er schlicht als „Islamismus“ zu bezeichnen? Worin unterscheidet sich der islamische Neofundamentalismus von faschistischen Ideologemen?
In einem Beitrag für die Neue Ordnung10 hat der Verfasser unter Bezugnahme auf Forschungsergebnisse des französischen Islamwissenschaftlers Olivier Roy zwei idealtypische radikale Bewegungen innerhalb des höchst heterogenen Islam voneinander geschieden. Es sind dies der stärker politisch ausgerichtete „Islamismus“ und der rein religiös argumentierende „Neofundamentalismus“, die unterschiedliche Ideologiefragmente aufweisen, divergierende Zielsetzungen besitzen und sich in ihren realen Begegnungen zum Teil offen und, seit 2013 vor allem in Syrien, militant gegenüberstehen. Dort kämpfen an der Seite der legitimen syrischen Regierung unter Präsident Bashar al-Assad nicht nur alawitische11 und christliche Selbstverteidigungseinheiten, sondern insbesondere auch libanesische Hisbollah-Verbände und iranische Milizen, die beide als (schiitische12) „Islamisten“ gelten können, gegen (sunnitische13) Neofundamentalisten der Al-Nusra-Front und des „Islamischen Staats“. Der eigentliche Islamismus – Marke Iran oder Hisbollah (Libanon) – stellt sich nach Roy nicht nur als religiöse Erscheinung dar, sondern darüber hinaus als politische Ideologisierung des Islam nach dem Vorbild großer politischer Doktrinen des 20. Jahrhunderts wie Kommunismus und Faschismus (nicht: Nationalsozialismus). Ernst Nolte spricht zumindest für diese Phänomene zutreffend vom Islamismus als dritter „Widerstandsbewegung“ gegen die westliche, kapitalistische Moderne.14 Weitergehend wurde in der Neuen Ordnung zu diesem Komplex dargelegt: „Die religiöse Sphäre einer islamischen Gesellschaft in einem konkreten Staatsgebiet wollen Islamisten in der Regel unter die wechselseitige Aufsicht einer politischen Autorität stellen; die Institution ‚Staat‘ wird dabei nicht als ‚westliches Konstrukt‘ [wie bei Neofundamentalisten] angesehen, sondern als angemessene Art und Weise, die Herrschaft über eine Nation zu sichern. […] Die Konzentration islamistischer Bestrebungen auf die Regierungsübernahme innerhalb einer staatlichen Ordnung gehe einher mit einer Nationalisierung der eigenen Weltanschauung […].“15 Für Roy sind islamistische Bewegungen demgemäß potentiell auch nationalistisch und erkennen, anders als Neofundamentalisten, Völker und regionale Besonderheiten an, beziehen sich sogar ausdrücklich auf diese, sind verwurzelt in der entsprechenden Landeskultur und daher prinzipiell koalitionsfähig mit nicht-islamischen Parteien und Gruppen, weil sie nicht nur religiöse Allüren aufweisen, sondern zugleich politische oder gesamtstaatliche Ansprüche stellen.16 Islamisten seien demzufolge auch ausdrücklich politisch, richteten ihre Programme nach nationalen Gegebenheiten aus, verfolgten konkrete Wirtschafts- und Sozialprogramme und seien in religiöser Hinsicht zwar an einer strengen Gläubigkeit der Bevölkerung als Garantie für loyale, moralisch verläßliche Bürger interessiert, hegten aber keine Pläne einer konstanten Radikalisierung der Individuen, weil dies mit einer Gefahr der Infragestellung der Legitimität des eigenen irdischen Herrschaftsanspruch korrelierte. Neofundamentalisten hingegen lehnten bereits die bloße Akzeptanz des (westlichen) Prinzips der Staatlichkeit als Organisationshülle des Gemeinwesens und die Politisierung des Islam als „unislamisch“ und häretisch ab. Recht und Ordnung könnten nur von Gott kommen; wer irdische Gesetze der Scharia „beigesellt“, sündige gegen sie und gelte als „abtrünnig“ – ergo als Freiwild. Dementsprechend erfährt man von IS-Propagandisten viel über zu tötende Bevölkerungsgruppen, über Strafformen in ihrem Machtbereich, aber nichts über die in der Zukunft anvisierte politische oder ökonomische Form eines tatsächlichen Islamischen Staats. Alleiniges Ziel ist die Unterwerfung oder, bei Widerstand, die Ausrottung der Feinde sowie die globale Einführung des islamischen Rechtssystems, der Scharia, in seiner denkbar archaischsten und erbarmungslosesten Auslegung.17
Der (sunnitisch-wahabitische) Neofundamentalismus, also die Ideologie des Islamischen Staats und der ihm ähnelnden Gruppierungen, verwirft (trotz des „Staats“ im Namen18) den Weg der Staatskontrolle zugunsten eines rigiden Modells der Religion, die diesseitig ausgerichtet ist und als die strikte Anwendung der Scharia definiert wird. Im Fokus der Propagandisten steht dabei – und daher irrt sich der zitierte Volker Weiß schon begrifflich grundsätzlich – keine tatsächliche Nation mehr („Der Anspruch von IS ist schließlich global.“19), sondern das durch die Folgen der Globalisierung entwurzelte Individuum in den postmodernen Gesellschaften, das sich der Scharia von der Geburt bis zum Tod zu unterwerfen habe.20 Die von Weiß diagnostizierten und als Argument für die Wesensverwandtschaft mit dem Faschismus bemühten „ethnisch-religiöse[n] Homogenisierungen“ sind im multiethnischen IS-Kalifat nicht denkbar und nicht gewollt; was dort zählt, ist die Zugehörigkeit zur „wahren“ Religion unabhängig von ethnokultureller Herkunft. Es verwundert daher nicht, daß Tausende Konvertiten aus der ganzen Welt, speziell auch aus Europa, in die Reihen der IS-Banden strömten und strömen. Neben eifernden autochthonen Westeuropäern orientieren sich auch verstärkt Migranten der zweiten und dritten Einwanderergenerationen an der salafistischen Islamauslegung. Durch die (ökonomische) Globalisierung und daraus resultierende Migrationsströme profitiert der sunnitisch-wahabitische Neofundamentalismus als rekrutierende Heilslehre. Entwurzelte, weil ihrer traditionellen Bindungen beraubte Individuen entgehen der Vereinzelung in den westlichen Gesellschaften durch freiwillige Unterwerfung. Die Islamisierung der jungen Menschen – sowohl Konvertiten als auch Migranten – vollzieht sich dabei radikaler als in einem genuin islamischen Kulturkreis. Wieder die Neue Ordnung: „Denn anders als beispielsweise in Syrien oder in Teilen Indiens, wo islamische Vorschriften mit landestypischen Traditionen verwachsen sind und der Islam ‚organisch‘ gelebt wird, vollzieht sich die Re-Islamisierung einer muslimischen Minderheit (vor allem in Westeuropa) durch die Aufnahme der ‚reinen‘, unverfälschten Lehre (durch Videos, Predigten, Fatwas), die dogmatisch aufgeladen und durch Haß auf die direkte Umgebung – Deutschland, Frankreich, Großbritannien usw. – geprägt ist.“ Olivier Roy, der feinsinnige Beobachter dieser Entwicklungen, sah schon vor fast zehn Jahren in diesem Trend zu entwurzelten und neu-islamisierten Individuen die größte sicherheitspolitische Gefahr. Nun hat sich diese Befürchtung bestätigt. Der IS wirkt wie ein transnationaler Staubsauger; er zieht all jene fanatisierten sunnitischen Muslime an, die – gleich wo sie leben – im sicherheitsstiftenden Bewußtsein morden wollen, Allah zu gefallen. Dementsprechend hat der IS nicht nur abertausende Einzelkämpfer nach Syrien und in den Irak gelockt, sondern mittlerweile rund 30 dschihadistische Terrorgruppen unter seinen Fittichen.21 Ein kurzer Blick auf die Genese dieses so erfolgreichen IS ist hilfreich, um besser einschätzen zu können, woher diese Organisation stammt, wer ihr Geleitschutz gab, und um zu resümieren, weshalb diese straff geführte Terrorgruppe vieles, aber nicht „faschistisch“ ist.
Als IS-Kämpfer 2014 an Häuser syrischer Christen schmierten, daß sie über ihre Bewohner aus dem nichts kommen würden, war das grundfalsch. Natürlich kommen straff organisierte und bestmöglich ausgerüstete Terrororganisationen nicht aus dem luftleeren Raum. Hinter ihnen stehen regionale und überregionale Akteure, die eigene geostrategische Ziele – etwa die Ausschaltung des „schiitischen Halbmonds“ (Iran, Irak, Syrien, Hisbollah/Libanon) zugunsten eines prowestlich-marktwirtschaftlichen, US-genehmen sunnitischen Blocks – verfolgen und die sunnitisch-neofundamentalistischen Kräfte gegen unliebsame Gegner – etwa das widerspenstige Syrien – als Rammbock nutzen (oder „mißbrauchen“, je nach Standpunkt). Karin Leukefeld, die für die linke Tageszeitung junge Welt ebenso wie Manuel Ochsenreiter für das rechte Nachrichtenmagazin Zuerst! regelmäßig unvoreingenommen und sachlich aus Syrien berichtet, weist darauf hin, daß die sogenannten Freunde Syriens – die sunnitischen Golfstaaten, die Türkei, die USA, Frankreich, Großbritannien – bereits seit 2011 (sunnitische) Stämme in den ländlichen Regionen Syriens bewaffnen und ausbilden, um sie gegen den säkularen Staat Assads einzusetzen.22 Parallel hierzu wurden oppositionelle Gruppen medial und propagandistisch aufgerüstet, um die Unzufriedenheit im syrischen Volk (einerlei ob sunnitisch, alawitisch, christlich etc.) zu schüren. Das Hauptaugenmerk lag aber bereits seit Januar 2012 auf direkten Waffenlieferungen. Leukefeld verweist auf Angaben der New York Times (März 2013), wonach Katar, Saudi-Arabien und das (mittlerweile gegen den IS entrüstete) Jordanien über die Türkei Waffen an sich formierende Rebellengruppen lieferten, die direkt oder über Umwege bei der Al-Nusra-Front und dem IS landeten. Das politische Amerika duldete, förderte oder ignorierte diesen Umstand. Dieses Spiel wurde (oder wird?) bis heute fortgesetzt, auch wenn US-Vizepräsident Joe Biden im Oktober 2014 bei einem Vortrag an der Harvard-Universität in einer vorläufigen Rückschau einräumen mußte, daß „unsere Verbündeten unser größtes Problem waren“. Der bemerkenswert offenherzige Biden nannte konkret „die Türken, die Saudis, die Emirate“, die „so entschlossen waren, den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad zu stürzen und einen Stellvertreterkrieg zwischen Sunniten und Schiiten zu initiieren“, daß sie gar „Hunderte Millionen US-Dollar und Tausende Tonnen Waffen an jeden lieferten, der gegen Assad kämpfen wollte“.23 Daß diese Waffen nicht an die größtenteils nur auf dem Papier bestehende „Freie Syrische Armee“ (FSA) oder andere vorgeblich „gemäßigte“ Rebellengruppen gingen und gehen, die ohnehin keine relevante Rolle im syrischen Krieg spielen, ist bekannt.
Der IS trat, damals noch als ISI, dann ISIS, erstmals 2004 als Untergruppe von „Al Kaida im Irak“ auf und verübte schwere Attentate, meist auf Schiiten. Im Jahr 2010 übernahm ein „Al-Baghdadi“ die Führung der Terrorgruppe. Dieser Al-Baghdadi soll erst ein Jahr zuvor aus britischer Gefangenschaft entlassen worden sein.24 2011 führte er seine Truppe nach Syrien, die nicht nur die meisten europäischen Fundamentalisten in ihre Reihen lockte, sondern auch rasch andere extreme Gruppen unterwarf oder ihre Kämpfer zum Übertritt bewog, und schließlich, 2013, selbst die ehemalige Filiale Nusra-Front angriff und sich damit offen gegen Al Kaida stellte. Ein Jahr später rief der IS im irakischen Mossul ein „Islamisches Kalifat“ aus. Sein stärkstes Gebiet sind jene Teile des Iraks und Syriens, in denen autochthone Sunniten und Beduinenstämme leben. Letztere erkennen im Regelfall staatliche Strukturen ohnehin nicht an, da Stammesbeziehungen – insbesondere nach Saudi-Arabien – schwerer wiegen.25 Speziell aus diesem wahabitischen Königreich sorgten zudem Geschäftsleute und „Hilfsorganisationen“ für einen steten Fluß von Geldern und Gütern, die – neben Geiselgeschäften, Öl-Verkauf und Schmuggel – das Korsett der IS-Finanzierung bilden.
Auch wenn westliche Staaten, insbesondere die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, aufgrund ihres umfassenden Geheimdienstnetzes in Nah- und Mittelost schon frühzeitig über die IS-Financiers und ihre Routen informiert gewesen sein dürften, verhängte die US-Administration erst im August 2014 Sanktionen gegen Geschäftsleute (aus Kuwait), die dem IS nachweislich Gelder zukommen lassen hatten. Einen Monat später begannen Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten gegen den außer Kontrolle geratenen und massenmordenden IS. Dieser Sachverhalt ändert indes nichts an der bewußten Untätigkeit des Westens bei der Konsolidierung des Islamischen Staates als stärkstem Opponenten Assads26 und der Gutmütigkeit gegenüber Saudi-Arabien, das sein Wahabismus mit dem IS gemein hat.
Der Wahabismus ist – vereinfacht gesagt – eine extreme Variante des Salafismus. Letzterer „verwies als zuverlässigsten Weg zum Verständnis des Islam auf die Praktiken der ersten drei Generationen von Muslimen [also im 7. und 8. Jahrhundert, B. K.] – die der Ahnen oder der salafs“.27 Er entstand im 13. Jahrhundert und war eng mit der Person Ahmad ibn Taymiyya (1263–1328) verbunden. Der Wahabismus entstand erst fünf Jahrhunderte später, als Mohammed al-Wahab (1703–1792) eine besonders strenge Interpretation des sunnitischen Islam predigte, sich am angenommenen Lebensstil Mohammeds und den ersten vier Kalifen orientierte, und eigenmächtig eine Frau aufgrund angeblichen Ehebruchs steinigen ließ. Entgegen geläufiger Vorurteile, diese Tötungsart sei dem Islam von jeher immanent, gab es beispielsweise in der gesamten Geschichte des Osmanischen Reiches lediglich eine einzige gerichtlich angeordnete Steinigung. Dementsprechend entsetzt waren die Nachbarn al-Wahabs und stießen ihn aus ihrem Kreise aus. Begeistert aufgrund der Rigidität zeigte sich aber der Führer eines Klans: der „Saudis“. Sie nahmen sich dieser strengen Interpretationen des (sunnitischen) Islam an, verbreiteten sie in ihren Stammregionen sowie in Bürgerkriegen, und folgen al-Wahabs Lehre – die mittlerweile Staatsreligion Saudi-Arabiens ist – bis heute.28 Ohne an dieser Stelle tiefer in die vielfältige Welt islamischer Glaubenslehren vordringen zu können, ist festzuhalten, daß den Wahabismus – neben der salafistisch-strengen Orientierung auf das gedachte Leben der Altvorderen, der Ablehnung der Heiligenverehrung und des Gräberkults – das folgenschwere Ideologem des „Takfiri“ kennzeichnet. Nach Auffassung dieser Strömung sind alle Muslime, die sich nicht bedingungslos zum Salafismus/Wahabismus bekennen, „ungläubig“. Ihre perfiden Fußtruppen ermorden daher vornehmlich Angehörige anderer islamischer Glaubensrichtungen. Auch die Attacken der Dschihadisten von IS und Al-Nusra-Front richten sich in diesem Sinne im Irak vorzugsweise gegen Schiiten und weniger gegen US-Besatzer,29 und in Syrien lassen sich muslimisch-sunnitische Al-Nusra-Kämpfer über die Golanhöhen nach Israel – zum vorgeblichen „Hauptfeind“ – bringen, um sich in den dortigen Krankenhäusern für die Schlacht gegen die überwiegend muslimisch-alawitischen und muslimisch-schiitischen Assad-Getreuen zu regenerieren.30 Bezeichnend ist, daß die wahabitische Staatsreligion Saudi-Arabiens, also eines zumindest in der Anfangszeit indirekten bis direkten Förderers des IS, auf das Prinzip des „Tafkiri“ nicht verzichten kann.
Entsprechend deutlich fällt das Fazit des Publizisten Malte Daniljuk aus: „Bis auf weiteres hat sich noch kein Islam-Experte gefunden, der dem westlichen Publikum den Unterschied zwischen der Ideologie der Organisation Islamischer Staat und der saudischen Staatsreligion erklärt. Das mag daran liegen, dass ein solcher Unterschied nicht existiert.“31
Zumindest ein Unterschied besteht indes offensichtlich: Saudi-Arabien besteht als Nationalstaat, auch im westlichen politischen Staatsverständnis, während die IS-Doktrin die weltweite und grenzenlose umma, die Weltgemeinschaft aller rechtgläubigen, sunnitischen, dem Wahabismus folgenden Muslime unter einem Kalifen anstrebt. Eine Utopie, deren Versuch einer Verwirklichung die Eliminierung jedweder abweichenden Auffassung zwingend zur Folge haben müßte und jedwedem Denken in Nationen oder Nationalstaaten – und das ist, um aufs Ausgangsthema zurückzugreifen, die conditio sine qua non des Faschismus – diametral entgegensteht.
Dieses abnorm totalitäre Konzept, das alle regionalen, volklichen, nationalen und „identitären“ Marker auslöschen möchte, jedoch als „klassische Reichsüberlieferung“ zu verstehen, wie der eingangs erwähnte Volker Weiß, geht gänzlich fehl, selbst wenn der IS momentan noch Verbündeten außerhalb seines unmittelbaren Machtbereichs freie Hand läßt. Wie bereits angedeutet, lehnen Ideologen vom Schlage des IS (wie auch andere Gruppierungen des sunnitischen Neofundamentalismus) Nationen, Völker und lokale bzw. regionale traditionelle Gemeinschaften als „unislamische Konstrukte“ ab, die es aufzulösen gilt (weshalb die „Verschränkung von religiösen und nationalistischen Inhalten“ nun gänzlich abwegig ist).
Weiß muß in diesem Zusammenhang damit rechnen, daß bei „Reichsüberlieferung“ an das Römische Reich, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder auch an das Osmanische Reich gedacht wird. Alle diese Reiche waren zwar hierarchisch, aber innerhalb ihrer Sphäre – in unterschiedlicher Intensität – von einer außerordentlichen Vielfalt und einem Reichtum an kulturellen, ethnischen und religiösen Besonderheiten geprägt. Es ist erkenntnishindernd, diese genuin klassischen Reichsüberlieferungen in einem Kontext mit der IS-Dystopie eines globalen, alle Unterschiede einebnenden Kalifats zu nennen. Aber nicht nur diese Praxisbeispiele verdeutlichen den mangelnden Gehalt einer entsprechenden Bezugnahme; auch die Reichsidee als Theorem widerspricht dem dschihadistischen Leitbild elementar. In der Ideengeschichte ist das Reich nicht „in erster Linie ein Territorium“, sondern eine Idee oder ein Prinzip“.32 Alain de Benoist, der diese Definition vorschlägt, fährt fort: „Das Wesentliche liegt […] darin, daß der Kaiser seine Macht aus dem Umstand schöpft, daß er etwas verkörpert, was den bloßen Besitz übersteigt.“33 Und Julius Evola betont, daß ein Reich im wahren Sinne nur bestehen kann, wenn es „von einem spirituellen Eifer beseelt ist. Sonst erhält man nichts als eine von Gewalt geprägte Schöpfung – nämlich den Imperialismus – einen bloßen Überbau, mechanisch, seelenlos.“34 Genau dies wäre ein sich konsolidierendes Kalifat des IS: eine auf Expansion ausgerichtete und von anhaltender Gewalt geprägte Schöpfung. Auch der idealtypische Kaiser, den Benoist anführt, meint etwas völlig anderes als es der totalitär herrschende IS-Kalif darstellt. Der „spirituelle Eifer“ wäre noch am ehesten als Argument anzuführen, aber „spirituell“ im eigentlichen Sinne ist –ganz im Gegensatz zum Sufismus oder vielen mythischen Erscheinungen der Schia – nichts an der radikal-salafistischen Takfiri-Lesart des Islam und der Scharia, also an einer Lesart, die nichts weniger als Terror in Permanenz verheißt. Diese Verheißung des fortdauernden Terrors und des ideologisch getriebenen Vernichtungswillens, die unverhohlene Ankündigung des Verbrechens im großen Stil und die Entmenschlichung des Gegners führt uns indes direkt zur Frage, ob die Gemeinsamkeiten des sunnitischen Neofundamentalismus mit dem „Bolschewismus“ der kommunistischen Verfallsgeschichte nicht zahlreicher ausfallen könnten, als es den Adepten linker Theorie im 21. Jahrhundert, die den substanzlosen Begriff „Islamofaschismus“ verwenden, lieb sein kann.
Denn es ist frappierend, daß der eigentlich doch naheliegende Vergleich zwischen den Massenexekutionen der IS-Terroristen und jenen der kommunistischen Revolutionäre der Sowjetunion, Chinas oder Kambodschas in nahezu keinem Fall gezogen wird. Dabei lohnt sich von Zeit zu Zeit ein Blick in das Schwarzbuch des Kommunismus, das die unermeßlichen Verbrechen all jener Gruppen in Erinnerung ruft, die unter Stalin, Mao, Pol Pot und anderen Diktatoren mit marxistischer Motivation mordeten, auflistet.35 Die sunnitischen Neofundamentalisten des 21. Jahrhunderts brauchen bemerkenswert wenig Heimtückisches zu erfinden; beinahe jede bestialische Hinrichtungsart wurde im 20. Jahrhundert bereits erfolgreich exerziert. Schenkt man dem Islamexperten Jürgen Todenhöfer Glauben, der als bis dato einziger Journalist im IS-Gebiet recherchieren durfte, plant der IS außerdem den größten – die einhundert Millionen Opfer des Kommunismus noch übertreffenden – Massenmord in der Geschichte der Menschheit: Mehrere Hundert Millionen Menschen seien nach IS-Auffassung umzubringen, darunter nicht nur Christen („We conquer Rome“), Juden oder Schiiten, sondern auch alle sunnitischen Muslime, die sich gegen den IS oder einzelne Punkte der Gesamtideologie auflehnen.36 Diesen Haß auch auf die „eigenen Leute“ kennt man wiederum – um nur ein Beispiel anzuführen – von den großen Säuberungen in der Stalinzeit, als zehntausende Kommunisten hingerichtet wurden, die teilweise so im besessenen „Glauben“ an die geradezu heilsgeschichtliche Mission der Sowjetunion gefangen waren, daß sie ihre eigene Hinrichtung oder Verbannung noch als der Partei dienlich begrüßten.
Wie kann, darüber hinaus, die Parallele zu der Methodik der Urverbrechen der Bolschewiki übersehen werden, wenn der IS wiederholt hunderte syrische (oder irakische, oder kurdische etc.) Soldaten in einer Reihe antreten läßt und sie mittels Kopfschuß hinrichtet? Drängt sich bei den von Anti-IS-Milizen gefundenen Massengräbern jesidischer, christlicher oder schiitischer Iraker nicht die Erinnerung an Katyn 1940 auf, als der sowjetische Geheimdienst und die Rote Armee bis zu 25.000 polnische Offiziere, Intellektuelle und Beamte routinemäßig und straff organisiert per Schuß in den Kopf hinrichteten?37 Präsentiert sich der IS-Mörder des 21. Jahrhunderts in den erschütternden, höchst professionellen Propagandavideos nicht ebenso selbstsicher und mit fanatisch reinem Gewissen, da er im Glauben tötet, Gottes Gesetze zu vollstrecken, wie der kommunistische Exekutor des 20. Jahrhunderts, der da glaubte, eine historische Mission des Klassenkampfes zu erfüllen? Sind die dschihadistischen Mordkommandos folglich nicht ebenso „Täter mit gutem Gewissen“ (Lothar Fritze) wie die stalinistischen Erschießungspelotons? Eint sie nicht das Leuchten der Augen „vor notwendiger [!] Grausamkeit“, wie der kommunistische Romancier Louis Aragon den bolschewistischen Furor verherrlichte? Es eint sie, aber nicht nur das.
Einer der wichtigsten Vordenker des zeitgenössischen sunnitischen Neofundamentalismus, auf den sich nicht nur Al Kaidas Terroristen berufen, Sayyid Qutb (1906–1966), erklärte, daß der Mensch zur Freiheit gezwungen werden müsse. Eine rechtgeleitete Elite solle die islamische Welt, die (islamischen) Massen zur Läuterung und zum Sieg über die Ungläubigen führen. Dies läßt an Lenins Theorie der bolschewistischen Avantgarde erinnern, wonach die Erlösung der (proletarischen) Massen von einer Gruppe entschlossener Revolutionäre herbeigeführt würde.38 Qutbs Hauptwerk Meilensteine (1965) wird zudem in seiner doktrinären Bedeutung häufig mit Marxens Kommunistischem Manifest verglichen39, denn nicht zuletzt die radikal-egalitäre Grundhaltung Qutbs (und seiner heutigen Anhänger) korreliert viel eher mit der Ideologie der Marxisten als mit dem hierarchischen Prinzip der Faschisten. Der marxistisch-expansionistische Aufruf „zum letzten Gefecht“ auf dem Weg zur weltweiten kommunistischen Gesellschaft weist zudem Ähnlichkeiten mit der Endkampf-Vorstellung der sunnitischen Neofundamentalisten auf. Auch sie wollen für immer und ewig Klassen und Nationen „überwinden“; sie bringen freilich zusätzlich die theologische Konzeption in Stellung. Der wie im Marxismus von seinen tradierten Bindungen zu lösende Mensch muß – nötigenfalls und realiter gewaltsam – in den fiktiven ursprünglichen und vorgeblich gottgewollten Zustand der Harmonie zurückgebracht werden.40 Während also die russischen Bolschewiken den geschichtsphilosophisch-materialistischen Anspruch erhoben, der verderbten kapitalistischen Welt und der gesamten Menschheit erlösende (soziale) Befreiung zu bringen, erheben IS und Co den theologischen Anspruch, der verderbten ungläubigen oder häretischen Welt und der gesamten Menschheit (religiöse) Befreiung vom unsittlich-sündigen und damit gottfeindlichen Leben zu bringen.41 Daß beide Ansprüche nicht die Freiheit – was immer man konkret darunter verstehen mag – für die größtmögliche Zahl, sondern fortwährende Knechtschaft und Unterjochung mit sich brächten (und in der Geschichte in vielen Ländern durchaus schon brachten), ist selbsterklärend. Zu ergänzen bleibt an dieser Stelle, daß der Anspruch der Neofundamentalisten, der die Trennung von Weltlichem und Geistlichem aufhebt und in der Konsequenz ein ungeheuerliches, noch die allerletzten Aspekte des Lebens reglementierendes Kontrollsystem vorsieht, weit über die Totalität der Kommunisten – selbst jener ihrer extremsten Form, der Bolschewiki – hinausgeht.42
Trotz einiger angeführter Gemeinsamkeiten43 zwischen der bolschewistischen Erscheinung des Kommunismus und dem Treiben des Islamischen Staats ist keine Verwendung des Terminus „Islamobolschewismus“ als Gegenstück zum „Islamofaschismus“ anzuraten, allenfalls auf dem Niveau polemischer Gegenrede für Adepten antifaschistischer Termini gleich welcher Façon. Auch wenn sich – um ein weiteres Beispiel anzuführen – selbst der Vergleich der sunnitischen Neofundamentalisten mit den Jakobinern der Französischen Revolution aufdrängt, die im ausgehenden 18. Jahrhundert auf jede vorstellbare und nicht vorstellbare diabolische Art und Weise mordeten, die zudem – wie der IS44 – ihren Scharfrichter (Robespierre) ermorden ließen, weil der selbst den Fanatikern zu fanatisch wurde und eine fortwährende Verschärfung des Terrors selbst gegen eigene Leute forderte (wie im Falle des exekutierten IS-Richters): Konkrete historische Erscheinungen sollten grundsätzlich und immer als das bezeichnet werden, was sie sind. Das gilt auch für sunnitische Neofundamentalisten, die im Kern sunnitische Neofundamentalisten bleiben, auch wenn sie sich offenkundig bolschewistischer (oder jakobinischer) Methodik bedienen.
Was bleibt indes vom Konstrukt des „Islamofaschismus“ oder des „islamischen Faschismus“ in bezug auf die gegenwärtig reüssierenden Dschihadisten?45 Wie anhand der sunnitisch-neofundamentalistischen Ideologie erläutert wurde: wenig bis gar nichts. Einerlei, ob man den Faschismus wie Zeev Sternhell als „eine Synthese aus einem radikalen Nationalismus und einer antimaterialistischen, antirationalistischen Revision des Marxismus“46 begreift, oder mit Ernst Noltes „negativer“ Definition des „faschistischen Minimums“ d’accord geht, das als grundlegende Charakteristika „des“ europäischen Faschismus Antimarxismus, Antiliberalismus, Antikonservatismus, Führerprinzip, Parteiarmee und Totalitätsanspruch voraussetzt: Die Gemeinsamkeiten sind im Vergleich zu den gravierenden Unterschieden marginal. Zusammengefaßt: Die bedeutenden Kategorien des Faschismus sind Staat, Nation und Elite; die des sunnitischen Neofundamentalismus die wahabitische Auslegung des sunnitischen Islam und die rigide Anwendung der Scharia, während keinerlei Staats-, Nations- oder Volksorientierung vorliegt. Der Faschismus will, wie Karlheinz Weißmann erläutert, „nicht zurück, er strebte grundsätzlich etwas Neues an: ein ‚neuer Mensch‘ in einer ‚neuen Ordnung‘ am Beginn eines ‚neuen Zeitalters‘„.47 Der sunnitische Neofundamentalismus strebt – dieser faschistischen Zukunftsorientierung so weit wie nur möglich entgegengesetzt – nach einem idealisierten Leben nach Vorbild des Propheten Mohammed und seines Gefolges, nach Vorbild der ersten Kalifen, mithin nach einem gewaltigen roll back ins 7. und 8. Jahrhundert. Ein Umstand, der gar dazu führt, daß sich Salafisten die Zähne mit Stöckchen putzen, um es den Altvorderen gleichzutun und „moderne“ Irrungen zu vermeiden. Solcherlei skurrile Marotten der Dschihadisten dürfen nicht den Blick auf eines verstellen, denn egal, wie man IS, Al-Nusra-Front und ähnlich gelagerte sunnitische Fanatiker nun letztendlich nennen mag: Die existentielle Gefahr, die von ihnen ausgeht, wird das frühe 21. Jahrhundert noch viele Jahre begleiten. Eine grundsätzliche Neujustierung der globalen Sicherheitspolitik täte daher ebenso not wie eine Neubewertung potentieller Partner und Gegner. An der Begriffsschärfe zu arbeiten und die Dinge beim Namen zu nennen, wäre ein winziger, aber sinnvoller Anfang.
1 Hamed Abdel-Samad: Der islamische Faschismus. Eine Analyse, München 2014.
2 Zeev Sternhell: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999, S. 17.
3 Ebd., S. 15.
4 Vgl. insb. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 12. Aufl., München 2008, S. 664, FN 11: „Daß die faschistische Diktatur in Italien keinen totalitären Charakter hatte, geht schon aus der geringen Zahl an politischen Verhaftungen und dem milden Strafmaß für politische Gegner hervor. In den Jahren von 1926 bis 1932, als der italienische Faschismus im Innern des Landes besonders aggressiv war, haben die Sondergerichte für politische Angeklagte nicht mehr als sieben Todesurteile und 257 Gefängnisstrafen von zehn oder mehr Jahren verhängt, während 1360 Strafen unter zehn Jahren lagen. Hinzu kommt, daß etwa 12.000 Personen verhaftet und freigesprochen wurden – was weder in Nazideutschland noch in Sowjetrußland auch nur vorstellbar wäre.“
5 „Schlacht mit apokalyptischer Dimension“ – Alexander Dietrich im Gespräch mit Hamed Abdel-Samad, in: Die Welt v. 29. März 2014, S. 7.
6 Es ist nur auf den ersten Blick ein Paradoxon, daß der Islamische Staat nach europäischem Verständnis eine extrem antistaatliche Organisation darstellt. Das liegt an der unterschiedlichen Konzeption eines Staates im abendländischen und arabisch-islamischen Kontext. Im sunnitischen Islam meint „Staat“ nicht die Institutionen gesellschaftlicher Ordnung zur Regelung des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen, sondern schlicht und ergreifend die islamische Gemeinschaft und ihre Befolgung der Scharia (wie auch immer diese ausgelegt und angewandt wird).
7 Vgl. Volker Weiß: Islamischer Faschismus? In: Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 105, 4/2014, S. 38 f.
8 Vgl. Guido Speckmann/Gerd Wiegel: Faschismus, Köln 2012, S. 122. Wippermann, der traditionell Nationalsozialismus und Faschismus miteinander vermengt, sieht als Gemeinsamkeiten von „fundamentalistischem Faschismus“ (ergo: sunnitischem Neofundamentalismus) und „Faschismus“ (gemeint bei ihm: Hitlerismus) die beiden „Faschismen“ innewohnende totalitäre Grundausrichtung, eine antisemitische Ideologie, Gewaltkultur, Führerorientierung und die rassisch bzw. religiös ausgerichtete Heilslehre.
9 Islamisch-fundamentalistische Strömungen hat es bereits wenige Generationen nach Mohammed gegeben; jedoch unterscheidet sich der heutige Fundamentalismus naturgemäß sowohl in Theorie als auch in Praxis von entsprechenden Erscheinungen vor bis zu 900 Jahren.
10 Vgl. Benedikt Kaiser: Der Terror der Entwurzelung, in: Neue Ordnung 2/2013, S. 19–23.
11 Bei den Alawiten handelt es sich um eine islamische Strömung, die mit der Schia (vgl. EN 12) verwandt ist, jedoch einige Besonderheiten aufweist (u. a. Kastendenken, fehlende Möglichkeit der Konversion zum Alawitentum). Weder Schiiten noch Sunniten erkennen in der Regel die Alawiten als Muslime an. Dennoch kooperieren Schiiten vor allem in Syrien mit Alawiten gegen die Bedrohung durch sunnitische Extremisten.
12 Der Name der Schiiten leitet sich vom Begriff „shiat Ali“ (Partei Alis) ab, womit jene Muslime gemeint sind, die nach dem Tod des Propheten Mohammed für die Sache Ali ibn Abi Talibs eintraten, einem Vettern und Schwiegersohn Mohammeds. Schiiten entzweiten sich vom Mehrheitsislam der Sunniten also insbesondere aufgrund der Prophetennachfolge, mit der Zeit jedoch auch aufgrund anderer Glaubenseinstellungen. Die Schiiten teilen sich in verschiedene Strömungen auf und stellen lediglich im Iran, im Irak, in Aserbaidschan und in Bahrain eine Bevölkerungsmehrheit. Weltweit schätzt man die Anzahl der Schiiten im Islam auf 15 %. Vgl. einführend: Wilfried Buchta: Schiiten, München 2004, insb. S. 10–12.
13 Der Name der Sunniten, die heute etwa 80 % aller Muslime stellen, leitet sich vom arabischen Wort „sunna“ ab, was meist mit „Gewohnheit“ oder „Brauch“ übersetzt wird. Die Sunna meint alle Überlieferungen der Praxis des Propheten Mohammed und seiner engsten Weggefährten und ist für alle Sunniten verbindlich. Auch die Sunniten weisen zahlreiche Unterströmungen auf, so gibt es alleine vier unterschiedliche Rechtsschulen. Die kleinste Rechtsschule ist die radikalste: die hanbalitische, die vor allem in Saudi-Arabien und von anderen Traditionalisten und Salafisten befolgt wird. Im Gegensatz zu schiitischen Muslimen, die davon ausgehen, daß ihre konkreten Lehren bis zur Wiederkehr des „verborgenen Imams“, ihrer Messias-Figur, einer steten Überprüfung unterliegen müssen, gehen alle der großen vier sunnitischen Rechtsschulen davon aus, daß die Lehre Allahs, wie sie im Koran und der Hadithen-Sammlung überliefert ist, unveränderlich ist. Es verwundert daher kaum, daß der islamische Neofundamentalismus des 20. und 21. Jahrhunderts fast ausnahmslos sunnitisch ist.
14 Ernst Nolte: Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus, Berlin 2009. Noltes Arbeit ist stark von seinem Lebensthema (Nationalsozialismus/Bolschewismus) geprägt und differenziert nicht zwischen Islamismus und Neofundamentalismus o. ä.
15 Kaiser: Der Terror der Entwurzelung, S. 20. Vgl. dazu Olivier Roy: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, 2. Aufl., München 2006, S. 74 f. – Zumindest die Hamas hat sich mittlerweile von Iran abgewandt und orientiert sich statt dessen an den arabisch-sunnitischen Golfstaaten. Damit einher ging der Auszug aus Damaskus, wo einer der wichtigsten Stützpunkte der palästinensischen Bewegung lag. Obwohl der syrische Präsident Assad den Hamas-Militanten über Jahre hinweg größtmögliche Gastfreundschaft gewährte, ließen diese – im Gegensatz zur säkularen PLO und kleineren befreiungsnationalistischen Gruppen – das darbende Syrien im Stich, als der Krieg durch westliche Agitation und direkte Beteiligung der arabischen Golfstaaten nach Syrien getragen wurde. Die sunnitische Hamas wollte nicht auf der Seite der erwarteten Verlierer (also Assads) stehen.
16 Roy verweist auf die libanesische Hisbollah, die von der libanesischen Nation spricht und für diesen Zweck (bis heute) mit christlichen libanesischen Nationalen koaliert; ein Umstand, der bei den ausschließlich religiös argumentierenden Neofundamentalisten auf Ablehnung stößt. – Selbst bundesdeutsche Leitmedien entdecken mittlerweile die Schutzfunktion schiitischer Milizen für die arabische Christenheit, vgl. Markus Bickel: Warum Christen mit der Hizbullah kämpfen, in: FAZ v. 13. April 2014, S. 4.
17 Vgl. Roy: Weg nach Westen, S. 179.
18 In diesem Sinne ist die im Juni 2014 erfolgte Eliminierung des IS-Zusatzes „im Irak und in der Levante/Großsyrien“ zu verstehen. Der IS (im Arabischen öfters verwendet: „Daesh“, nach den Anfangsbuchstaben des ursprünglichen arabischen Namens für die Terrorgruppe ISIS) signalisiert, daß er auf kein bestimmtes Land oder auf eine Region beschränkt ist.
19 Jürgen Todenhöfer: Inside IS – 10 Tage im „Islamischen Staat“, München 2015, S. 16.
20 Vgl. Olivier Roy: Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens, München 2007, S. 68.
21 Vgl. Ronen Steinke: Filialen des Terrors, in: Süddeutsche Zeitung v. 14./15. März 2015, S. 11.
22 Vgl. Karin Leukefeld: Flächenbrand. Syrien, Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat, Köln 2015, S. 206.
23 Zit. n. ebd., S. 207 f.
24 Vgl. ebd., S. 211.
25 Vgl. ebd., S. 205.
26 Nicht nur die NATO-treue europäische Politik, auch die hiesige NATO-treue Medienlandschaft muß sich fragen lassen, weshalb sie schwieg, als abertausende syrische Alawiten, Christen, Schiiten und staatsloyale Sunniten von den IS-, Al-Nusra- und FSA-Banden massakriert wurden, aber aufschrie, als das kurdische Kobane belagert wurde und vor der Vernichtung stand; sie muß sich fragen lassen, warum sie (erfolgreich) versuchte, alle erdenklichen Untaten dem syrischen Staat und seiner Armee anzulasten, aber wiederum beharrlich schwieg, als die sunnitisch-fundamentalistische Urheberschaft des Massenterrors immer deutlicher wurde. Erst im März 2015 empfing Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Präsidenten der militanten „Nationalen Koalition für oppositionelle und revolutionäre Kräfte in Syrien“ (Etilaf). Vgl. Karin Leukefeld: Zu Gast bei Freunden, in: junge Welt v. 18. März 2015, S. 7.
27 Sadakat Kadri: Himmel auf Erden. Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüsten des alten Arabien zu den Straßen der muslimischen Moderne, Berlin 2014, S. 144.
28 Vgl. ebd., S. 156 f. – Kadri weist darauf hin, daß die Wahabiten diese Bezeichnung für sich ablehnen, da sie ein Treueverhältnis vermenschliche, das nur zu Allah bestehe. Sie nennen sich daher „Monotheisten“ (muwahhidun), können aber ebenfalls, so Kadri, als Salafisten bezeichnet werden.
29 Vgl. auch Knut Mellenthin: Der Islamische Staat – ein Ergebnis zynisch kalkulierter Provokations-Strategien, in: Hintergrund 1/2015, S. 4–9, hier: 8.
30 Vgl. Leukefeld, Flächenbrand, S. 134.
31 Malte Daniljuk: Ein zweischneidiges Schwert. Die Neuordnung des Nahen Ostens und die Rolle Saudi-Arabiens, in: Hintergrund 1/2015, S. 19–21, hier: 21.
32 Alain de Benoist: Der Reichsgedanke, in: Schöne Vernetzte Welt. Eine Antwort auf die Globalisierung, Tübingen 2001, S. 241–271, hier: 246.
33 Ebd., S. 247.
34 Zit. n. ebd.
35 Vgl. Stéphane Courtois u. a. (Hrsg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, zur Einführung S. 16–22.
36 Vgl. Todenhöfers entsprechende Erklärung auf seiner „Facebook“-Seite vom 22. Dezember 2014. Weiterführend sein mit Interviews angereicherter Erlebnisbericht Inside IS.
37 Vor kurzem hat Thomas Urban die Geschichte dieses Verbrechens niedergeschrieben, vgl. seine kompakte empathische Studie Katyn 1940 (München 2015).
38 Vgl. Kadri, Himmel auf Erden, S. 176 f.
39 Vgl. Nolte, Islamismus, S. 226.
40 Vgl. ebd., S. 232.
41 Vgl. auch ebd., S. 233.
42 Vgl. ebd., S. 234.
43 Es gibt freilich essentielle, unüberbrückbare Differenzen zwischen dem wesensgemäß atheistischen Marxismus und dem wesensgemäß radikal-religiösen Neofundamentalismus; diese grundlegenden Unterschiede dürften jedoch bekannter sein als die angeführten Gemeinsamkeiten.
44 Vgl. „IS lässt eigenen Richter hinrichten“, www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-koepft-seinen-schaerfsten-richter-a-1023127.html, v. 12. März 2015.
45 Es wäre in einer gesonderten Untersuchung zu prüfen, ob die Gegenspieler der sunnitischen Neofundamentalisten – bspw. die libanesische Hisbollah, Assads syrischer „Ba’ath“-Partei-Ableger oder die (oppositionelle, aber im Krieg staatsloyale) Syrische Sozial-Nationalistische Partei – zumindest partiell faschistische Züge tragen. Noch stärker gilt das für das autoritäre, nationalistische und teils sozialistische Ägypten unter Gamal Abdel Nasser in den 1950er Jahren. Einige Überschneidungen (nicht: Übereinstimmungen) sind in diesen Fällen tatsächlich vorhanden.
46 „Faschismus ist Teil unserer Kultur – Spiegel-Gespräch mit Zeev Sternhell, in: Der Spiegel 28/2014, S. 128–131, hier: 128.
47 Karlheinz Weißmann: Faschismus. Eine Klarstellung, Schnellroda 2009, S. 18