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Napoleons Rückkehr von Elba und der menschliche Wankelmut

Von Dr. Mario Kandil


Wie Presse und Einzelpersonen ihre Einstellung plötzlich änderten


Als Ende Februar 1815 mit Napoleon I. der im Vorjahr gestürzte und politisch totgeglaubte Kaiser der Franzosen von Elba aufbrach und innerhalb von nur drei Wochen den Thron zurückeroberte, schien eine ganze Welt ins Wanken zu geraten. Die Neuordnung Europas, welche die Sieger über ihn auf dem Wiener Kongreß gerade erst ins Werk setzten, drohte schlagartig wieder zu zerfallen. Angesichts solch gewaltiger Umwälzungen revidierten sehr viele Zeitgenossen – aus Presse, Politik, Militär und anderen Bereichen – ihre zunächst negative Haltung zu Napoleon. So wurden aus erklärten Gegnern des Korsen unter dem Eindruck seiner schlagartigen Machtzunahme mit einem Mal Befürworter, Parteigänger und oft sogar tatkräftige Unterstützer. Der menschliche Wankelmut hatte zu jener Zeit Hochkonjunktur, so daß ein genauerer Blick auf einige herausragende Beispiele Lehrreiches über die Natur der Menschen und ihr moralisches Rückgrat zu Tage fördert.

Kaum war allgemein bekanntgeworden, daß am Abend des 26. Februars 1815 Napoleon von der ihm als eine souveräne Miniaturherrschaft überlassenen Mittelmeerinsel Elba in Begleitung von rund 1.500 Anhängern und vier (!) Geschützen nach Frankreich aufgebrochen und dort am 1. März bei Golfe Juan nahe Antibes an Land gegangen war, da überschlugen sich Zeitungen wie Würdenträger im Frankreich des Bourbonenkönigs Ludwigs XVIII. mit Verdammungen des „Ungeheuers“ Bonaparte. Im offiziellen Regierungsblatt, dem im November 1789 gegründeten „Moniteur“1, häuften sich die Erklärungen von Generälen, hohen Beamten und anderen Personen des öffentlichen Lebens, die sich darin überboten, den König ihrer Loyalität zu versichern und ihm ihre Dienste gegen diesen schurkischen Eindringling Bonaparte zu offerieren. Doch ebenso mehrten sich – und das geradezu inflationär – die Huldigungen an Napoleon. Und diese Adressen waren zum Teil von denselben Leuten verfaßt, deren bourbonentreue Ergüsse im „Moniteur“ standen.2

Wandel der zeitgenössischen Presse

Wie schnell mitunter Menschen in ihrer Meinung einen Wandel vollziehen, das wird unter anderem aus den Überschriften deutlich, welche die zeitgenössischen Zeitungen zu Napoleons abenteuerlichem Zug von Elba nach Paris brachten. Am 1. März hieß es noch (ganz ohne Namensnennung): „Der Korse ist von der Insel Elba abgereist.“3 Am 3. März entsann man sich immerhin schon wieder des Nachnamens Napoleons: „Bonaparte ist bei Cannes gelandet.“4 Einen Tag darauf wurde dem „Ungeheuer“ sogar ein militärischer Rang nicht weiter vorenthalten: „Der General Bonaparte hat sich der Stadt Grenoble bemächtigt.“5 Der 11. März brachte erneut eine Steigerung: „Napoleon ist in Lyon eingezogen.“6 Eine Woche später, am 18. März, war bereits wieder vom „Kaiser“ die Rede: „Der Kaiser wurde in Auxerre von den Behörden feierlich empfangen.“7 Und die Krönung aller dieser Steigerungen erfolgte am 20. März: „Seine Kaiserliche Majestät wird heute, am Geburtstag des Königs von Rom [des Thronfolgers, d. h. des Sohnes Napoleons I. und seiner zweiten Frau Marie-Louise – Anm. d. Verf.], von den Spitzen des Staates und seinem Hof in den Tuilerien erwartet.“8 Wie stark hatte doch der Zuwachs an Macht den eben noch Verfemten in den Augen der Journale wieder gehoben!
Allerdings sollte man umgekehrt nicht übersehen, daß es auch in der Sprache Napoleons eine derartige Stufenfolge gab. Als er französischen Boden betrat, hießen die Franzosen seine „Mitbürger“. In Lyon nannte er sie kurz und knapp „Franzosen“. Nach seinem Einzug in die Tuilerien bezeichnete Napoleon sie bereits wieder als seine „Untertanen“ 9 – als wäre es niemals anders gewesen.
Übrigens fehlte zu jener Zeit, von der hier die Rede ist, den Zeitungsberichten der Stempel der Sensation, die der Presse jener Tage beinahe fremd war. Politische wie unpolitische Nachrichten wurden oft ohne trennende Absätze abgedruckt. Was der Tag an Neuigkeiten zu bieten hatte, wurde streng der Reihe nach wiedergegeben – wie die Berichte gerade einliefen, ohne Hervorhebung der einen oder anderen Begebenheit als der wichtigsten der Stunde. Großes, wie etwa die Seeschlacht von Trafalgar (21. Oktober 1805), wurde in Berliner Zeitungen innerhalb des Blattes in einem Beitrag aus London gebracht, wohingegen auf der Titelseite der Zeitung Bekanntmachungen von Behörden und Nachrichten von geringerer Bedeutung standen. Trotz alledem hat die waghalsige Unternehmung Napoleons I. einen unübersehbaren Niederschlag in den Zeitungen der damaligen Zeit gefunden und wurde von diesen auch angemessen herausgestellt.
Damals galt also noch weitgehend das, was 1832 der Herausgeber der „Times“, John Delane, äußerte: Es sei die Pflicht des Journalisten – wie auch des Historikers –, vor allen Dingen die Wahrheit herauszufinden. Dieser Berufsstand war scheinbar um 1815 noch nicht so verkommen, wie es 1880 der US-amerikanische Zeitungsverleger und Redaktionschef der „New York Times“, John Swinton, durchblicken ließ: So etwas wie eine unabhängige Presse gebe es in der Welthistorie doch überhaupt nicht. Das Geschäft des Journalisten bestehe darin, „die Wahrheit zu zerstören; unumwunden zu lügen; zu pervertieren; zu verleumden“10. Swinton brachte es in brutaler Offenheit auf den Punkt: „Wir sind intellektuelle Prostituierte.“11
Doch zurück zu Napoleons Rückkehr von Elba im Jahr 1815 und zu der schlechten Presse, die er vor der Rückgewinnung des Throns hatte. Das „Journal des Débats“12, das zu Napoleon schon vor 1814 in Opposition gestanden hatte, schrieb noch am 8. März 1815 über „Bonaparte“, „alle Franzosen stoßen ihn mit Abscheu von sich und flüchten sich in den Schoß eines Königs, der uns nicht Rache, sondern Liebe, Erbarmen, Vergessen des Vergangenen mitgebracht hat“.13 Das Blatt prophezeite: „Ein einziger Ruf wird in ganz Frankreich widerhallen: Tod dem Tyrannen! Es lebe der König!“.14 Und das „Journal de Paris“ bemühte sich sogar mit einer eklatanten Falschmeldung, die Menschen in Paris davon zu überzeugen, daß die Sache Napoleons hoffnungslos verloren sei: Am 12. März sei dieser von 20.000 Mann königstreuer Truppen und der Lyoner Nationalgarde vollständig geschlagen und mehrere Stunden zurückgetrieben worden.15
Eine derart plumpe Tatsachenfälschung nutzte dem Bourbonenkönig und seinen Anhängern allerdings gar nichts, denn die Realität sah anders aus. So vermeldeten die „Berlinischen Nachrichten“ am 12. März aus Paris gar Ungeheuerliches: „Gestern morgen hat man unter dem großen Spiegel in dem Zimmer des Königs die Worte geschrieben gefunden: Vive Napoléon! Mehrere Personen sind an diesem Tage verhaftet worden, welche Schmähschriften gegen die Regierung an die Straßenecken anklebten. Es scheint, daß Monsieur [Graf von Artois, Bruder Ludwigs XVIII. und als Karl X. 1824–1830 König von Frankreich – Anm. d. Verf.] zu Lyon nicht die freundliche Aufnahme gefunden, wie der „Moniteur“ meldet; schon außer der Stadt soll er von dem Pöbel und den Soldaten verhöhnt und nicht ohne Gefahr entkommen sein.“16 Recht bald war der napoleonische Spuk Wirklichkeit geworden und der Korse in Frankreich wieder an der Macht; sogar von einer nichtfranzösischen Zeitung wie der „Königsberger Zeitung“ ist in einem Bericht aus Paris vom 21. März die „geziemende“ Titulatur erhalten: „Seine Majestät der Kaiser ist […] in seinem Palast der Tuilerien angekommen.“17 Ludwig XVIII. und seine Entourage waren erst kurz zuvor aus der französischen Hauptstadt geflüchtet.
Kaum war Napoleon wieder der Herrscher des Landes, schrieben die französischen Zeitungen zumeist ganz in seinem Sinne. Am 12. April meldete die gerade erwähnte „Königsberger Zeitung“ aus Paris, die dortigen Blätter enthielten Berichte, wonach die Bildung einer neuen Koalition gegen das nunmehr wieder napoleonische Frankreich unwahrscheinlich sei. Sie fragten, warum sich die fremden Mächte in die französischen Angelegenheiten einmischen sollten. Frankreich habe keine Lust, wieder Krieg anzufangen. In allen Teilen des Landes herrsche „die größte Ruhe“, „die größte Freude“18. Das stimmte natürlich überhaupt nicht, denn zum einen formierten sich die Sieger über Napoleon von 1814 tatsächlich zu einer erneuten Koalition gegen Frankreich; zum anderen gärte es im Innern beträchtlich: Neben der bürgerlich-liberalen Opposition, die den Frankreich aufgezwungenen neuen Krieg ablehnte, taten sich besonders die Royalisten hervor, die sich in der Vendée gegen Napoleon erhoben. Das alles wollte z. B. der jetzt wieder im Sinne des Imperators schreibende „Moniteur“ schönreden oder völlig verschweigen, indem er laut „Leipziger Zeitung“ vom 21. April unter seinen auswärtigen Artikeln solche brachte, „die so sehr das Gepräge der Selbstfabrizierung tragen, daß der unbefangene Leser nur zu leicht einsieht, aus welcher Absicht man dieselben in die französischen Blätter aufnimmt“.19 Mithin war die „Lügenpresse“ nun im Sinne des neuen Machthabers tätig; ihm ebenso dienend, wie sie schon seinem Vorgänger gedient hatte.
Den Niedergang des gerade erst wieder nach oben gelangten Korsen konnte sie jedoch nicht verheimlichen. Sogar die Pariser Journale berichteten nach Angaben der „Königsberger Zeitung“ vom 18. Mai von Karikaturen, die „fortdauernd […] gegen die Regierung“20 erschienen. Auch seien an den Straßenecken von Paris Schauspielzettel mit dem folgenden Text angeschlagen worden: „Theater des Ehrgeizes beim Palast de l‘Élysée. Heute wird zum Besten einer dürftigen korsischen Familie zum erstenmal aufgeführt: ‚Der Kaiser wider Willen aller Welt (l‘Empereur malgré tout le monde), ein tragisch-heroisch-komisches Schauspiel.‘ Zum Schluß wird gegeben: Ein Ballett von Sklaven und der Einzug der Kosaken.“21 Bitterböse war derartiger Spott, doch weit schlimmer als dieser war letztlich Napoleons vernichtende Niederlage in der welthistorischen Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815. Die Kunde von diesem Ereignis war – so die „Berlinischen Nachrichten“ vom 23. Juni – schon viel zu weit durchgedrungen, als daß der „Moniteur“ sie noch hätte unterdrücken können. Folglich mußte das Regierungsorgan am 23. Juni das Eingeständnis der bei Waterloo erlittenen totalen Niederlage bringen und konnte lediglich bei den Ursachen der Katastrophe ein wenig Schönfärberei betreiben.22

Der Liberale Benjamin Constant

Nicht nur die zeitgenössische französische Presse legte angesichts der „Hundert Tage“ Wankelmut an den Tag, auch manche Person des öffentlichen Lebens in Frankreich tat dies. Ein Beispiel dafür liefert Benjamin Constant, der 1767 in Lausanne geborene Schriftsteller, liberale Ideologe und Politiker. Er verstand es unvergleichlich, über den Mißbrauch der Macht zu philosophieren, und wirkte lange Jahre an der Seite von Napoleons I. Intimfeindin Madame de Staël als eine Art intellektuelle Großmacht gegen den „Usurpator“. So war es nicht erstaunlich, daß Constant nach dessen Aufbruch von Elba im „Journal des Débats“ einen Artikel veröffentlichte, der ihm später immer wieder vorgeworfen werden sollte. Darin verglich er Napoleon I. mit den Despoten früherer Zeiten, mit Attila, „nur schrecklicher, weil ihm die Hilfsquellen der modernen Zivilisation zur Verfügung stehen“.23 Benjamin Constant fuhr so fort: „Auf seiten des Königs die konstitutionelle Freiheit, die Sicherheit, der Frieden; auf seiten Bonapartes die Knechtschaft, die Anarchie und der Krieg. Wer wollte da schwanken! Welches Volk wäre verdächtiger als wir, wenn wir ihm unsere Arme liehen. Wir würden das Gelächter Europas sein, nachdem wir sein Schrecken gewesen sind […]. Ich werde mich nicht als miserabler Überläufer von der einen Macht zur andern schleppen, die Schmach mit Sophismen zudecken und ruchlose Worte stammeln, um mir ein Leben in Schande zu sichern!“24 Doch nur wenig später war eben dieser doch scheinbar zum äußersten Widerstand entschlossene Mann ein Staatsrat Napoleons und machte sich an die Aufgabe, für diesen eine Verfassung auszuarbeiten …
Nachdem der Rausch des Abenteuers von Elba bis Paris verflogen war, mußte Napoleon rasch erkennen, daß die Realität über ihn hinauswuchs. Die Repräsentanten verschiedenster Richtungen der Volksmeinung waren nicht mehr so einfach zur Ruhe zu bringen wie zu der Zeit seiner Allmacht. In seinem Ärger meinte Napoleon, Ludwig XVIII. habe ihm „seine“ Franzosen „verdorben“. Da er daran gewöhnt war, Entscheidungen schnell und ohne Diskussion zu treffen, empfand er die schier endlosen Erörterungen über die innenpolitische Situation und über Verfassungsfragen als eine Herabwürdigung seiner Person. Erstmals erfuhr er, was es bedeutet, nachzugeben und sich Änderungen aufnötigen zu lassen. Doch angesichts der veränderten Gegebenheiten in Frankreich wagte er nicht, allein zu handeln und holte den Rat anderer ein. Sein Innenminister Lazare Carnot (dieser hatte wie der Polizeiminister Joseph Fouché 1793 im Nationalkonvent für den Tod König Ludwigs XVI. gestimmt) hatte also nur bedingt recht, wenn er fand, „die kühne Rückkehr von Elba scheint den Quell seiner Energie erschöpft zu haben; er schwankt, er zaudert; statt zu handeln, redet er […] alle Welt fragt er um Rat“.25
So bestellte Napoleon auch Constant, der sich durch seinen oben erwähnten Zeitungsartikel im „Journal des Débats“ vom 19. März in eine heikle Lage gebracht hatte, aber in Paris geblieben war, zu sich und fragte ihn um Rat. Doch zunächst hielt Napoleon Constant einen längeren Vortrag über die innere Lage des Landes, bekundete seinen Friedenswillen und seine Bereitschaft, ein konstitutioneller Monarch zu sein. Das alles klang in hohem Maße falsch und unglaubhaft, doch Napoleon wollte jetzt um jeden Preis die Verfassungsfrage lösen und wußte, daß er dabei nicht hinter die von Ludwig XVIII. erlassene „Charte constitutionelle“ vom 4. Juni 1814 zurückgehen konnte. So zog der Imperator mit Constant einen „Ideologen“ (für Napoleon ein Schimpfwort) zu Rate und gab ihm den Auftrag, eine Verfassung zu entwerfen. Der hiervon überraschte Liberale schlug unter dem Eindruck von Napoleons charismatischer Persönlichkeit alles in den Wind, was er noch vor kurzem über den modernen Attila in der Zeitung geschrieben hatte, und erfüllte schließlich mit der „Zusatzakte zu den Konstitutionen des Kaiserreiches“ seinen Auftrag. Dieser Entwurf trug eindeutig die Handschrift Benjamin Constants, der mit seiner Arbeit dem Herrscher einen Dienst erwies, sich ihm jedoch nicht unterwarf.26 Und dennoch: Obwohl diese „Zusatzakte“ de facto dem Geist der früheren kaiserlichen Verfassungsbestimmungen völlig entgegengesetzt war und Napoleon sie als eine persönliche Demütigung betrachtete, kann auch Constant der Vorwurf des Wankelmuts beim Regimewechsel nicht erspart werden. Denn immerhin war er „umgefallen“ und hatte beschlossen, sich „als miserabler Überläufer von der einen Macht zur andern schleppen“.27

Der Marschall Michel Ney

Auch ein hoher Militär hielt sich nicht an die Gegnerschaft, die er nach Napoleons Rückkehr diesem zunächst geschworen hatte. Dieser Mann war der 1769 geborene Saarländer Michel Ney, der bis April 1814 unter Napoleon zum Marschall aufgestiegen war, dann allerdings dem Korsen die Gefolgschaft aufgekündigt hatte und zum neuen Regime der Bourbonen übergetreten war. Speziell der Abfall Neys, den der Kaiser den „Tapfersten der Tapferen“ genannt, den er für seine Waffentaten zum Herzog von Elchingen (1805) und zum Fürsten von der Moskwa (1812) erhoben hatte, schmerzte Napoleon. Noch mehr mußte ihn Neys Versprechen gegenüber König Ludwig XVIII. schmerzen: Kaum hatte Ney von Napoleons Landung bei Antibes und von dessen Marsch auf Grenoble erfahren, ging er, von heftigen, unlösbaren Gewissens- und Loyalitätskonflikten geplagt, zu Ludwig XVIII. in die Tuilerien. Erst am Abend wurde der Marschall vorgelassen, geriet bei der Schilderung der von ihm für nötig gehaltenen militärischen Operationen gegen Napoleon aber in immer größere Aufregung. Vehement tadelte er die Handlungsweise seines früheren Herrn und Meisters als „schändlich“ und „verrückt“ und äußerte, daß dieser nichts Besseres verdiene, als festgenommen „und in einem eisernen Käfig nach Paris geschafft zu werden“.28 Das schlimme Wort, das Ney immer verfolgen sollte, war ausgesprochen, und er konnte es nie mehr zurückholen. Nachdem Ney gegangen war, sagte der König mit leichtem Kopfschütteln zu den Umstehenden: „In einem Käfig! Meine Herren, so viel verlangen wir doch gar nicht von ihm!“29
Doch auch Michel Ney sollte – wie Benjamin Constant – seinen großen Worten keine großen Taten folgen lassen. Ein ausgezeichneter, knorriger Soldat, zwar vor Büchern nicht zurückschreckend, jedoch auch kein Schriftgelehrter, sondern eher von schlichtem Gemüt, brach er jetzt nach Besançon auf, um zur königlichen Armee zu stoßen. Napoleon stand zu dieser Zeit vor Grenoble, und um seinen Vormarsch aufzuhalten, würde Ney mit Truppen gegen ihn ausrücken müssen. Nachdem bereits die erste gegen Napoleon ausgeschickte Einheit – es war dies das 5. Linieninfanterieregiment – am 7. März bei Grenoble (genau: bei Laffrey) zu ihm übergelaufen war, würde dies sehr schwierig werden. Ney erkannte das ganz genau, schwankte zwischen Loyalität zu Ludwig XVIII. und zu seinem einstigen Dienstherrn Napoleon I. hin und her, erinnerte sich der oft so herabsetzenden Behandlung, welche die zurückgekehrten Bourbonen ihm und anderen verdienten Würdenträgern des Kaiserreiches zugemutet hatten. Dazu kam der Eindruck, den eine ihm vorliegende Proklamation Napoleons bei ihm hinterließ: „Der Adler wird mit den Nationalfarben von Kirchturm zu Kirchturm bis zu den Türmen von Notre-Dame fliegen.“30 Ney konnte sich zu keinem Entschluß durchringen, sondern ließ sich nur treiben und wartete darauf, daß der Kaiser ihm sagte, was er zu tun habe. Später suchte sich Ney zu rechtfertigen, indem er äußerte: „Ich war in einen Sturm geraten, ich hatte den Kopf verloren.“31 Dementsprechend gab Ney vor den königlichen Soldaten, die er gegen Napoleon hätte führen sollen, bei einer Parade in Lons in seinem Aufruf bekannt: „Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten! Die Sache der Bourbonen ist für immer verloren …“32 Die versammelten Truppen brachen auf der Stelle in Begeisterung aus, so daß Ney mit seiner Mutmaßung recht hatte, diese hätten ihre Entscheidung schon seit Tagen getroffen.
Am 25. März traf Ney in Auxerre mit Napoleon zusammen und führte ihm seine Truppen zu. Zwar erwähnte Ney dabei selbst sein Diktum vom eisernen Käfig, aber Napoleon ging darauf gar nicht ein und versäumte es, mit dem Marschall wieder „ins Reine“ zu kommen. Genau das jedoch sollte sich bei Waterloo bitter rächen, wo Ney durch seine Fehler stark zu der Niederlage Napoleons beitrug.33 Für seinen Verrat, den ihm der sonst eher nachsichtige König Ludwig XVIII. niemals verzieh, sollte der unglückliche Ney nach der zweiten bourbonischen Restauration standrechtlich erschossen werden (7. Dezember 1815). In diesem speziellen Fall erwies sich der Wankelmut für denjenigen, der ihn bei Napoleons Rückkehr von Elba an den Tag legte, als tödlich.

Anmerkungen

1 Der „Moniteur universel“ wurde im Jahre 1789 in Paris von Charles-Joseph Panckouke gegründet. Lange Zeit das offizielle Organ der jeweiligen französischen Regierung, erschien die erste Ausgabe am 24. November 1789, die letzte am 30. Juni 1901. Da das Blatt oftmals die Fakten im Sinne der Obrigkeit „zurechtlog“, wurde es von bösen Zungen auch „Menteur“ (dt.: Lügner) genannt.
2 Sieburg, Friedrich: Napoleon. Die hundert Tage. Neuausgabe. Stuttgart 1981, S. 279.
3 Zitiert nach: ebenda.
4 Zitiert nach: ebenda.
5 Zitiert nach: ebenda.
6 Zitiert nach: ebenda.
7 Zitiert nach: ebenda.
8 Zitiert nach: ebenda, S. 280.
9 Zitate nach: ebenda.
10 Zitiert nach: Boyer, Richard O. / Morais, Herbert M.: Labour´s Untold Story. New York 1955, S. 187 (im englischen Original: „to destroy the truth; to lie outright; to pervert; to vilify“).
11 Zitiert nach: ebenda (im englischen Original: „We are intellectual prostitutes.“).
12 Das „Journal des Débats“ wurde nach dem Zusammentritt der französischen Generalstände im Mai 1789 ins Leben gerufen und bot nach dem Ausbruch der Französischen Revolution die exakte Wiedergabe der Debatten in der Nationalversammlung zu Paris. Geleitet wurde das Blatt ab 1799 von dem Journalisten Louis-François Bertin und erschien unter wechselndem Namen bis ins Jahr 1944 hinein.
13 Zitiert nach: Kröger, Alfred (Hg.): Napoleon kam bis Waterloo. Die Hundert Tage im Spiegel der zeitgenössischen Presse. München 1968, S. 32 f.
14 Zitiert nach: ebenda, S. 33.
15 Ebenda, S. 42.
16 Zitiert nach: ebenda, S. 44.
17 Zitiert nach: ebenda, S. 53.
18 Zitiert nach: ebenda, S. 69.
19 Zitiert nach: ebenda, S. 71.
20 Zitiert nach: ebenda, S. 81.
21 Zitiert nach: ebenda.
22 Ebenda, S. 92–95.
23 Zitiert nach: F. Sieburg, Napoleon, S. 257.
24 Zitiert nach: ebenda, S. 257 f.
25 Zitiert nach: ebenda, S. 310.
26 Ebenda, S. 296–301.
27 Vgl. dazu Anm. 24.
28 Zitiert nach: F. Sieburg, Napoleon, S. 144.
29 Zitiert nach: ebenda.
30 Zitiert nach: Bainville, Jacques: Napoleon. Aus dem Französischen übertragen von Luise Laporte. München 1950, S. 509.
31 Zitiert nach: F. Sieburg, Napoleon, S. 233.
32 Zitiert nach: ebenda, S. 235.
33 Ebenda, S. 237–239.

 
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