Der weststeirische Dichterarzt Hans Kloepfer (1867–1944) ist in seiner Heimat bis heute unvergessen geblieben. Vor allem seine zwei Gedichtbände „Joahrlauf“ und „Erntedank“ begeistern auch in unserer Zeit Menschen, die sich dem ländlichen Leben zugeneigt fühlen. Ein Festkommers der Grazer Sängerschaft Gothia und des Akademischen Turnvereins Graz sowie der Pennalverbindung „Hans Kloepfer“, mitveranstaltet vom Leopold Stocker Verlag, ehrte den Dichter zu seinem 150. Geburtstag. Während sich eine Festrede mit der Person Hans Kloepfer selbst befaßte, entwarf die andere ein Bild seiner Zeit. Diese Rede, gehalten vom Obmann des Akademischen Turnvereins Graz, ist im Anschluß wiedergegeben.
Hans Kloepfers Schaffensperiode war von 1912 bis 1941, umfaßte also die Zeitspanne der beiden Weltkriege und der Zwischenkriegszeit. Ich möchte aus dieser Zeit fünf Bilder in den Raum stellen. Ich möchte nicht bewerten, sondern diese Zeit vergegenwärtigen. Ich werde Bilder einer zerfallenden Welt zeichnen. Doch bevor ich darauf eingehe, wie Hans Kloepfer diesem Schicksal trotzt, beginne ich mit den Bildern seiner Zeit.
Ich lasse Stefan Zweig1 zu Wort kommen:
Da, am 28. Juni 1914, fiel jener Schuß in Sarajewo, der die Welt der Sicherheit und der schöpferischen Vernunft, in der wir erzogen, erwachsen und beheimatet waren, in einer einzigen Sekunde wie ein hohles tönernes Gefäß in tausend Stücke schlug.
Er beschreibt dann die Mobilisierung wie folgt:
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. […] Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. […] Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen.
Wieder zitiere ich Stefan Zweig2:
[…] dieses Österreich, das doch nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte. Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen; was übrigblieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend. Von den sechs oder sieben Millionen, die man zwang, sich ‚Deutsch-Österreicher‘ zu nennen, drängte die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig zusammen; die Fabriken, die das Land früher bereichert, lagen auf fremdem Gebiet, die Eisenbahnen waren zu kläglichen Stümpfen geworden, der Nationalbank hatte man ihr Gold genommen und dafür die gigantische Last der Kriegsanleihe aufgebürdet. […] Nach aller irdischen Voraussicht konnte dieses von den Siegerstaaten künstlich geschaffene Land nicht unabhängig leben und – alle Parteien, die sozialistische, die klerikalen, die nationalen schrien es aus einem Munde – wollte gar nicht selbständig leben. […] Österreich wünschte entweder mit den alten Nachbarstaaten wieder vereinigt zu werden oder mit dem stammesverwandten Deutschland, keinesfalls aber in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein zu führen.
Wir werfen einen Blick in die Neue Zeitung3 vom 29. Jänner 1919: sie berichtet über die Vorfälle in Marburg an der Drau, dem heutigen Maribor, die als Marburger Blutsonntag in die Geschichte eingehen sollten:
Graz 28. Jänner (1919). Gestern kam es anläßlich der Durchfahrt der englischen Kommission4 zu schweren Gewalttaten jugoslawischer Truppen gegen die deutschen Bewohner von Marburg. Über Erlaubnis der amerikanischen Mission veranstalteten die Einwohner kurz vor Mittag eine Demonstration. Der 20.000 Teilnehmer umfassende Zug begab sich zur Bezirkshauptmannschaft. […]
Plötzlich sah man, wie die vor dem Rathause aufgestellten slowenischen Soldaten schußfertig machten. Ein slowenisches Kommando erscholl und es krachte die erste Salve, die in die Luft abgegeben wurde. Die nächsten Schüsse fielen schon mitten in die Menschenmenge: man sah viele Menschen zu Boden stürzen, alles wandte sich zur Flucht. Die Soldaten schossen weiter in die flüchtende Menge. Im Ganzen dürften 120 bis 150 Schüsse gefallen sein. Zehn Minuten später war die Stadt wie ausgestorben.
Soweit die Neue Zeitung. Zum Zeitpunkt der Vorfälle war die Amerikanische Kommission zur Klärung der Grenzstreitigkeiten in der Stadt und wurde von den Ereignissen gezielt abgeschirmt. Damit fiel das deutschsprachige Marburg zu Unrecht an Jugoslawien. Die Situation war nicht einzigartig in Europa. So waren zum Beispiel auch Agram, Pettau, Laibach, Gottschee und das Sudetenland deutschsprachig, Istrien, Fiume5 und die dalmatinische Küste waren italienischsprachig. 30 Jahre später sollten diese Volksgruppen verschwunden sein, teils vertrieben, teils ermordet, teils assimiliert. Heute ist all das zu Unrecht vergessen. Zu Kloepfers Zeit war dies präsent, wühlte die Seelen heftig auf.
Die Geschichte der 1930er Jahre ist hochkomplex. Dennoch waren drei ganz wesentliche Ereignisse prägend:
Das erste Ereignis war ein großer globaler Wirtschaftsaufschwung. Auslöser waren die Bestrebungen des US-Präsidenten Roosevelt mit dem „New Deal“ die Weltwirtschaftskrise zu überwinden6. Dazu hatten die Amerikaner die Geldmenge M17 unter Abschaffung des Goldstandards8 kräftig erhöht, und zwar gleich um 10?% jährlich9. Zugleich wurden die Reparationsforderungen gegenüber Deutschland de facto beendet10, wodurch sich auch in Deutschland die Geldmenge kräftig erhöhte. Zusätzlich erhöhte die deutsche Reichsbank die Geldmenge über Finanzkonstrukte11. Die jeweiligen Staaten investierten riesige Geldmengen in große staatliche Infrastrukturprojekte, um Arbeitsplätze zu schaffen. In der Folge verdoppelte (!) sich die deutsche Wirtschaftsleistung12 in den 1930er Jahren13. Die Geldwelle erreichte Österreich nach dem Anschluß. Die Liste der österreichischen Großprojekte dieser Zeit ist lange: die heutigen Flughäfen14, das österreichische Autobahnnetz, die Schwerindustriezone Linz, die Raffinerie Schwechat und vieles mehr wurde gebaut. Der Grundstein für den Sozialstaat wurde gelegt. Der Kontrast hätte nicht größer sein können. Von Massenarbeitslosigkeit, Hungersnot und tiefster Rezession hatte man über Nacht in den USA, in Deutschland und anschließend auch Österreich Vollbeschäftigung, Wirtschaftsboom und soziale Absicherung. Zur Nachahmung sind solche massiven Konjunkturpakete dennoch nicht empfohlen, denn der Preis dafür kommt später. Aber das interessierte Anfang der 30er Jahre niemanden.
Das zweite wesentliche Ereignis waren die sichtbar werdenden Folgen der russischen Revolution. Lenin hatte dem Kapitalismus, den Großbauern, den Unternehmern, den Händlern, den Bürgerlichen und der Kirche den Kampf angesagt. Handel, Industrie, Landwirtschaft und Kirchenbesitz wurden enteignet. Wirtschaftlich war das bolschewistische Programm eine Katastrophe. In den 1920er und 1930er Jahren starben über 10 Millionen Sowjetbürger an Hunger. Das wirtschaftliche Elend war grenzenlos. Um die Lage politisch zu stabilisieren, wurden insgesamt weitere 20 Millionen Menschen ermordet. So eine Entwicklung wollte man in Europa unter keinen Umständen haben.
Das dritte wesentliche Ereignis war, daß 1932 Hitler an die Macht kam. Hitlers offene Worte gegen den Bolschewismus brachten ihm die Sympathie der Engländer, der Amerikaner, der übrigen Europäer und des Vatikans15. Der wirtschaftliche Aufschwung und die Vollbeschäftigung brachten ihm die Sympathie des Volkes.
Ich möchte hier noch zwei Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Zum einen den damals 25jährigen Bruno Kreisky, später langjähriger Vorsitzender der SPÖ. Er war 1936 unter dem Dollfuß-Regime inhaftiert und verbrachte ein Jahr in Kerkerhaft und mit Gesprächen mit mitinhaftierten Kommunisten und Nationalsozialisten. Er schreibt16, daß diese Leute keine Ahnung von Ideologie hatten und die Unterschiede zwischen Marxismus, Sozialismus und Nationalsozialismus nicht verstanden. Das bedeutet zugleich, daß Ideologie und politische Einstellung damals unter den einfachen Leuten nicht die Bedeutung hatte, wie heute angenommen wird. Den Leuten auf der Straße ging es um die eigene wirtschaftliche Situation. Jeder wollte am deutschen Wirtschaftswunder teilhaben, und so war die Begeisterung für den Anschluß parteiübergreifend17. All das hatte mit Ideologie oder politischer Einstellung nichts zu tun.
Der zweite wichtige Zeitzeuge ist wieder Stefan Zweig. Er schreibt wie folgt:
„Ich muß bekennen, daß wir alle 1933 und noch 1934 in Deutschland und Österreich jedesmal nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel dessen für möglich gehalten haben, was dann immer wenige Wochen später hereinbrechen sollte.“18
Stefan Zweig bezieht sich hier auf eine Reihe von Ereignissen, die kein Mensch vorhersehen konnte, die aber Schritt für Schritt die Lage gänzlich veränderten. Er bezieht sich auf die harte Verfolgung der Kommunisten nach dem Reichstagsbrand 1933, der die Bürgerrechte aushebelte, den Anschluß Österreichs 1938, der die Engländer nervös machte, die Pogrome gegen die Juden Ende 1938, die eine Flüchtlingswelle auslösten und die Nachbarstaaten Deutschlands in Bedrängnis brachten, die Besetzung des Sudetenlandes und der Rest-Tschechei, die das Vertrauen der Engländer zerstörten usw. Diese Ereignisse sowie ein drohender Staatsbankrott Deutschlands, verursacht durch das massiv angewachsene Staatsdefizit leiteten die nächste Phase ein, die niemand vorhersah.
Die Engländer waren durch die Sudetenkrise, die Besetzung der Tschechei und Österreichs sehr nervös geworden.19 Mit den Sympathien der Alliierten für Hitler war es mit dem Einmarsch in Polen im Jahr 1939 dann endgültig vorbei. Viel Kapital floß aus Deutschland ab, die Geldmenge implodierte, die Staatsschulden explodierten und die Wirtschaftslage verdüsterte sich rasch. Mit Kriegsbeginn verlor Hitler sowohl beim Volk als auch im Militär rasch an Popularität und er mußte immer stärker auf Repression setzen. Allein von hochrangigen Militärs gab es 20 Attentatsversuche auf Hitler. Zuletzt von Graf von Stauffenberg im Juli 1944. Wie alle anderen Attentäter wurde Stauffenberg nach dem Attentatsversuch unverzüglich an die Wand gestellt. Auch jedem, der sein Mißfallen an Politik, Partei oder Führer kundtat, ereilte ein ähnliches Schicksal.
Ich erspare mir hier, die grauenhafte Zeit des Zweiten Weltkrieges zu beschreiben. Ein Krieg der Superlative in jeder Beziehung, auch was die Anzahl der zivilen Opfer betrifft. Es war eine Welt der grenzenlosen Gewalt, eine Welt der Entwurzelten in einer Maschinerie, die jeder Kontrolle entglitten war. Ein Wahn und ein Ende mit totalem Chaos, Grauen und Schrecken.
Es scheint, das Schicksal würde in diesen Zeiten den Menschen in eiserne Ketten schlagen. Wie ein roter Faden zieht sich das Ringen um innere Freiheit durch die Werke Hans Kloepfers.
Hans Kloepfer skizziert die Stimmungen seiner Zeit sehr feinfühlig. Dunkle Schatten zeichnen sein Spätwerk, da und dort zeigt er vorsichtige Zeichen einer Auflehnung gegen die Zeit. Seine Freiheit, die er sich und seinen Lesern schafft, ist aber eine innere. Er ist in vielfacher Weise geradezu konträr zum Zeitgeist. Er lebt aus der Mitte in einer Zeit, in der alle Getriebene sind. Er hat Humor in einer Zeit, in der es nichts zu lachen gibt. Er ist mitfühlend in einer Zeit, in der das Gesetz des Stärkeren zum obersten Glaubenssatz erhoben wird. Er wirkt verbindend in einer Zeit, in der alles zerfällt. Er unterwirft sich nicht blind seinen Zielen allein, sondern er pflegt stets die Begegnung mit den Menschen. Den Sinn sucht er nicht in Ideologien, sondern im Verbundensein mit Mensch, Heimat und Natur. Statt zu urteilen und zu bewerten, begegnet er allen Menschen mit tiefem Mitgefühl. Ganz anders als die offizielle Politik zeichnet Hans Kloepfer ein Bild von einem gefangenen Russen einfühlsam, würdevoll und völkerverbindend. Er überspringt Standesgrenzen, ist mit den einfachen Bauern genauso auf einer Augenhöhe wie mit Akademikern. Einem Zeitgeist, der mit allen Traditionen bricht, trotzt er mit der Mundart.
In diesem Sinne wünsche ich allen viel Freude mit Hans Kloepfer. Auf die Treue zu uns selbst kommt es an, und diese lebt nur in der echten Begegnung mit Mensch, Heimatland und Natur, vermischt mit einer guten Prise Humor und Hausverstand.
Gedichte von Hans Klöpfer aus: „Heimliche ‚Kiebe“
A gfongana Ruß, a großmächtana Monn,
ban Zenz in da Wial kriagg an wehtandn Zohn;
und er jammat und haust, und da Dokta so weit,
und die Oarbat so gnedi und koans hot just Zeit,
daß dan obi kunnt füahrn bis auf Eibiswold nein –
wall alloan derft a net, muaß a Wochta mit sein.
Zlest denkt si die Bäurin, i kunnt’s ja probirn,
sull mei Hiaserl den Russn zan Zähntreißn füahrn.
(Dos is ihr jüngsts Büabl, grod sechsjahri heut,
roatgwanglt, kloanwunzi, oba witzi und gscheit!)
Und sie ruaftn vun Schoufholtn hoam vun da Holt:
„Steck die Schuach an, muaßt obi zan Dokta z’ Eibiswold!
Und i liaß ’n schöa grüaßn und i bitt ’n holt recht,
ob da denn unsan Russn net zähntreißn möcht.
Und nimmst ’s Rucksackl mit, bringst vun Krommar an Tee
und a schmiedani Sterzpfonn und an Packlkaffee
und um drei Kreiza Zwirn und um zwölf Kreiza Zimbt
und froggst eini ban Firba, wo da Blaudruck bold kimmbt.“
Af Eibiswold braucht ma vier Stund. Jo und duat
sogg die Köchin vun Dokta: „Scha, grod is a fuat!“
Schofft da Hiaserl in Russn: „Do setz di hiaz nein
ins Vorhaus und woartast, i kaf dawal ein!“
Und da Ruß sitzt scha do und sogt „dobre“ und locht,
und dawal hot da Hiaserl seini Weg olli gmocht.
Wia s’ firti san, gengan s’ mitanona schöa stad
wieda hoamzua. Do hebbs on zan schneibm und waht,
doß ma völli di Hond vor die Augn neama siacht.
Und da Hiaserl wird müad, wal da Rucksack so ziacht.
Den nimmt da Ruß üba. Und ’s schneibb wia net gscheit,
und longsam wird’s finsta und da Weg noch so weit!
Da Hiaserl muaß olli Biat rastn in Schnee,
möcht am liabstn gern schlofn und die Füaß tant eahm weh.
Do nimmb da Ruß ’s Büaberl gonz still aufn Oarm,
hüllt ’n Montl guat üba und troggn schöa woarm
üban Boch, durchn Wold, der mit Blochhulz varramt,
und da Wochta hot gschlofn und wunnaschön tramt
vun da Regerl ihr Goaß und vun Christkindlbam
und wou wul da Vota vun Kriag wieda kam;
und gspürt’s net, wann da Ruß eahm oft hoamli hot druckt,
und wird richti erst munta, wia ’s Torgatta zuckt.
Duat stellt er ’n schöa gschmeidi af d’ Füaß vorn Haus
(denn wia schauat da Hiaserl ols Wochta sist aus!).
Und sie löffln a Suppm, und die Muatta woar froh,
und da Ruß krallt gemüatli in Stodl intas Stroh,
und is bacherlwoarm glegn, dawal da Schneewind hersolzt,
– – und hot tramt, doß sei Büaberl in Rußland eahm holst.
Ich kehre heim beim Licht der ersten Sterne
aus hohen Wäldern, drin die Nacht nun geht,
ein Ave klingt aus dämmerdunkler Ferne,
und meine Seele wandelt im Gebet.
Von Berg zu Tal im schwarzen Schollengrunde
hat Licht um Licht die Augen aufgetan
und langsam hebt, wie zu geweihter Stunde,
die Menschenerde still zu reden an.
Da bauen sich aus weiten Einsamkeiten
die hohen Almen schweigend in die Nacht;
des Lebens Urform hält an ihren Leiten
in Einschichthöfen alte Feuerwacht.
Von harter Fron zu müder Ruhe liegen
die Steingeleise der Genügsamkeit,
im grauen Hochwald wachsen junge Wiegen
und stille Särge für die alte Zeit.
Und mir zu Füßen glänzt aus Markt und Gassen
die Traulichkeit im gelben Lampenschein;
da geht das Leben ehrbar und gelassen
am Gängelbande der Geschlechterreihn.
Noch einmal bettelt unter Kinderhänden
die Klingeltür um letzten Alltagskram,
und Abendtrunk und kluge Reden enden
nicht eh’r, bevor der Wächter dreimal kam.
Doch draußen hinter schwarzen Schlackenwellen
schlägt blutig auf der Eisenhütten Schein;
die Hämmer dröhnen und Sirenen gellen
das Lied der Arbeit in die Nacht hinein.
Im tiefen Schacht pocht schweigend und verschlossen
das Volk der Zukunft an die Bergesbrust,
um jähen Rucks die Tore aufzustoßen
zur lichten Welt und ihrer leichten Lust.
Weit ist die Ruh – Aus hundert Heimatquellen
füllt sich des Lebens fernes Stromgebraus,
und jede trägt auf ihren kleinen Wellen
ein Menschenschicksal in die Nacht hinaus. –
Und meines ist heut lächelndes Erwarten,
wenn ich zur Schwelle kehr den müden Fuß,
ein Amselruf aus Gottes Frühlingsgarten
bei meiner Kinder frohem Abendgruß.
Volk – in leichtverwognem Mute
jagt ihr’s keck in euren Streit,
daß es zahl mit seinem Blute
eure kurze Herrlichkeit.
Nimmer ist’s die laute Masse,
die ihr auf die Straße hetzt,
bis sie, blind in Gunst und Hasse,
auf den Götzenthron euch setzt.
Volk – das kommt aus Ewigkeiten,
ist ein tiefes, dunkles Meer,
vom Jahrhundertweg der Zeiten
müdes, schlafumfangnes Heer.
Volk – das wohnt vor dunklen Wäldern,
über sich das Sternenzelt,
gräbt aus morgenfrühen Feldern
seine garbenkarge Welt.
Volk – das lebt in alten Märchen,
wie sie einst die Mutter sang,
glänzt von blonden Kinderhärchen
sorglos auf am Blütenhang;
trägt wie unter tiefen Narben
seines Schöpfers Ebenbild,
das in stillverblichnen Farben
erst ums Totenantlitz spielt,
Volk – das ist ein stummer Riese,
der an Weltenfesten baut
und aus dämmerndem Verliese
selten nur die Sonne schaut.
Aber wenn es aufgestanden,
seinen Herrgott in der Faust,
ist’s der Föhn, der, frei von Banden,
von den Bergen niederbraust,
ist’s der Herr am Jüngsten Tage,
der sein donnernd „Schuldig“ spricht
und vor überladner Waage
blutig hält sein Weltgericht.
A weiter Hof auf mogrer Leitn
und vor’n Stoll a Röhrnbrunn,
und Feld und Acker boaderseitn,
a Schöckerl Kinna in der Sunn;
und enters Khog vull Dörn und Stoana
dos liabe Viech auf freier Weid,
a Jauza, weit woher, a kloana –
so han i’s kennt seit Ewigkeit.
Und heut schaut’s her, ols gang’s ans Sterbm,
wos mar a red’t, diktiert und schreibb,
als sullt dos ollas still vaderbm,
und koana woaß, wos übri bleibb.
Wos übri bleibb? Mein, Wold und Wildnus,
wo Füx und Hasn Hoazat hant,
vun marbm Kreuz a Herrgottsbildnus
schaut weitaus übers laari Land.
Und woar a Welt do vulla Wunda
in Fleiß und Andacht, Kraft und Gmüat,
in Red und Handl, und mitunta
vull Lust und Gspoaß in Spruch und Liad.
Wos sie derbaut hot und derzüglt,
von Nutzn woar’s ’n gonzn Lond,
vun Fürst und Herrn vabriaft und gsieglt
ihrn ehrnreichn Bauernstond.
I hör a Glöggerl schun va weitn,
das anhebt, aussetzt, dann und wann,
ma hoaßt’s ban uns Vaschiediläutn
und frog si homali: Wen geht’s an?
Jo, wen geht’s an? – An starkn, groaßn
uroltn Stond vull Zucht und Ehr;
wia vor a Fürtengruft wird’s hoaßn:
„Heut Bauer no’ – und neamamehr!“
1?Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1942), Kapitel 10, Glanz und Schatten über Europa
2?Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1942), Kapitel 14, Heimkehr nach Österreich
3?Herausgegeben in Wien, Hetzgasse 20 als „Die Neue Zeitung. Illustriertes unabhängiges Tagblatt“
4?Anm.: Gemeint ist hier die Kommission der Alliierten.
5?Heute: Rijeka.
6?Nach dem Konzept von John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace (1919).
7?M1 bezeichnet das umlaufende Bargeld und täglich fällige Bankguthaben.
8?Der Goldstandard wurde abgeschafft. Nach dem „United States Gold Reserve Act“ vom 30. Jänner 1934 mußte der gesamte private Goldbesitz in den USA an den Staat zu einem festgesetzten Preis abgeliefert werden.
9?Der New Deal von US-Präsident Roosevelt. Die Geldmenge wurde zwischen 1933 und 1937 um 10?% jährlich erhöht.
10?Konferenz von Lausanne 9. Juli 1932. Die vereinbarten reduzierten Restzahlungen und Zinszahlungen wurden aber weder von der deutschen Regierung bezahlt noch von den Gläubigern eingefordert.
11?Ab 1932 emittierte die deutsche Reichsbank unter dem deutschen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht über Scheinfirmen (un-)gedeckte Wechsel (Öffa-Wechsel, später auch Mefo-Wechsel), mit denen Staatsausgaben bezahlt wurden. Die damit verbundenen Staatsschulden tauchten in den Haushalten nicht auf.
12?Inflationsbereinigt war das Bruttosozialprodukt Deutschlands von 1939 um 85?% höher als 1932.
13?Zwischen 1932 und 1939.
14?Die Flughäfen Schwechat, Hörsching und Zeltweg wurden 1938 neu errichtet, die Flughäfen Salzburg und Graz wurden modernisiert und ausgebaut.
15?Englische Medien berichteten hoffnungsvoll vom neuen Reichskanzler in Deutschland. Der britische König Edward VIII. empfing Hitler privat und machte aus seinen großen Sympathien für Hitler kein Hehl. Die Politiker Europas, ja selbst Rußlands machten ihm den Hof und zollten ihm Respekt. Papst Pius XI. empfing Hitler in mehreren Audienzen und lobte ihn als einen Vorkämpfer gegen den Bolschewismus.
16?Ulrike Felber (Hrsg.), auch schon eine Vergangenheit. Gefängnistagebuch und Korrespondenzen von Bruno Kreisky
17?Auf dem Parteitag am 31. Oktober und 1. November 1918 erklärte Otto Bauer, vom nationalen Standpunkt als Deutsche und vom internationalen Standpunkt als Sozialdemokraten müsse man den Anschluß an Deutschland verlangen.
18?Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1942). Kapitel 17, Incipit Hitler (Incipit bedeutet „Der Anfang“)
19?John Gunther, The High Cost of Hitler (1939)