Im Zusammenhang mit der zunehmenden Militarisierung Osteuropas aufgrund des Bürgerkriegskonfliktes in der Ukraine war in letzter Zeit in vielen westlichen Medien sowie in politischen Verlautbarungen aus den USA und einiger europäischer Nato-Staaten immer wieder zu hören, daß die baltischen Völker einen russischen Einmarsch in ihre Länder befürchten. Argumentativ untermauert wurde diese Behauptung mit der historischen Erinnerung der Esten, Letten und Litauer daran daß das Baltikum für längere Zeiträume Teil des Russischen Reiches war und die baltischen Länder nach verhältnismäßig kurzer Zeit staatlicher Souveränität in der Zwischenkriegszeit (1918 bis 1940), im Juni 1940 von der Sowjetunion annektiert wurden.
Der unreflektierte historische Hintergrund dieser Art der Argumentation ist zwar im großen und ganzen richtig, die Schlußfolgerung allerdings, daß daraus automatisch auch eine russische Gefahr für die Gegenwart drohe und diese von den Völkern dort auch so gesehen werde, bleibt aber zumindest differenzierungs- und diskussionswürdig. Dies nicht nur weil die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen seit dem 29.März 2004 zur Nato gehören und ein Angriff auf diese Länder den Bündnisfall nach § 5 des Nato-Vertrages bedeuten würde, sondern auch deswegen, weil mit dieser Argumentationsart der Eindruck erweckt wird, als dürfe Rußland dort möglichst überhaupt keine Interessen haben.
Doch Rußland und die baltischen Staaten sind Nachbarn. Estland und Lettland gegenüber Rußland vom Osten her und Litauen, durch das Königsberger Gebiet, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Rußland kam, vom Westen her. Genau diese geographische Tatsache beinhaltet nun einmal eo ipso gegenseitige Interessen in den Bereichen Geschichte und Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Sicherheit.
Historisch ist das, was wir heute Rußland nennen, bereits vor etwa 1000 Jahren im Norden des Baltikums präsent: zuerst als Rus und ab dem 12. Jahrhundert als Republik Nowgorod, die im Jahr 1136 die Unabhängigkeit von Kiew erreichte. Valentin Gitermann, Schweizer Historiker ukrainisch-jüdischer Herkunft, schreibt in seiner dreibändigen „Geschichte Rußlands“ (Europäische Verlagsanstalt Frankf./M., 1965, Bd. 1, S. 106), daß … „die Bevölkerung Nowgorods aus einer Verschmelzung slavischer, litauischer und warjagischer Elemente hervorgegangen …“ ist. Gitermann zufolge begannen also gemeinsame – und nicht gegenseitige – „russisch-baltische“ Interessen bereits vor über 1000 Jahren, als in Nowgorod, genannt auch „Gospodin Welikij Novgorod“, 989 n. Chr. die Sophien-Kathedrale gebaut wurde.
Geographisch fand die Bojaren-und Kaufleute-Republik westlich eine Ausdehnung bis in estnische Gebiete hinein, umschloß das ganze heutige, an der Ostsee gelegene Petersburger Gebiet und zog sich im Norden weit nach Finnland und im Nordosten nach Karelien hin. Die strategische Lage und die im westlichen Ostseeraum (Hanse) sehr gefragten Exportgüter, wie Pelze, Bienenwachs und Honig, Leinen und Hanf, Pech und Teer sowie Walroß- und Fischtran, der im Weißen Meer gewonnen wurde, weckten jedoch frühzeitig Eroberungsgelüste seitens der Schweden sowie der Dänen.
Vor dem Hintergrund der Christianisierung des Baltikums kam seit dem 13. Jahrhundert auch der Deutsche Orden beziehungsweise der Schwertbrüderorden, der sich über Riga, Dorpat und die Insel Ösel Livlands bemächtigte, in unmittelbare Nähe zu Nowgorod.
Dessen Beziehungen zur lübschen Hanse waren gut und die Hanse führte wegen des gewinnträchtigen Handels seit dem 13. Jahrhundert ein bedeutendes Handelskontor in der Stadt.
Mehr als 300 Jahre lang behauptete sich, trotz aller Anfeindungen und kriegerischer Auseinandersetzungen, die Republik Nowgorod auf erstaunlich hohem kulturellem und wirtschaftlichem Niveau. Es hatte so bekannte Führer, wie Alexander Newski hervorgebracht, der 1240 die von Papst Gregor IX. unterstützten Schweden an der Newa-Mündung und 1242 auf dem vereisten Peipus-See die deutschen Ordensritter besiegte.
Während die Kiewer Rus, auch durch den Einfall der Mongolen, mehr und mehr zerfiel und einzelne ihrer Fürstentümer gegenüber den Chanen tributpflichtig wurden, wuchs seit dem 14. Jahrhundert der Einfluß des Großfürstentums Litauen auf einige andere Rus-Fürstentümer und besonders auch auf die Republik Nowgorod.
Die bedeutenden Expansionserfolge des in seiner Führung nichtslawischen Großfürstentums Litauen im 14. und noch im 15. Jahrhundert in verschiedenen Rus-Ländern und der langsam nachlassende Druck des mongolischen Herrschaftssystems der Goldenen Horde ließ im Laufe des 15. bis Anfang des 16. Jahrhunderts das Großfürstentum Moskau zum neuen Sammlungskern der Rus-Länder werden. Hatte Ende des 13. Jahrhunderts das Moskauer Fürstentum eine Größe von lediglich etwa zehntausend Quadratkilometern, was etwa der heutigen Größe Kärntens entspricht, so wuchs es bis zum Tode Iwans III. 1505 auf 1,2 Millionen Quadratkilometer an.
Iwan III., der „Zar von ganz Rußland“ sein wollte, war es allerdings auch, der die bis dahin unabhängige Republik Nowgorod 1478 unterwarf, die man aufgrund ihrer geografischen Ausdehnung und ihrer Außenbeziehungen getrost als „rus-baltische“ Republik bezeichnen könnte.
Die Unterwerfung dieser Republik hatte allerdings eine fatale Auswirkung auf die Handelsbeziehungen mit Westeuropa. Das übrige Rußland unter der Führung Moskaus mußte nun über einen längeren Zeitraum neben den finanziellen Einbußen aus dem Handel auch viele begehrte westeuropäische Erzeugnisse entbehren. Nur allmählich entwickelten sich wieder Handelsbeziehungen mit dem Westen, die aber hinsichtlich einer Kontinuität und Stabilität nie an das Niveau Nowgorods heranreichten. Und auch jene langsam sich wieder entwickelnden Handelswege verliefen überwiegend über die baltischen Orte Narwa, Dorpat, Riga und Reval.
Die Esten und Letten, die in vorgeschichtlicher Zeit freie Völker waren, entwickelten keine eigene Staatlichkeit und gerieten im Laufe ihrer Geschichte seit dem 13. Jahrhundert wechselweise unter die Herrschaft Dänemarks, Schwedens, Rußlands, des Deutschen Ordens und zum Teil Litauen-Polens.
Estland und Teile Lettlands (das südliche Livland) wurden 1710 unter Peter I. (der Große) russisch und ab 1795, mit der letzten Teilung Polen-Litauens, auch der kurländische und lettgallische Teil Lettlands, der vorher zu Litauen-Polen gehörte. Die russische Herrschaft über die Gebiete Estlands und Lettlands, die im Russischen Reich als Ostseegouvernements geführt wurden, hielt faktisch bis 1915 an, also ganze 200 Jahre.
Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verhielten sich Esten und Letten überwiegend loyal gegenüber dem Zarenreich und dachten bis dahin nicht an die Errichtung selbstständiger Staaten, sondern strebten eher eine ethnische Autonomie innerhalb des Russischen Reiches an. Politische Unabhängigkeitskonzeptionen kamen erst nach der Besetzung der Gebiete durch das Deutsche Kaiserreich auf. So veröffentlichte einer der lettischen Nationalführer, Margers Skujenieks, 1916 seine Arbeit über „Die nationale Frage in Lettland“. Nationale Erweckungsbewegungen im kulturellen Bereich gab es seitens der Esten und Letten aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts.
Neben den Esten und Letten gehörte, mit dem Ausgang des letzten, des „Großen Nordischen Krieges“ (1700–1721) zwischen den Kriegsparteien der Triple-Allianz Rußland, der Personalunion Polen-Litauen-Sachsen unter August dem Starken und der dänisch-norwegischen Personalunion gegen das schwedische Reich, wobei es wiederholt um die Vorherrschaft im Ostseeraum ging, nunmehr auch die bedeutende und führende deutschbaltische Schicht in den ehemaligen baltischen Gebieten des Deutschen Ordens zum Herrschaftsgebiet des Russischen Reiches. Die Deutschbalten waren bald der russischen Reichsidee und dem Zaren treu ergeben. In den Ostseegouvernements behielten sie eine wesentliche Eigenständigkeit, beispielsweise in der städtischen Selbstverwaltung und in den deutschbaltischen Ritterschaften.
Ihr Einfluß in der Politik und Diplomatie sowie im Militärwesen des Russischen Reiches war enorm. So betrug ihr Anteil im diplomatischen Dienst im Jahr 1880 über 50 Prozent! Die Deutschbalten Robert Graf Nesselrode und Baron Budberg waren zaristische Außenminister und Baron Stackelberg russischer Gesandter auf dem Wiener Kongreß 1815. Russische Generäle waren beispielsweise Graf Wittgenstein, Graf Ingelström, Friedrich Graf Rüdiger oder Jacob von Hoyningen-Huene. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war noch jeder fünfte General der russischen Armee Deutscher.
Bemerkenswert bleibt, daß die politischen Loyalitäten in den Ostseegouvernements zum Reich trotz der Unterschiede in Schrift, Sprache und Religion – in den Gouvernements benutzte man vorwiegend das lateinische Alphabet neben dem kyrillischen, und konfessionsmäßig blieb man evangelisch – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges weitgehend aufrechterhalten blieben. Die Russifizierungsmaßnahmen, die unter dem Zaren Alexander III. in den 1880er und 1890er Jahren durchgeführt wurden, wirkten sich in den Beziehungen der autochthonen Esten und Letten sowie der Deutschbalten gegenüber den Russen, langfristig betrachtet, allerdings eher negativ aus.
War der livländische und estnische Part des Baltikums seit 1710 russisch, so geriet der größte Teil des ethnographischen Litauen, das seit Jahrhunderten mit Polen in einer Union stand, erst im Jahr 1795, mit der endgültigen Liquidierung ihrer einstmals bedeutenden Adelsrepublik aufgrund der 3. Teilung Polen-Litauens durch die drei Mächte Preußen, Rußland und Österreich, unter russische Herrschaft.
Der Grund für den Untergang dieses in der Geschichte Osteuropas einst so bedeutenden Reiches ist vielfältig und kann hier nicht im Einzelnen behandelt werden. Rußland als einzig Schuldigen hinzustellen, wie es dennoch in einigen überbordenden nationalistischen Kreisen Polens und Litauens immer wieder getan wird, ist sicherlich überzogen und wird von der professionellen Geschichtswissenschaft in dieser Form auch nicht geteilt.
Der staatliche Untergang ging „optisch“ wahrlich rasant vor sich, wenn man bedenkt, welche abendländische Rolle 1683 Polen-Litauen noch bei der Entsetzung Wiens von den Türken spielte, denn gut 100 Jahre danach war die adelige „Republik der Zwei Nationen“ nicht mehr existent.
Die ersten Ursachen dafür lagen, nach dem Aussterben der litauischen Jagiellonendynastie 1572, im zunehmenden ausländischen Einfluß auf das zur Wahlmonarchie gewordenen Landes. So wählte man 1587 den schwedischen katholischen Thronerben Sigismund aus dem Hause Wasa zum polnischen König und Großfürsten von Litauen, der dann aber im protestantischen Schweden als schwedischer König abgesetzt wurde, wogegen er sich wehrte und was zu einem Hineinziehen in die verheerenden und für die polnisch-litauische Union äußerst verlustreichen verschiedenen Nordische Kriege führte, die sich, mit kurzen Pausen, über einen Zeitraum von über 170 Jahren (!) hinzogen.
Weitere Ursachen sind in der schwach gehaltenen Königsmacht zu suchen, im vordergründigen Vorhandensein verschiedener stark divergierender Machtgruppen, nicht zuletzt auch in den unterschiedlichen nationalen (Litauer, Ruthenen, Polen) und religiösen (Katholiken, Unierte, Orthodoxe) Hintergründen.
Die meisten dieser Ursachen waren „hausgemacht“ und wurden in ihrer langfristigen Wirkweise unterschätzt; zeitgemäße reformerische Anpassungen an die veränderte Umwelt wurden unterlassen. Man bestand auf den „goldenen Freiheiten“ des Adels, wodurch ein jeder Sejm-Abgeordnete das Recht des Liberum Veto besaß (also Abstimmungen einstimmig sein mußten). Als Folge wurde die Union von innen immer schwächer und von außen immer stärker beeinflußt, so daß die von der französischen Aufklärung inspirierte Maiverfassung vom 3. Mai 1791 viel zu spät kam und von den konservativen Ländern Preußen, Österreich und Rußland natürlich im Spiegel der zur gleichen Zeit ausgebrochenen Französischen Revolution gesehen wurde. Sie beschlossen die neuen Unberechenbarkeiten dieser Entwicklung in ihrem Sinne zu steuern, und so kam es dann schnell zu den beiden letzten Teilungen Litauen-Polens 1792 und 1795. Europa war durch die Französische Revolution so sehr in Atem gehalten, daß es die letzten Teilungen, bis auf wenige warnende Stimmen, mehr oder weniger stillschweigend hinnahm.
Das, was man schon lange Völkerrecht nannte, war mit den Teilungen Polen-Litauens nun wirklich mit Füßen getreten. Der Zeitgenosse Edmund Burke apostrophierte bereits 1772 die erste Teilung als „the first very great breach in the political system of Europe“, und der ehemalige preußische Außenminister Graf Ewald Friedrich von Hertzberg, der sich in seiner Amtszeit von 1788 bis 1791 für einen reformierten, aber selbstständigen polnisch-litauischen Staat einsetzte und wegen des Nichterreichens dieses Zieles seinen Dienst quittierte, mahnte 1793 schriftlich: „Überhaupt aber ist das Recht, durch welches die drei Mächte sich Polen teilen, so verhaßt und Abscheu erregend, daß es ein ewiger Schandfleck in dem Ruhm der drei Regenten sein wird: Es verdunkelt ihren Namen in der Geschichte, und ich begreife nicht, wie sich diese Haltung mit ihrem Gewissen und ihrer Religiosität verträgt.“
Eine andere Deutsche, regierend und mächtig auf dem Zarenthron sitzend, Katharina die Große, die von russischer Seite verantwortlich für die Teilungen und größte Gewinnerin derselben war, sah dies offensichtlich anders, als sie ausrief: „Entrissenes habe ich zurückgebracht.“ Dies mag noch in gewisser Weise auf die ruthenischen bzw. rus-ländischen Teile des Großfürstentums Litauen anwendbar sein, aber sicher nicht auf die Kerngebiete Litauens, die mit einverleibt wurden. Das gleiche gilt für Polen. Ihr Nachfahre und Enkel Zar Alexander I. allerdings spürte die Mißtöne der Teilungen deutlich und suchte die zerschlagene Union im russischen Reichsverband neu zu etablieren. So wurde Adam Czartoryski, der einem litauischen Adelshaus entstammte, das sich von Konstantin Algirdowitsch Fürst von Tschortoryjsk, Sohn des Großfürsten Algirdas, ableitet, von Kaiser Alexander 1804 zu seinem Außenminister ernannt. Neben Czartoryski entwickelte ein anderer Vertreter eines litauischen Adelshauses, Mykolas Kleofas Oginskis, Konzeptionen zur Wiedererrichtung des Großfürstentums am Beispiel Finnlands, die von Alexander I. wohlwollend in Betracht gezogen wurden.
Doch im Dezember desselben Jahres (1804) ließ sich Napoleon zum Kaiser krönen und die Spannungen in Europa nahmen weiter zu. Die Projekte einer „Wiedererstehung der Union beziehungsweise des Großfürstentums im russischen Reichsverband“ mußten vorerst auf Eis gelegt werden. Rußland, Österreich, England und das Osmanische Reich schlossen sich zur „dritten Koalition“ gegenüber Frankreich zusammen, die allerdings 1805 in der Schlacht von Austerlitz kläglich versagte. 1807 verbündeten sich Russen und Preußen gegen Napoleon und rangen bei Preußisch-Eylau den Franzosen ein Remis ab. Bald danach gelang es Napoleon mit dem russischen Kaiser Alexander den Tilsiter Frieden (Juli 1807) zu schließen, der zwar vorläufig das preußisch-russische Bündnis obsolet werden ließ, aber den Angriffskrieg Frankreichs 1812 gegen das russische Kaiserreich letztlich doch nicht verhindern konnte.
Napoleons Rußland-Feldzug begann am 12. Juni 1812 auf litauischem Boden, und er fand dort schnell Kampfgefährten, die seine etwa 600.000 Mann starke Armee verstärkten. Unter diesen Freiwilligen waren viele kleinadlige Studenten und Offiziere der ehemaligen großfürstlichen litauischen Armee, die auf ein Wiedererstehen des Großfürstentums hofften. Dennoch verhielt sich der Großteil der Bevölkerung eher indifferent, ermüdet von den Jahren der vergangenen und jetzt wieder neu entbrannten Wirren. Ein einflußreicher, wenn auch zahlenmäßig nicht großer Teil stand weiterhin auf zaristischer Seite, darunter viele aus dem Hochadel wie Czartoryski und Oginskis.
Die Niederlage Napoleons im Rußlandfeldzug 1812 besiegelte für Litauen endgültig, so wie 1710 schon für Estland und Lettland, ein Aufgehen im Russischen Reich. Ein kleiner südwestlicher Teil Litauens verblieb als Ergebnis des Wiener Kongresses 1815 im dort gegründeten Kongreß-Polen, das allerdings ebenfalls Teil des Russischen Reiches war.
1831 und 1863 versuchten Aufständische in Litauen und Polen die Verhältnisse zu ändern, doch beide bewaffneten Erhebungen waren erfolglos. Diese Aufstände fanden, aufgrund der völkerrechtlichen Bedenken der Teilungen Polen-Litauens, in bürgerlich-demokratischen Kreisen Westeuropas zum Teil lebhafte proklamatorische Unterstützung. Doch die niedergeschlagenen Erhebungen führten nur zu einer Verschärfung des russischen Regimes. So wurde 1840 die bis dahin gültige 3. Fassung des Litauischen Statuts für weite Gebiete des ehemaligen Großfürstentums, das 1468 vom Großfürsten Kazimieras Jogailaitis eingeführt wurde und für weite Gebiete des ehemaligen Großfürstentums weiterhin Gültigkeit besaß, abgeschafft. 1864 wurde gar ein Verbot erlassen, die litauische Sprache in lateinischen Lettern zu drucken; ein Verbot, das bis 1905 galt. Die Aufstände spielten somit eine Rolle bei der Einsetzung von Russifizierungsmaßnahmen, unter denen dann später auch die nicht an diesen Erhebungen beteiligten Deutschbalten, Letten und Esten zu leiden hatten.
Die russische Herrschaft in den Ostseegouvernements und in Litauen hielt bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges an. Bereits im Kriegsjahr 1915 konnte Deutschland in Litauen und Lettland das militärisch verwaltete Gebiet „Ober-Ost“ etablieren, und Estland kam im September 1917 unter deutsche Kontrolle. Rußlands Krieg gegen Deutschland war in eine hoffnungslose Lage geraten. Bereits im Februar 1917 ereignete sich die erste Etappe des Revolutionsjahres in Rußland: Kerenski wurde Ministerpräsident, im März wurde Zar Nikolaus II. zur Abdankung gezwungen und sieben Monate später fand die bolschewistische Oktoberrevolution statt. Das Russische Kaiserreich hörte auf zu existieren.
Mit dem Frieden von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten, in der Hauptsache das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, und dem bolschewistischen Rußland am 3. März 1918, schied Rußland offiziell als Kriegsteilnehmer aus, nachdem bereits am 15. Dezember 1917 an der ganzen Ostfront der Waffenstillstand in Kraft gesetzt worden war. Der Bevollmächtigte der deutschen Obersten Heeresleitung (OHL), General Max Hoffmann, forderte während der Verhandlungen in Brest-Litowsk am 18. Januar 1918 unmißverständlich die Anerkennung der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens von Rußland. Das deutsche Ziel, im Baltikum von Deutschland abhängige Pufferstaaten zu etablieren, war offenkundig. Trotzki bat um eine Verhandlungspause und kehrte erst am 30. Januar an den Verhandlungstisch zurück. Eine Einigung kam vorerst nicht zustande. Am 16. Februar teilte die OHL mit, daß sie die Waffenstillstandsvereinbarung mit dem 17. Februar als abgelaufen betrachte und begann dann auch sofort und erfolgreich mit neuen Kampfhandlungen. Lenin befahl der sowjetischen Delegation eine Änderung im Verhandlungsstil mit den Mittelmächten, und am 3. März 1918 wurde der Friedensvertrag in Brest-Litowsk unterzeichnet, mit dem Rußland die Unabhängigkeit von Finnland, Lettland, Litauen, der Ukraine und Polen anerkannte sowie der weiteren Besetzung Estlands und Weißrutheniens (Weißrußland) durch deutsche Truppen zustimmte.
Trotz des Sieges an der Ostfront verloren die Mittelmächte den Ersten Weltkrieg und die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich brachen zusammen, wie ein Jahr zuvor das russische Kaiserreich. Die Nachkriegsordnung, beeinflußt durch die verschiedenen Pariser Vorortsverträge, begann. 1918 ist als Beginn der Entstehung der baltischen Staaten im heutigen Sinne zu verstehen.
Die 1917 gegründete Sowjetrepublik unterschied sich in der politischen Verfassung, in der Wirtschaftsform und besonders im russischen Selbstverständnis extrem vom Russischen Reich. In der Frühzeit der Sowjetunion, 1924, schrieb der Zeitgenosse Werner Sombart, auf den sich selbst Lenin in früheren diversen Schriften berief, „… daß aller proletarische Sozialismus, daß also der Bolschewismus, der nichts ist als die Inkarnation der Ideen des proletarischen, das heißt also marxistischen Sozialismus, seinem inneren Wesen nach unrussisch, ja, antirussisch ist“. In der sowjetischen Führung hatten über lange Zeiträume Nichtrussen eindeutig die Mehrheit. Sombart, neben Max Weber einer der weltweit anerkanntesten Soziologen seiner Zeit, kannte Rußland durch verschiedene Reisen. Seine Publikationen wurden in der Sowjetunion alsbald verboten.
Die Beziehungen dieser neuartigen sowjetischen Staatsform beziehungsweise der 1922 gegründeten Sowjetunion zu den baltischen Staaten gestalteten sich alles andere als reibungslos. Bereits am 13. November 1918 annullierte die Sowjetregierung den Brester Frieden und griff estnische Einheiten in Narva an, zu Weihnachten fiel Dorpat in bolschewistische Hände. Am 2. Januar 1919 mußte die lettische Hauptstadt Riga aufgegeben werden, und über das lettische Kurland drangen die sowjetischen Truppen bis nach Nordlitauen vor, die erst vor Kedainiai zum Stehen gebracht wurden. Doch vom Osten her konnte die 2. sowjetische Pleskauer Division am 6. Januar dennoch ins litauische Wilna einmarschieren, so daß die litauische Regierung sich nach Kaunas (Kowno) zurückziehen mußte. Der Widerstand der kurz vorher aufgebauten regulären Armeen in Estland und Litauen gegen die sowjetischen Eindringlinge war aber letztlich erfolgreich, und zum ersten Jahrestag der estnischen Unabhängigkeitserklärung am 24. Februar 1919 war Estland komplett freigekämpft. In Litauen zogen sich die Kämpfe noch bis in den Sommer 1919 hin, doch dann war auch dieses Land von sowjetischen Truppen befreit.
Bürgerliche lettische Kreise, die den Lettischen Volksrat bildeten, erklärten Lettland am 18. November für unabhängig und wählten Karlis Ulmanis zum Ministerpräsidenten. Doch seine Regierung fand in der breiten lettischen Bevölkerung, in der auch sozialistische und rätedemokratische Vorstellungen eine wichtige Rolle spielten, nicht die gewünschte Unterstützung, und die zahlenmäßig nicht unbedeutenden jüdischen, deutschbaltischen und russischen Bevölkerungskreise lehnten seine Regierung gleich ganz ab. Schon im Jahr 1917 verbündeten sich die ungefähr 35.000 Mann starken Roten Lettischen Schützen, die vorwiegend aus gebürtigen Letten bestanden, mit den Bolschewiki Sowjetrußlands. Ihr Führer, Jakums Vacietis, wurde 1919 von Lenin gar zum ersten Oberbefehlshaber der Roten Armee ernannt. Er gehörte auch zur sowjetischen Verhandlungsdelegation im Februar 1918 in Brest-Litowsk. Im Dezember kam es zur Ausrufung einer sowjetlettischen Räterepublik. In der Folge entwickelte sich eine bürgerkriegsähnliche Situation, an der nationallettische, deutschbaltische, die nationalrussische Bermondt-Awaloff-Armee, deutsche Freikorps, estnische, litauische und polnische Armeeeinheiten teilnahmen, die zum Teil gegeneinander, aber in erster Linie gegen die starken bolschewistischen Kräfte in Lettland ankämpften. Der Sieg über die Bolschewiki wurde spät errungen, und erst am 11. August 1920 kam es in Riga zu einem Friedensabschluß mit Sowjetrußland und zur Anerkennung der lettischen Unabhängigkeit.
In der folgenden Friedenszeit entwickelten sich die Republiken rasch. Wirtschafts- und sozialpolitisch einschneidend waren die Agrarreformen, die in allen drei Staaten gleich von Anfang an durchgeführt wurden und in erster Linie die Enteignung des gesamten Großgrundbesitzes bedeuteten. In Estland und Lettland war die überwältigende Mehrheit der enteigneten Gutsbesitzer deutschbaltisch. In Litauen wurde die Höchstgröße für private Güter auf 80 Hektar, später auf 150 Hektar festgelegt.
In Lettland und Estland waren schon zu Ende des 19. Jahrhunderts Industriebetriebe im Bereich Metallverarbeitung und Textil aufgebaut worden, die wirtschaftlich für diese jungen Staaten ins Gewicht fielen. Estland verfügte darüber hinaus über Milliarden Tonnen schwere Brennschiefervorräte und konnte Öle, Benzin und Asphalt produzieren und diese erfolgreich exportieren. Litauen hatte Industriebetriebe in Wilna und Kaunas und seit 1923 in Memel. Durch die polnische Besetzung des Wilnagebietes 1920, die bis 1939 anhielt, war allerdings die Industriekapazität Wilnas für Litauen bis dahin nicht verfügbar.
Der beachtliche Wirtschaftsaufschwung in den baltischen Staaten zeigt sich beeindruckend in der Statistik des Jahres 1938, die aufzeigt, daß in jenem Jahr der Gesamtwert der ausgeführten Güter der baltischen Staaten, verglichen mit dem der Sowjetunion, 50 Prozent (!) des sowjetischen Exports ausmachte.
Trotz des allgemeinen Aufschwunges hatte die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Anfang der 1930er Jahre Auswirkungen auf die Baltenländer, und die Arbeitslosigkeit stieg an. Dies führte zu parlamentarischen Krisen in diesen Ländern, die in Estland und Lettland zu einer autoritären Demokratie und in Litauen zu einem Präsidialregime führten.
Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland gerieten die baltischen Staaten zunehmend in den Sog der beiden Machtblöcke Deutschland und Sowjetunion. Die Sowjets argwöhnten, daß die baltischen Staaten sich zu sehr an Deutschland orientieren könnten. Eine Rede des Parteisekretärs von Leningrad, A. A. Schdanows auf dem 8. Sowjetkongreß in Moskau am 29. November 1936 verdeutlicht das, als er öffentlich vortrug: „… Wenn in einigen an das Leningrader Gebiet angrenzenden Kleinstaaten unter dem Einfluß großer Abenteurer Gefühle der Feindschaft gegenüber der Sowjetunion erregt werden und Vorbereitungen getroffen werden, das eigene Territorium aggressiven Handlungen der faschistischen Staaten zur Verfügung zu stellen, so können im Ergebnis davon nur diese Staaten selbst verlieren.“ Nach Protesten aus Finnland, Estland und Lettland ruderte die Agentur TASS ein wenig zurück und verlautbarte, daß die Rede Schdanows sich nicht gegen die baltischen Staaten richtete, sondern gegen den Faschismus.
Nach der Lösung der sudetendeutschen Frage 1938 war für Litauen klar, daß nun das Memelland, das 1923 zu Litauen gekommen war, in den Fokus der Territorialforderungen Deutschlands geriet. Am 20. März 1939 stellte Deutschland ein Rückgabeultimatum, das von Litauen am 22. März erfüllt wurde.
Etwa fünf Monate später, am 24. August 1939, wurde in Moskau der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet, der, in geheimen Zusatzprotokollen, die baltischen Staaten letztlich der sowjetischen Einflußsphäre zuschlug. Estland, Lettland und Litauen wurden von der Sowjetregierung gedrängt, Militärbündnisse mit ihr abzuschließen und in ihren Ländern sowjetische Truppen zur Stationierung zuzulassen. Da die Sowjetunion 1939 auch in Polen einmarschiert war und ihre Truppen das Wilnagebiet besetzten, wurde der Abschluß des litauisch-sowjetischen Militärabkommens mit der Rückgabe der Stadt Wilna und des Umlandes in der Größe von 6.665 Quadratkilometern an Litauen „versüßt“.
Durch sowjetischen Druck wurden in den baltischen Staaten sowjetfreundliche Politiker in Regierungsverantwortung gebracht, so in Litauen zum Beispiel als Außenminister Prof. Vincas Kreve-Mickevicius, der im guten Glauben meinte, eine enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion könne zur Erhaltung der Staatlichkeit beitragen. Diese Einstellung wurde enttäuscht, als bei einem Gespräch zwischen ihm und Molotov am 30. Juni 1940 der sowjetische Außenminister erklärte, daß die gegenwärtige internationale Lage die selbstständige Existenz der baltischen Staaten nicht zuließe und es für sie unvermeidbar sei, sich der Familie der sowjetischen Republiken anzuschließen. So geschah es denn auch: Kommunistische Einheitslisten wurden in den baltischen Staaten aufgestellt und Parlamentswahlen angekündigt. Nichtkommunistische Wahlvorschläge wurden nicht zugelassen. Die Wahlen fanden am 14. und 15. Juli statt und brachten das gewünschte Ergebnis. Auf der Tagung des Obersten Sowjets in Moskau beantragten am 3., 5. und 6. August 1940 die estnischen, lettischen und litauischen Abordnungen jener Parlamentswahlen die Aufnahme ihrer Republiken in die Sowjetunion. Viele Staaten lehnten gleich von Anfang an die Anerkennung der Annexion der baltischen Staaten ab, an ihrer Spitze Großbritannien und die USA.
Vom August 1940 bis zum Juni 1941, also nicht einmal ein ganzes Jahr, hielt die erste sowjetische Herrschaft über das Baltikum an. In dieser kurzen Zeit wurden etwa 133.000 Balten als „sowjetunzuverlässige Elemente“ nach Sibirien deportiert. Es gab praktisch keine estnische, lettische oder litauische Familie, die keine Deportierungsopfer zu beklagen hatte. Als im Juni 1941 Deutschland die Sowjetunion angriff und das Gebiet der baltischen Staaten schnell eroberte, wurden sie dort überwiegend als Befreier empfunden. Allerdings waren Versuche baltischer Politiker, perspektivisch mit deutscher Duldung eine staatliche Selbstständigkeit anzustreben schon aufgrund der laufenden Kriegshandlungen nicht erfolgreich und wurden von deutscher Seite nicht unterstützt. Der Angriff Deutschlands gegen die Sowjetunion ermöglichte es England und den USA, eine militärische Allianz mit Stalin einzugehen, die von ideologischen Gegensätzen nur so strotzte und lediglich vom Willen getragen war, Hitlerdeutschlands weitere Machtentfaltung zu stoppen und rückgängig zu machen. Die Zusammenarbeit der kapitalistischen Westmächte mit der weiterhin die kommunistische Weltherrschaft anstrebenden Sowjetunion versetzte die unter Versorgungsmängeln stehenden Sowjets durch materielle anglosächsische Unterstützung in eine komfortablere Kriegslage. Der bewußte Preis für diese Allianz war, nach Erreichung des Sieges, die vereinbarte Aufteilung Europas in einen angelsächsisch beherrschten Westen und einen sowjetisch beherrschten Osten.
1943 entstand in Litauen das Oberste Komitee zur Befreiung Litauens (VLIKAS) durch Vertreter aller ehemaligen litauischen Parlamentsparteien, das sich am 16. Februar 1944 öffentlich zu einem provisorischen Regierungsorgan erklärte. Ein großer Teil der Mitglieder wurde durch die Gestapo verhaftet, aber es gelang einem Teil des Präsidiums, im Untergrund weiterzuarbeiten. Bewaffnete nationale Widerstandsgruppen bekämpften aber nicht die Deutschen, sondern die sowjetischen Truppen, die im Juli bereits in Wilna standen. Nach Kriegsende 1945 kämpften etwa 30.000 Partisanen in Litauen gegen die sowjetischen Besatzer, im Laufe der Jahre flaute dieser Widerstand aufgrund von nicht vorhandenem Nachschub an Waffen und Munition naturgemäß ab, aber bis mindestens 1953 wurde noch Widerstand geleistet. Die Basen der Partisanen befanden sich in tiefen, zum Teil für schwere Militärwagen undurchdringlichen Wäldern, die die Sowjets mühsam parzellierten, um die Partisanen zu bekämpfen. Stark war der Widerstand auf dem Lande, wo die zwangsweise Kolchosisierung nicht auf Gegenliebe stieß. Einen bewaffneten Widerstand gab es, wenn auch in quantitativ und zeitlich begrenzterem Maße, ebenfalls in Estland und Lettland.
Die Aufbauphase des vom Frontkrieg sehr betroffenen Baltikums setzte dennoch ein, und neben einem starken eigenen Aufbauwillen war es auch der Einsatz deutscher Kriegsgefangener und in der Hauptsache ein erheblicher Material- und Menscheneinsatz aus der übrigen Sowjetunion, der die Republiken Stück für Stück nach vorn brachte. Industrieanlagen wurden errichtet und die baltischen Häfen funktionsfähig gemacht. Die Industrialisierung machte Fortschritte, und die Balten ergingen sich, im Bewußtsein keine Unterstützung vom Westen zu bekommen, mehr und mehr in pragmatischer Anpassung an das sowjetische System. So wurden Estland, Lettland und Litauen in den 1960er bis 1980er Jahren zu „Vorzeigerepubliken“, die in den wirtschaftlichen Erfolgsstatistiken weit vorn zu finden waren. Die Industrialisierung, wie auch die Stationierung sowjetischer Truppen und ihrer Angehörigen aus den höheren Chargen, die nach der Pensionierung im Lande blieben, führten zu einer Zunahme von nichtbaltischen Einwohnern, in der Hauptsache Russen. Sie blieben auch aufgrund des höheren Lebensstandards lieber im Baltikum. Jeweils ein Viertel der Bevölkerung Estlands und Lettlands machen auch heute noch russischstämmige Einwohner aus, in Litauen hingegen nur etwa 5 Prozent.
Die zunehmende Stagnation in der Sowjetunion führte schließlich zu notwendigen Umgestaltungen, die Michael Gorbatschow energisch in Angriff nahm. In der Perestroika etablierten sich in den baltischen Republiken Ende der 1980er Jahre mit anfänglicher Moskauer Zustimmung Bewegungen, die alsbald nationale Forderungen aufstellten, die letztlich in Unabhängigkeitsansprüche übergingen. Schnell zeigte sich, daß die besondere völkerrechtliche Situation, die Nichtanerkennung der Annexion der baltischen Staaten wegen des völkerrechtwidrigen Zusatzabkommens zum Hitler-Stalin-Pakt durch viele westliche Staaten in Europa und auch darüber hinaus, selbst in den jungen Generationen der Balten nicht in Vergessenheit geraten war und nunmehr eine explosive Sprengkraft darstellte, die auch auf andere Gebiete der Sowjetunion, inklusive der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, ausstrahlte.
Durch die jahrzehntelang ungelösten nationalen Fragen, die durch polizeistaatliche Maßnahmen gedeckelt wurden und die letztlich gewaltsame Gegnerschaft des altbolschewistischen Lagers der KPdSU (Augustputsch 1991), wurden die Gorbatschowschen Reformen zum Scheitern gebracht, weil sich die Reformprozesse nicht mehr steuern ließen. Daran zerbrach die UdSSR. Sie hauchte am zweiten Weihnachtstag 1991 ihr Leben aus.
Für die baltischen Staaten begann die Wiederherstellung ihrer Souveränität. Litauen erklärte am 11. März 1990 seine Unabhängigkeit, und diese wurde noch im selben Jahr von Island anerkannt. Estland folgte mit seiner Unabhängigkeitserklärung am 30. März 1990 und Lettland am 4. Mai 1990. De facto erlangten diese Erklärungen ihre Gültigkeit nach der Niederschlagung des Moskauer Putsches vom August 1991, als die Russische Föderative Sowjetrepublik unter ihrem Präsidenten Boris Jelzin die Unabhängigkeit der Balten anerkannte und danach die meisten westlichen Staaten diesem Schritt folgten.
Es bleibt eine große historische Leistung der Russen, den marxistischen Sozialismus durch eigene Kraft abgeschüttelt zu haben. Und es ist beschämend, daß dieser Prozeß seitens des Westens seines historischen Ranges entsprechend nie gewürdigt wurde.
In ihrer absoluten Mehrheit verspürten die baltischen Völker zu Ende der Sowjetunion keinen Haß gegen die Russen; sehr wohl verstanden sie, daß die Umgestaltung von Rußland und den Russen ausging und daß dieser Prozeß dem nationalen Nutzen der Balten entsprach. Deutlich wird dies beispielsweise 1992 durch die Abwahl des Führers der litauische Nationalbewegung Sajudis, Vytautas Landsbergis, der den ursprünglich pluralistisch aufgestellten Sajudis auf eine stark antirussische Seite führte. Sein Gegner bei der ersten freien Parlamentswahl Litauens nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit war Algirdas Brazauskas, der schon 1989 die litauische KP aus der KPdSU geführt und sie noch während der Sowjetzeit in eine Partei sozialdemokratischen Typs, die LDDP, umgewandelt hatte und der gegenüber Moskau erfolgreich eine behutsame „step by step“-Politik verfolgte. Mit überwältigender Mehrheit wählte Litauen damals die Brazauskas-Partei.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärten sich alsbald die USA zum Sieger über den Kommunismus sowjetischer Prägung, was eine sehr einseitige und selbstüberschätzende Behauptung darstellt, aber durch den enormen transatlantischen Einfluß auf die westlichen Medien als neu gestaltetes Narrativ schnell politische Wirkung zeitigte. Eine Wirkung, die auch auf den Osten Europas ausstrahlte und zur Ausweitung transatlantischer geopolitischer Interessen eingesetzt wurde.
Die inneren Schwächen Rußlands unter einem alkoholkranken Jelzin, der eine undurchsichtige Privatisierungswelle staatlicher Unternehmen vornehmen ließ, die auch als Geburtsstunde der bekannten großen Oligarchen galt und die schnell zu einem ungeheuren wirtschaftlichen Niedergang führte, wurden für das Baltikum offensichtlich, das wirtschaftlich weiterhin stark von Rußland abhängig war. 1998 war Rußland wirtschaftlich soweit abgestürzt, daß es zahlungsunfähig wurde. Mittlerweile hatte sich die EU gegründet (1993), und die Nato ließ Beitrittsüberlegungen seitens Polens, Ungarns und Tschechiens zu. Diese transatlantischen Werbungen auf Mittel-Ost-Europa verfehlten nicht ihre Wirkung auf die baltischen Staaten, die, angesichts der russischen Schwäche, wirtschafts- und sicherheitspolitisch nicht von den anderen „Transformationsländern“ abgehängt werden wollten. Der Weg zur Aufnahme der baltischen Staaten in Nato und EU war so vorgezeichnet, ihre Mitgliedschaft in beiden transatlantisch beherrschten Organisationen wurde 2004 vollzogen.
Seitdem hat sich vieles verändert. Rußland hat unter Wladimir Wladimirowitsch Putin, der im Jahr 2000 zum ersten Mal zum Präsidenten Rußlands gewählt wurde, seine inneren Schwächen überwunden und wehrt sich spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 gegen die Einengung seiner Sicherheitsinteressen seitens der durch die Osterweiterung der Nato geplanten und dort zu stationierenden US-Raketenabwehr, angeblich gegen eine Bedrohung Europas durch den Iran, die aber natürlich auch Ziele in Rußland ansteuern kann.
In den baltischen Staaten sieht die Bevölkerungsmehrheit die Zuspitzungen der Beziehungen zwischen den USA, die die Nato dominieren und Rußland mit Sorge. In der Zustimmung zur Mitgliedschaft in Nato und EU ist eine deutliche Ernüchterung festzustellen. Die Mitgliedschaft in der EU hat nicht zu den „blühenden Landschaften“ geführt, sondern zu schmerzhaften Transformationsanpassungen an EU-Vorgaben und westliche Kreditgeber, zu hoher Arbeitslosigkeit und erschreckender Abwanderung in den Westen, die bis zu einem Viertel (!) der Gesamtbevölkerung ausmacht. Zur Einführung des Euros trauten sich die politischen Führungen der baltischen Staaten nicht mehr, Volksabstimmungen durchzuführen, weil die Umfragen eine Ablehnung erwarten ließen.
Im Gegensatz zu den Verlautbarungen der derzeitigen politischen Führung zum Beispiel in Litauen bezüglich der Ereignisse in der Ukraine glaubt die Mehrheit der Bevölkerung sicherlich nicht an eine russische Invasionsgefahr. Auch die überwältigende Mehrheit der russischen Minderheit steht loyal zu Litauen. Obwohl die russischen Minderheiten in Estland und Lettland zahlenmäßig größer sind, herrscht auch dort Loyalität zu den Staaten, die sicherlich noch erhöht werden würde, gäben diese Länder den russischen Bürgern dieselben Staatsbürgerechte wie den Einheimischen.
ISBN: 978-3-85365-207-7
Der Autor: Siegfried von Vegesack
Die baltische Tragödie
520 Seiten, Ln., geb
Preis: € 19.90