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Schicksalsjahr 1919

Von Claus-M. Wolfschlag

Das Deutsche Reich als Republik

Die Startbedingungen für die 1919 verfassungsrechtlich installierte „Weimarer Republik“ waren schlecht. Zu den Begehrlichkeiten des Auslands kamen die aufbrechenden inneren ideologischen Gegensätze. Das Jahr 1919 ist in der geschichtlichen Erinnerung vor allem ein Symbol. Es ist ein Symbol für die erste deutsche Republik und für eine Demokratie, die schon den Keim des Scheiterns in sich trug. Das Datum steht für zwei miteinander eng verzahnte Ereignisse: für die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles im Juni und die Annahme der Weimarer Verfassung im August desselben Jahres.

Das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg wird gemeinhin als „Weimarer Republik“ bezeichnet. Der Name leitete sich vom Tagungsort der verfassungsgebenden Nationalversammlung ab, die am 19. Jänner 1919 gewählt worden war – erstmals nach dem Verhältniswahlrecht und mit Stimmberechtigung von Frauen – und im Februar im Nationaltheater der Stadt Weimar ihre erste Sitzung abhielt. Der Tagungsort in der Stadt der „Weimarer Klassik“ war einerseits gewählt worden, um sich den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkriegs als Träger humaner Rückbesinnung zu präsentieren, andererseits weil die Zeiten ganz und gar nicht human und ungefährlich waren. Die Reichshauptstadt Berlin war nämlich weitgehend unter der Kontrolle kommunistisch und linkssozialistisch orientierter Aufständischer, und man befürchtete somit dort Unruhen während der Verfassungsarbeiten. Damit ist man mittendrin in der Problematik dieser Zeit. Will man der Frage nach dem Scheitern der „Weimarer Republik“ auf den Grund gehen, kann dies nicht monokausal geschehen und muß vor allem den Blick in die Zeit vor und nach 1919 richten. Und man muß sich in die Psyche, in die Befindlichkeiten jener Jahre hineinversetzen.
Kurz vor dem Beginn der „Weimarer Republik“ stand der Erste Weltkrieg. Zwar konnten die Mittelmächte – also Deutschland, Österreich-Ungarn und deren Verbündete, darunter das Osmanische Reich – im März 1918 den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit der neuen russischen Führung unter Lenin abschließen, der unter anderem zur Unabhängigkeit Finnlands und der Ukraine führte. Doch diese Entlastung an der Ostflanke brachte an der Westfront nicht mehr den gewünschten Erfolg. Ohne daß die Frontlinie deutlich eingebrochen wäre, erkannte die deutsche Heeresleitung schließlich, daß der Krieg aufgrund der materiellen Stärke des Gegners realistisch betrachtet nicht mehr zu gewinnen war, und sie versuchte deshalb, nun günstige Bedingungen für einen Waffenstillstand zu schaffen.
Die Schwäche und Auszehrung der Deutschen lag nicht zuletzt an der britischen Blockade sämtlicher Seewege auch für die zivile Rohstoff- und Nahrungsmitteleinfuhr begründet. Diese Blockade gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn führte 1917–1919 zu etwa einer Million Hungertoten, davon die meisten in Deutschland. Und sie wurde von den Alliierten auch nach dem Waffenstillstand bis März 1919 aufrechterhalten. Sie diente dazu, den Widerstandswillen der Deutschen gegen die harten Bedingungen des Versailler Friedensvertrages niedrig zu halten. Später übrigens wurde deutscherseits gerade diese traumatische Erinnerung an die deutschen Hungertoten herangezogen als Begründung für die nationalsozialistische Vision vom „Lebensraum im Osten“, der die Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln dauerhaft sichern sollte.
Die deutsche Gegenstrategie, als Reaktion auf die Blockade dem alliierten Kriegsmaterialtransport, unter anderem auf zivilen Schiffen, mit einem „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“ zu begegnen, führte dazu, die USA vollends ins alliierte Lager zu treiben. Im April 1917 erklärten sie dem Deutschen Reich den Krieg, was aufgrund der Stärke dieses Landes in Rohstoff- und Industrieressourcen letztlich kriegsentscheidend war.

Der Zusammenbruch naht

Der deutsche Schriftsteller Edwin Erich Dwinger, der sich 1917 in einem russischen Kriegsgefangenenlager befand, beschrieb in seinem Roman „Die Armee hinter Stachldraht“ die nun anlaufenden Transportzüge der Amerikaner zu ihren Verbündeten: „Ich schrecke auf. Eben lief wieder ein Zug durch den Bahnhof (…), ein Transportzug oder einer jener großen Amerikaner, die seit kurzem fast ununterbrochen aus dem Osten, von Wladiwostock über Mandschuria nach Westen rasen. Ihre Waggons sind dreimal so groß als die russischen, gehen in beschleunigter Fahrt an die Front, sind voller Geschütze, Munition, Waffen, Gas … Ja, es sind nicht die schlechten Nachrichten allein, die uns nicht mehr schlafen lassen, es sind vor allem diese Züge, die wir nachts bis in unsere Träume hören, die wir des Tags zu jeder Stunde sehen müssen. Ich liege sicher nicht allein wach, höre ihrem eintönigen Rollen sicher nicht allein zu. Oh, dieses ewige Rattern, das schon im Osten von neuem anschwillt, während das letzte im Westen kaum verhallt ist … Man müßte es ihnen mitteilen! Denke ich im halben Schlaf. Man müßte es ihnen sagen! Macht Schluß, müßte man der Heimat sagen! Amerika ist nicht zu schlagen, ihr unterschätzt es! Seht diese Transporte an, Tag und Nacht, Tag und Nacht! Dagegen könne ihr nicht mehr an, es ist umsonst, es ist sinnlos! Macht Schluß …“
Auch in Ernst Jüngers Kriegsbeschreibung „In Stahlgewittern“ fehlt nicht die Darstellung des enormen wirtschaftlichen Ungleichgewichts zum westalliierten Kriegsgegner. Er schildert die Ausstattung eines britischen Unterstands, den man in der Frühjahrsoffensive 1918 noch erobern konnte: „Der Unterstand war äußerst behaglich eingerichtet; sogar ein kleiner Kamin, auf dessen Sims Pfeifen und Tabak lagen, mit im Kreise herumgestellten Sesseln fehlte nicht. Merry old England! (…) Ich suchte mir einen Brotbeutel, Wäsche, eine kleine Metallflasche voll Whisky, eine Kartentasche und einige Sächelchen von Roger und Gallet aus, vermutlich zärtliche Erinnerungen an einen Pariser Fronturlaub. Man sah, daß die Bewohner in höchster Eile das Weite gesucht hatten. Ein Nebenraum enthielt die Küche, deren Vorräte wir ehrfurchtsvoll bestaunten. Da war eine ganze Kiste voll roher Eier, von denen wir gleich eine erhebliche Zahl aussogen, da wir sie kaum noch dem Namen nach kannten. Auf den Wandborden stapelten Büchsen voll Fleisch, Dosen köstlicher eingedickter Marmelade, ferner Flaschen voll Kaffee-Essenz, Tomaten und Zwiebeln; kurz alles, was der Feinschmecker sich wünschen kann. Das Bild trat mir später noch oft ins Gedächtnis, wenn wir wochenlang bei schmaler Brotration, wässrigen Suppen und dünner Marmelade in den Gruben lagen. Nach diesem Einblick in die beneidenswerten wirtschaftlichen Verhältnisse des Gegners verließen wir den Unterstand und erkundeten die Mulde, in der wir zwei funkelnagelneue verlassene Geschütze vorfanden.“
Erich Maria Remarque zeichnete in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ jene mentale Zermürbung, die 1918 daraufhin Teile der Truppe erreicht hatte: „Sommer 1918. – Nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als in den Stunden des Feuers, wenn die bleichen Gesichter im Schmutz liegen und Hände verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch! Nicht noch im letzten Augenblick!
Sommer 1918. – Wind der Hoffnung, der über die verbrannten Felder streicht, rasendes Fieber der Ungeduld, der Enttäuschung, schmerzlichste Schauer des Todes, unfassbare Frage: Warum? Warum macht man kein Ende? Und warum flattern diese Gerüchte vom Ende auf?“

Die Novemberrevolution

Das Ende des Krieges kam dann für die Deutschen überraschend schnell. Die sogenannte „Novemberrevolution“ 1918 hatte ihren Ausgang in einem Truppenteil, der die letzten Kriegsjahre kaum von Kampfhandlungen betroffen gewesen war: der Marine. Denn seit Juni 1916 waren die großen Kriegsschiffe nicht mehr ausgelaufen. Die Front war zwar noch nicht eingebrochen, aber seit dem Scheitern der Sommeroffensive, die 90 Kilometer vor Paris zum Stehen kam, glaubte die deutsche Heeresleitung nicht mehr an einen Sieg und überlegte, wie man nun zu möglichst annehmbaren Bedingungen einen Frieden schließen könnte. Eine der Überlegungen war, die Hochseeflotte auslaufen zu lassen, um durch einen Überraschungsschlag gegen die britische Seestreitmacht die Verhandlungsbedingungen zu verbessern. Doch unter den kriegsentwöhnten und -müden Marineangehörigen hatte sich rasch Unmut über derartige Pläne breitgemacht, den nun linke, „spartakistische“ Kader organisierten. Und so kam es zu Befehlsverweigerungen und letztlich einem Aufstand, der sich rasch ausbreitete und zur Initialzündung für den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung wurde. Bewaffnete rote Matrosen gründeten Soldatenräte und rissen die örtliche Befehlsgewalt an sich. Durchaus fassungslos mußten viele Bürger zusehen, wie Offiziere, die seit jeher als Respektspersonen betrachtet worden waren, vor marodierenden Soldaten fliehen mußten, da sie sonst gedemütigt oder schlicht niedergemacht wurden. Die innere Ordnung fiel nun wie ein Kartenhaus zusammen. Als erste Revolutionäre im November 1918 in Berlin auftauchten, reagierte die bisherige Führung kopflos. Um die Revolutionäre zu besänftigen, wurde Kaiser Wilhelm II. zur Abdankung und ins niederländische Exil genötigt. Der schwache Reichskanzler Max von Baden, der bereits zuvor Demokratisierungsmaßnahmen durchgeführt hatte, übergab die Regierungsgewalt an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert, dessen Weggefährte Philipp Scheidemann in der Pause eines Suppenmahls die Republik verkündete.
Jahrhundertealte Traditionen und Dynastien, wie die Hohenzollern in Preußen und die seit 900 Jahren Bayern regierenden Wittelsbacher, waren mit einem Mal abgebrochen. Das muß man sich vergegenwärtigen, um den Epochenumbruch zu verstehen, der den von 1945 möglichenfalls übertroffen hat.
Dieser Epochenumbruch nach dem Ersten Weltkrieg war augenscheinlich. Das deutsche Kaisertum war im zweiten Kaiserreich ab 1871 zwar bereits stark verwässert worden, gleichwohl bildete die Institution des (konstitutionellen) Kaisers ein Bindeglied zu den Anfängen deutscher Geschichte. Als Gründungsdatum des Deutschen Reiches wird von Historikern nämlich meist die Kaiserkrönung Ottos I. im Jahr 962 angesehen. Dieses erste Kaiserreich existierte bis 1806, als Napoleon Bonaparte Franz II. zur Niederlegung der Krone zwang. Das mittelalterliche Kaisertum verstand sich als Anknüpfung an die Spätantike und als „translatio imperii“, nach der die höchste weltliche Macht vom antiken Rom auf die Deutschen übergegangen sei. Der deutsche Kaiser war in seinem Selbstverständnis somit weltlicher Statthalter Gottes, und dieser Gedanke blieb auch lange in der nationalen Erinnerung, bis hin zu den Kirchenstiftungen durch Wilhelm II. 1918 riß diese Traditionslinie vollends und jäh ab, als eine Republik installiert wurde. Zahlreiche uralte Adelsgeschlechter, die jahrhundertelang die politische Elite des Landes mitgebildet hatten, wurden von ihren Thronen vertrieben, um nun verstärkt massendemokratischen Strukturen und Mechanismen Platz zu machen. Bürger mußten mit ansehen, wie einst wertgeschätzte Offiziere auf offener Straße geschlagen und ihnen die Achselstücke abgerissen wurden. Der die vorangegangenen zwei Jahrhunderte in Deutschland tonangebende preußische Staat blieb zwar formal noch erhalten, verlor aber nun durch Verfassungsänderungen seine letzte Souveränität und wurde zu einem Bundesland unter anderen Ländern.

Die Spartakisten

In dieser tragischen Situation war der gemäßigten Linken die Macht in den Schoß gefallen. Doch nun hatten sie mit dem nächsten Problem zu kämpfen. Marodierende bewaffnete „Spartakisten“ bildeten in fast allen großen deutschen Städten Soldatenräte von zweifelhafter Legitimation, die im Widerspruch zur Berliner Reichsregierung agierten. Angeführt von Karl Liebknecht besetzen sie das Berliner Stadtzentrum, hißten im Stadtschloß eine rote Fahne, die eigentlich nur eine gefundene braune Decke war. Die Redakteurin des neuen Blattes „Die rote Fahne“, Rosa Luxemburg, ließ in den Straßen Flugschriften mit Parolen der russischen Bolschewisten verteilen, in denen stand: „Führt eure Schläge gegen die Offiziere! Jeder Offizier, der Soldaten den Mord an der Bevölkerung befiehlt, ist vogelfrei! Tötet sie ohne Pardon!“
Anhänger einer neuen aggressiven Ideologie meldeten sich so zu Wort, einer Ideologie, wie es sie in dieser Radikalität bislang noch nicht in der Geschichte gegeben hatte: des Sowjet-Kommunismus. Dieses neue ideologische System im Osten Europas, dessen totalitäres Potential schon seinerzeit von linken Intellektuellen geflissentlich übersehen wurde und heute oftmals aus dem Bewußtsein verdrängt ist. Die damalige europäische Öffentlichkeit war über das Pressewesen gut unterrichtet von den Geschehnissen in der Sowjetunion Lenins und Stalins. Schon die Ermordung der Zarenfamilie, einschließlich der Kinder, 1918 in Jekaterinburg hatte weite Empörung ausgelöst. Hinzu kamen die bald darauf folgende Kulakenverfolgung mit Millionen Toten, die bewußt herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine, die Massenhinrichtungen und Lager für Systemgegner. Dies alles machte die sowjetisch beeinflußten Zuträger des kommunistischen Systems im Bürgertum, aber auch in Teilen der Arbeiterschaft suspekt. Vielen erschien vor diesem Hintergrund und ohne Kenntnis der bevorstehenden Gräueltaten der antibolschewistisch auftretende Nationalsozialismus, der nach dem Berliner Historiker Ernst Nolte ja durch einen „kausalen Nexus“ mit dem Sowjet-Kommunismus verbunden war, als annehmbarer.
Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der seiner „Regierung der Volksbeauftragten“ vorstand, befand sich am Anfang der „Weimarer Republik“ jedenfalls in einem Dilemma. Einerseits warf ihm die radikale Linke Zaudern vor oder gar gegenrevolutionäre Ambitionen, andererseits kritisierten ihn Offiziere, die Auflösung der letzten noch intakten Ordnungsmacht in Deutschland zuzulassen, der Armee.
Diese zwei damals bereits herausgebildeten Grundströmungen standen sich während der gesamten Weimarer Republik feindlich gegenüber:
Zum einen jene „Linke“, die den Zusammenbruch der alten Ordnung innenpolitisch für einen revolutionären gesellschaftlichen Umbau nach marxistischem Muster zu nutzen hoffte. Eine „Linke“, die sich aufgrund ihrer pazifistischen Verlautbarungen auch als Schützer des einfachen Volkes vor weiterem Krieg und militärischer Ausbeutung präsentierte.
Zum anderen jene „Rechte“, die in einer weiteren innenpolitischen Destabilisierung und Klassenspaltung den Grund für die weitere außenpolitische Schwächung gegenüber den aggressiven Gelüsten der westlichen Feindmächte sahen – und damit einhergehend die dauerhafte materielle Verelendung der eigenen Bevölkerung. Einem weiteren angeblichen „Dolchstoß“, also einer Aufweichung der Kampfmoral im Inneren, energisch entgegenzutreten, war demnach ihr Gebot.

Freikorps

Das Ende des Jahres 1918, während in der Heimat die roten Milizionäre vielerorts das Stadtbild beherrschten, war auch geprägt vom geordneten Rückmarsch der Feldarmee ins Innenland. Unter den Zurückkehrenden fanden sich viele junge Männer, denen das politische Geschehen der vorangegangenen Wochen zuwider war, die zudem nach ihren gravierenden Kriegserlebnissen nicht mehr einfach in das alte bürgerliche Dasein zurückzufinden gedachten und die entschlossen waren, den Kampf für ihr Land mit anderen Mitteln weiterzuführen.
Der Schriftsteller Ernst von Salomon beschreibt diesen militärischen Typus in dem Buch „Die Geächteten“ in einer Szene des Truppeneinzugs: „Die Augen lagen tief im Schatten des Helmrandes, gebettet in dunkle, graue, scharfkantige Höhlen. Nicht rechts, nicht links blickten die Augen. Immer geradeaus, als seien sie gebannt von einem schrecklichen Ziel, als spähten sie aus Lehmloch und Graben über zerrissene Erde … Sie marschierten, als seien sie Abgesandte des Todes, des Grauens, der tödlichsten, einsamsten, eisigsten Kälte.“
Ein Machtkampf spitzte sich zur gleichen Zeit zu. Während die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte im Dezember 1918 die Auflösung der alten Armee und die Übergabe der Kommandogewalt an die Soldatenräte forderte, sah sich die Reichsregierung zunehmend vom Belagerungsring der roten Matrosen in Berlin bedroht. Friedrich Ebert entschied sich dafür, das Oberkommando des Heeres mit der Niederschlagung des Berliner Aufstands zu beauftragen. Doch der Versuch scheiterte unter dem Widerstand einer riesigen Menschenmenge, die die zögernden Regierungssoldaten faktisch überrannte und ihnen die Waffen entriß. Am Heiligen Abend 1918 beherrschte somit die rote Revolution Berlin, und die sozialdemokratisch dominierte Regierung war nur noch ein Schatten inmitten des Chaos. Eingesperrt in der Reichskanzlei und nur noch auf dem Papier mit Regierungsmacht ausgestattet, hörte Friedrich Ebert davon, daß sich Freiwilligenverbände von Soldaten bildeten, die gegen die Auflösung jeder staatlichen Ordnung in Deutschland vorzugehen gedachten – die „Freikorps“.
Der Generalquartiermeister des Heeres, Wilhelm Groener, riet Ebert, den Sozialdemokraten Gustav Noske mit der Niederschlagung der Unruhen zu beauftragen. Minister Noske hatte ein traditionell gutes Verhältnis zur Armee und war zudem bereit, die Rolle des „Bluthundes“ zu übernehmen, als der er später im Bereich der radikalen Linken bezeichnet wurde. Um die Jahreswende 1918/19 warb die Regierung in Flugblättern und Annoncen um Freiwillige, die ihr helfen könnten, die Autorität im Land wiederherzustellen, und viele ehemalige Soldaten meldeten sich. Ihre erste Bewährungsprobe hatten sie während des „Spartakus“-Aufstandes im Januar 1919. Nachdem der als unzuverlässig geltende linke Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn von Ebert abgesetzt wurde, da er sich geweigert hatte, gegen die das Stadtschloß besetzt haltenden „Spartakisten“ vorzugehen. Dahinter verbarg sich ein grundsätzlicher Machtkampf. Während die Sozialdemokraten um Ebert baldmöglichst demokratische Wahlen für eine Nationalversammlung abhalten wollten, strebten die meisten der Linkssozialisten und Kommunisten die Machtausweitung von sogenannten Arbeiter- und Soldatenräten ohne demokratische Legitimation an, zudem die Verstaatlichung von Industriebetrieben und die Kontrolle über das Militär. Hätten sie gesiegt, wäre in Deutschland wohl ein Sowjet-System nach russischem Muster entstanden. Dem gegenüber standen die sich seit Dezember 1918 formierenden Freikorps, die antibolschewistischen, rechtsgerichteten Freiwilligenverbände, die sowohl die Staatsgrenzen gegen Begehrlichkeiten des Auslands absichern, wie auch im Inneren gegen kommunistische Bestrebungen vorgehen wollten. So etwa lieferten sie sich Kämpfe mit polnischen Paramilitärs, die versuchten, weite Teile der Ostprovinzen Deutschlands bereits unter ihre Kontrolle zu bringen, bevor überhaupt Grenzverläufe rechtlich ausgehandelt wurden.
Die Sozialdemokraten waren gezwungen, auf die Freikorps zurückzugreifen, um den Weimarer Staat zu retten. Und den Frieden, denn die Westalliierten hatten bereits angedeutet, militärisch intervenieren zu wollen, falls Deutschland weiterhin „autokratisch“ oder aber auch „bolschewistisch“ regiert werden würde. Verhandlungen mit den Berliner „Spartakisten“, die eine friedliche Lösung ermöglichen sollten, scheiterten an der gegenseitigen Kompromißlosigkeit. Die radikale Linke rief zum Kampf gegen „die Judasse in der Regierung“ auf und proklamierte: „Sie gehören ins Zuchthaus, aufs Schafott (…) Gebraucht die Waffen gegen eure Todfeinde.“ In dieser bürgerkriegsartigen Situation befahl Minister Noske das bewaffnete Vorgehen. Es kam zu Kämpfen mit Mörsern, Flammenwerfern, Artillerie, Maschinengewehren. Ebenso wurden standrechtliche Erschießungen durchgeführt und politische Morde, unter anderem an den „Spartakisten“-Führern Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die seither von der radikalen Linken als Märtyrer mystifiziert werden. Kurze Zeit später wurde in München der – allerdings ohne demokratische Legitimation ernannte und bei der ersten Wahl abgewählte – linke Ministerpräsident Kurt Eisner von dem halbjüdischen Graf Arco-Valley, seine Mutter stammte aus der jüdischen Bankiersfamilie Oppenheim, erschossen. Eine darauf ausgerufene kommunistische „Räterepublik“ konnte erst im Mai 1919 von Freikorps- und Reichswehrverbänden blutig niedergeworfen werden.
So wurden die Freikorps-Männer, obgleich sie selber der Republik ablehnend gegenüberstanden, oft monarchistischer Gesinnung waren, unfreiwillig zu den Rettern des „Weimarer“ Staates. Ihre letzten Verbände wurden 1923 durch den bis dahin gefestigten Staat aufgelöst. Manche ihrer Mitglieder wurden später wieder für den NS-Staat aktiv, andere blieben in Distanz zu jenem späteren Regime, beteiligten sich teils gar am Widerstand, wurden verhaftet oder umgebracht.
Diese bürgerkriegsartigen Zusammenstöße am Anfang der „Weimarer Republik“ belasteten das Verhältnis der unterschiedlichen politischen Lager stark. Politische Gewalt, die Militarisierung unterschiedlichster politischer Kampfgruppen und die Unfähigkeit, einen nationalen Konsens zu stiften, waren diesen Jahren immanent. So kam es zum Anfang der Republik zu vielen Putschversuchen, so dem rechtsgerichteten „Kapp-Putsch“ in Berlin, dem „Ruhraufstand“ von 1920, in dem zwischenzeitlich eine „Rote Ruhrarmee“ von 50.000 Mann das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle bringen konnte, und dem Münchner „Hitler-Putsch“ von 1923.

 

Die Folgen von Versailles

Die Belastungen durch den Vertrag von Versailles taten ihr übriges zur Dauerkrise des Staates von Weimar. Die Kriegsziele der Alliierten waren bereits im Vorfeld in Geheimverträgen entwickelt worden. Die deutsche Delegation unter Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau konnte nur wenige Änderungen erreichen, darunter Volksabstimmungen zum Grenzverlauf in Oberschlesien. Und so gingen Deutschland nicht nur seine wenigen Kolonien, sondern auch weite Teile des Staatsterritoriums verloren: Elsaß-Lothringen an Frankreich, Eupen-Malmedy an Belgien, trotzdem beide Gebiete mehrheitlich deutschsprachig waren, Posen und Westpreußen an Polen, schließlich noch Nordschleswig an Dänemark, Teile Oberschlesiens an Polen. Danzig und das Saarland wurden exterritorialisiert. Der Anschluß des deutschsprachigen Österreich an das Reich, das schließlich bis 1866 zu Deutschland gehört hatte, wurde trotz starker Bestrebungen innerhalb der österreichischen Bevölkerung von den Alliierten verboten. Durch die Beschränkung der deutschen Heeresgröße auf 100.000 Mann und dem Verbot schwerer Waffen war das Land faktisch die gesamte Weimarer Zeit über verteidigungsunfähig. Hinzu kamen Festungsschleifungen, Entmilitarisierung und teilweise alliierte Besetzung der westrheinischen Gebiete. Um den eigenen materiellen Forderungen besser Nachdruck zu verleihen, zwangen die Alliierten die deutschen Verhandlungspartner eine einseitige Kriegsschuld anzuerkennen, was Kritiker quer durch alle Weimarer Parteien tief empörte. Die Reparationsschulden des Deutschen Reiches wurden auf 269 Milliarden Goldmark festgelegt. Deutschland hatte 75 % der jährlichen Zink- und Eisenförderung, 28 % der Steinkohleförderung und rund 20 % der jährlichen Kartoffel- und Getreideernte entgeltlos an die Westalliierten auszuliefern. Während die englische und französische Regierungspresse jubelte, die eigenen Maximalforderungen durchgesetzt zu haben, kritisierten linke Medien in diesen Ländern den Vertrag teils als imperialistische Heuchelei, als schamlos und als Vorspiel für Rassenhaß und einen neuen Krieg. Der Versailler Vertrag wurde von allen deutschen Parteien, selbst von den deutschen Kommunisten, inhaltlich abgelehnt. Karl Radek, in Deutschland agierendes Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU, verlautbarte 1923 in einer Rede, daß die „Befreiung Deutschlands“ gegen „die siegreiche kapitalistische Entente“ nur durch die „Partei der kämpfenden Proletarier“ zu erreichen sei.
Die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrags für die „Weimarer Republik“ waren verheerend und führten zu Arbeitslosigkeit und Inflation. Ein während der Kaiserzeit wohlhabendes Land stürzte in eine Phase tiefster wirtschaftlicher Krise und Verelendung in bislang nicht gekanntem Ausmaß. Diese latente ökonomische Problematik führte dazu, daß sich die Republik nur schwer stabilisieren konnte, somit die radikalen Gegner des Systems an den sogenannten „Rändern“ des politischen Spektrums Zulauf erhielten. Am Ende dieser Republik stand die massenhafte Flucht der Wähler zu den systemfeindlichen Parteien.

 
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