Meinem großväterlichen Freund Dr. Werner-Otto von Hentig (1886–1984)
in dankbarer Erinnerung
Am 3. Oktober dieses Jahres war in Kabul eine Feier zum 100. Jahrestag der deutsch-afghanischen Freundschaft geplant gewesen, aber Wochen vorher schon vom afghanischen Auswärtigen Amt leider abgesagt worden. Bemerkenswert dennoch, daß man in Kabul sehr wohl dieses Jubiläum begehen wollte, erinnert es doch an die diplomatisch-militärische v. Hentig/Niedermayer-Mission nach Kabul, die Afghanistan 1915 zum Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte gegen das damals britische Indien bewegen sollte. Auch wenn dieses Ziel wegen des dafür in keiner Weise einsatzfähigen afghanischen Heeres nicht erreicht wurde, hatte die Mission weitreichende positive Folgen für das deutsch-afghanische Verhältnis.
Ins kulturelle Bewußtsein Deutschlands trat Afghanistan erstmals im Jahre 1859 mit der berühmten Ballade Theodor Fontanes Das Trauerspiel von Afghanistan, das die völlige Vernichtung sich der von Kabul nach Jalalabad zurückziehenden 13.000 Mann starken britischen Garnison im Januar 1842 zum Inhalt hat. Dies Gedicht endet mit dem unvergeßlichen Satz: „Mit dreizehntausend der Zug begann, einer kam heim aus Afghanistan“, wobei es sich um den jungen Militärarzt Bryden handelte, den die Afghanen ganz bewußt am Leben gelassen hatten, damit er vom Desaster der britischen Truppe künden konnte. Es war ein Menetekel. Dieser Sieg hat für die Afghanen Maßstäbe gesetzt, die nur der zu erkennen vermag, der das Land, dessen Geschichte, seine Völker und deren Werte, Sitten und Kultur kennt.1 Warum spielt dieses Jahre 1842 eine so maßgebliche Rolle?
Die Afghanen besiegten dreimal die Weltmacht Großbritannien
In der strategischen Auseinandersetzung zwischen Rußland und Großbritannien, nachdem Indien britisch geworden war, versuchten die Engländer ihren Einflußbereich bis zum Hindukusch vorzuschieben und dabei das heutige Afghanistan, das 1747 als Königreich mit der Hauptstadt Kandahar gegründet worden war, ihrem Einflußbereich einzuverleiben. So kam es 1839 zum Ersten Anglo-Afghanischen Krieg, der mit der Eroberung Kabuls und Kandahars durch britische Truppen begann und mit der Ermordung des britischen Statthalters Alexander Burnes in Kabul und der anschließenden Niedermetzelung der sich zurückziehenden britischen Garnison 1842 seinen verheerenden Höhepunkt fand. Mit dieser ersten großen Niederlage der Briten wurde ein für alle Afghanen bis heute unvergessenes Fanal gesetzt.
Denn dieser ersten Niederlage von 1842 sollten noch zwei weitere Niederlagen der Briten folgen, und zwar im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg von 1878–1881 und im Dritten Krieg von 1919/20. In beiden Kriegen gelang es den Afghanen, trotz zahlreicher Niederlagen letzten Endes erneut die Briten zu schlagen, auch wenn sie 1879 im britisch-afghanischen Vertrag ihre eingeschränkte Souveränität hinnehmen mußten. Hatten die Briten geglaubt, 1878 mit ihren besseren Ensfield-Gewehren und 1919 mit Doppeldeckern und Maschinengewehren die „Stammeskrieger“ zu besiegen, so sahen sie sich zweimal getäuscht. Sie mußten sich letztlich geschlagen geben, auch weil Großbritannien nicht alle militärischen Mittel zum Einsatz bringen wollte oder konnte.
Von viel größerer mentaler Bedeutung, was von den heutigen Europäern irrigerweise als nur „historisch“ bewertet wird, ist aber das Bewußtsein der Afghanen in drei Kriegen die Weltmacht Großbritannien besiegt zu haben. Dies nachzuvollziehen fällt insbesondere den heutigen Deutschen überaus schwer, weil ein Nationalstolz, der sich auf siegreiche Kriege gründet, im besiegten Deutschland seit 1945 auf völliges Unverständnis trifft.
An der dritten Niederlage der Briten 1919/20 haben wir Deutsche indirekt seit 1915 mitgewirkt. Dieses Verdienst hat uns bei den Afghanen eine Anerkennung und Beliebtheit beschert, von der jeder Deutsche, der dort gelebt und gearbeitet hat, sei es als Tourist, als Kaufmann, als Lehrer oder als Techniker, Diplomat oder Soldat zu erzählen weiß.
Im Ersten Weltkrieg hoffte Kaiser Wilhelm II. die islamische Welt zum „wilden Aufstand gegen die Briten, dieses verhaßte, verlogene Krämervolk“ treiben zu können, wozu auch das Bündnis mit dem Osmanischen Reich und in der Folge , mit dessen Unterstützung, auch mit dem Königreich Afghanistan dienen sollte. Für die strategische Vorbereitung dieses Plans stellte sich Max Freiherr von Oppenheim zur Verfügung (SEIDT, S. 44).
Die diplomatische Führung der nach Afghanistan entsandten Mission oblag dem jungen Diplomaten Dr. Werner-Otto v. Hentig, die militärische dem Oberleutnant Oskar Niedermayer. Letzterer war in Persien schon ausgesprochen erfolgreich gewesen in der eigenmächtigen Zurückdrängung des britischen Einflusses. Getrennt brachen beide Expeditionsleiter auf, um erst ab der zentraliranischen Oase Tebbes eine gemeinsame Mission zu bilden. Nach unglaublichen Strapazen, von insgesamt 10.000 russischen Kosaken und britischen Kamelreitertrupps in der zentralpersischen Wüste Dascht-e-Kawir in glühender Sommerhitze verfolgt und gejagt, erreichte die 37köpfige deutsche Mission am 22. August 1915 Afghanistan und traf am 1. Oktober 1915 in Kabul ein (HENTIG, 1918, S. 92 f.).
Zweck der Mission war es, den afghanischen Emir Habibullah zu bewegen, in Britisch-Indien einzumarschieren, um damit das britische Weltreich im Kern zu treffen und entscheidend zum Sieg der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg beizutragen. In der Tat ein äußerst verlockendes Ziel für den erst 29jährigen preußischen, äußerst ambitionierten Diplomaten v. Hentig, wobei seine elegante, drahtige Erscheinung, zäh, eigenwillig, wenn auch hochmütig (SEIDT, S. 75), und die des bayerischen 30jährigen Hauptmanns Niedermayer, der für seinen Ehrgeiz, seine Härte und sein Machtbewußtsein bekannt war, zum Erfolg beitragen sollte. Gleichzeitig wäre dem Emir mit dem Kriegseintritt gegen Indien die Möglichkeit gegeben worden, die Durand-Linie durch die Vereinigung der beiden getrennten paschtunischen Stammesgebiete zu beseitigen. Doch recht schnell erkannten Niedermayer und v. Hentig, daß die afghanische Armee für einen Krieg völlig ungenügend gerüstet und ausgebildet war. Habibullah blieb wohl auch aus dieser Erkenntnis heraus neutral. Außerdem war er sich darüber im klaren, daß ein Krieg gegen England auch Krieg gegen das Zarenreich bedeutet hätte. Offiziell war der militärische Zweck der deutschen Mission damit gescheitert, jedoch nicht der politische. Und dieser ist noch heute von Bedeutung.
Der winzigen, aber hochmotivierten deutschen Mission gelang es, den von den Briten finanziell und politisch abhängigen Emir Habibullah trotz eindringlicher Warnungen von Lord Hardinge, des britischen Vizekönigs in Indien, mit diplomatischen Mitteln davon zu überzeugen, Afghanistan in ein modernes, souveränes Staatswesen zu verwandeln. In Stichworten soll der deutsche Verhandlungserfolg skizziert werden, weil er die Grundlage für die jahrzehntelange deutsch-afghanische Freundschaft bildete (v. HENTIG, 1963, S. 141 ff.):
Die volle Anerkennung der Souveränität Afghanistans durch das Deutsche Reich im Jahre 1915 bedeutete den ersten Schritt zur später errungenen staatlichen Souveränität.
Einführung eines gerechteren Steuer- und Abgabensystems zur Stärkung der Wirtschaft und damit der Unabhängigkeit des Monarchen von britischen Subsidien.
Beginn eines Ausgleichs der ethnischen Gegensätze durch Respektierung der unterschiedlichen Völker und Stämme nach Kultur und Sprache.
Beginnendes Toleranzverständnis bei den Afghanen für die religiösen Unterschiede zwischen den Sunniten und Schiiten im Land.
Empfehlung einer weltlichen Schulordnung zur Alphabetisierung des Landes.
Heeresreform: Bildung einer MG-Lehrkompanie, Abhaltung von Generalstabskursen und topographische Vermessung des Raums Kabul, Einführung einer Feldpionierordnung, Bau von Feldbefestigungen zur Verteidigung der Residenz Kabul vor Luftangriffen, Einführung des indirekten Schießens bei der Artillerie und moderner Schießtechnik.
Paraphierung eines Handels- und Freundschaftsvertrags zwischen Afghanistan und dem Deutschen Reich.
Politisch hingegen wurde, wegen der Unmöglichkeit eines Krieges gegen Britisch-Indien, am 24. Januar 1916 ein Kompromiß gefunden, nach dem der „Heilige Krieg“ (Jihad) gegen England auf den Zeitpunkt verlegt werden sollte, an dem das Deutsche Reich in der Lage war, solch einen Krieg mit Waffen und Soldaten zu unterstützen.
So hat sich die Solidarität der Afghanen mit den Türken in der Sache des Islams und die Feindschaft gegen England und Rußland durch die deutsche Mission zu einer emotionalen Sympathie für Deutschland entwickelt. Die deutsch-afghanische Freundschaft wurde von der breiten Masse des afghanischen Volkes mitgetragen und hat bis in die Gegenwart nachhaltig die Beziehung beider Länder zu deren Vorteil geprägt (HAMED, S. 153).
In den Geheimdienstakten der ehemaligen britischen Kolonialverwaltung, die sich heute in Pakistan befinden, fand 1969, als Ehrengast zur 50-Jahr-Feier der Unabhängigkeit von der afghanischen Regierung eingeladen, niemand anders als Werner-Otto v. Hentig im Alter von 83 Jahren die Auswertung seiner Mission, wonach diese die afghanische Unabhängigkeit auf den Weg gebracht und auch dem indischen (!) Unabhängigkeitsstreben „wesentliche Impulse vermittelt habe“ (RIX, S. 16).
Die von den Afghanen erstrebte Unabhängigkeit bahnte sich also schon im Jahre 1916 an, weil sich nach dem Abzug der Deutschen die pro- und antibritischen Fraktionen schnell in die Haare gerieten, wobei die antibritischen Nationalisten die Oberhand gewannen. Die Folge dieses Machtkampfes war die Ermordung von Emir Habibullah am 19. Februar 1919 in Jalalabad, also gut drei Monate nach Ende des Weltkriegs. Sein Nachfolger wurde sein Sohn Amanullah, der die afghanischen Truppen am 3. Mai 1919 die Grenze nach Britisch-Indien überschreiten ließ und zum „Heiligen Krieg“ aufrief. Nur drei Monate später gewährte das durch den Ersten Weltkrieg kriegsmüde gewordene Großbritannien am 8. August dem Land am Hindukusch die Unabhängigkeit, die formal im Friedensvertrag von Rawalpindi besiegelt wurde, wobei der afghanische Emir (Führer) zum Schah (König) erhöht wurde. Damit war auch der dritte Krieg der Afghanen, historisch zur richtigen Stunde geführt, erfolgreich verlaufen; ein Sieg, der sich jedem Afghanen ins Bewußtsein eingebrannt hat, denn der Tag der Unabhängigkeit wird jedes Jahr gefeiert.
Am deutsch-afghanischen Verhältnis hat sich seit der Unabhängigkeit des zentralasiatischen Landes bis zu seiner Besetzung durch die Sowjetarmee am 27. Dezember 1979 – also während einer Zeitdauer von 60 Jahren – im wesentlichen nichts geändert. Die Beziehungen waren immer freundschaftlich geprägt, auch während des Zweiten Weltkrieges.
In den 1920er Jahren machte sich im gesamten Vorderen und Mittleren Orient eine rasante Modernisierungswelle breit, in der Afghanistan „mitschwamm“. Denn durch den Zerfall des Osmanischen Reichs und die Revolution in Rußland veränderte sich die Mächtekonstellation auch im Orient. Die türkische Republik unter Kemal Atatürk, das persische Kaiserreich unter Reza Khan und Afghanistan unter König Amanullah strebten unter den Vorzeichen von Nationalismus, Laizismus, Modernismus und Industrialisierung eine schnellstmögliche Annäherung an Europa an.
In Afghanistan war es der bis heute unvergessene König Amanullah, der als profilierter Freund des Deutschen Reiches in seiner zehnjährigen Herrschaft sein Land von Grund auf mit deutscher Hilfe modernisieren wollte. So wurden bereits 1922 junge Afghanen zum Studium nach Deutschland geschickt, und 1924 gab es schon 72 deutsche Experten in Afghanistan. Von nachhaltiger Bedeutung wurde 1924 die Gründung der bis heute bestehenden Amani-Oberrealschule in Kabul, an der im Laufe der Jahrzehnte Tausende von deutschfreundlichen Führungskräften ausgebildet wurden. Der deutsch-afghanische Freundschaftsvertrag von 1926 sicherte die Tätigkeit deutscher Experten beim Straßenbau, bei der Anlage von Bewässerungsanlagen, beim Ausbau des Telekommunikationswesens und beim Bau von Wasserkraftwerken und Fabriken. Auch das Militär wurde nach deutschen Vorgaben modernisiert; so trugen die afghanischen Soldaten den unverwechselbaren deutschen Stahlhelm bis in die 1980er Jahre. Unvergessen blieb in beiden Ländern der Staatsbesuch König Amanullahs in Berlin 1928, wo er mit höchsten Ehren von der Reichsregierung und vom Reichspräsidenten Hindenburg empfangen und geehrt wurde und auch seinen alten Freund v. Hentig zu seiner großen Freude wiedertraf.
Der Sturz Amanullahs wegen seines überhasteten Modernisierungsprogramms, unter anderem durch die Entschleierung der Frau und seinen Versuch, den Männern das Tragen europäischer Anzüge aufzudrängen, erfolgte 1929 durch den muslimischen Klerus. Nach einem kurzen Bürgerkrieg, kam mit König Zahir 1933 eine ausgesprochen kluge, ruhige und ausgleichende Herrschernatur im Alter von erst 19 Jahren auf den Thron, der bis 1973 regierte und unter dessen Regentschaft die deutsch-afghanische Zusammenarbeit die reichsten Früchte trug, und zwar durch den Bau von Kraftwerken, Fabriken, Lieferung von Geräten und Waffen, durch die Lufthansa-Verbindung mit Kabul und die Ausbildung von afghanischen Technikern.
Naturgemäß wurde durch den Zweiten Weltkrieg, in dem sich Afghanistan am 6. September 1939 für neutral erklärte, diese Zusammenarbeit unterbrochen. Ende 1941 mußten auf Druck der UdSSR und Großbritannien alle 180 deutschen Fachleute Afghanistan verlassen. Dabei setzte es die afghanische Regierung in schwierigen Verhandlungen durch, daß die Sicherheit und Ehre der Deutschen von den Engländern garantiert wurde, so daß sie unbeschadet in die Heimat zurückkehren konnten. Dieses edle Verhalten der Afghanen ist bei der deutschen „Kolonie“ in Kabul unvergessen geblieben, so daß nach dem Krieg sehr rasch an das gute deutsch-afghanische Verhältnis durch neue Projekte zum Wohl des Landes angeknüpft werden konnte, von denen die wichtigsten in der Folge genannt seien (JEBENS, S. 318): Neben verschiedenen industriellen Projekten, etwa dem Bau von Teppichmanufakturen, konzentrierte sich die deutsche Hilfe darauf, die afghanische Landwirtschaft im Rahmen einer Agrarreform zu modernisieren, und zwar angepaßt an die Bedürfnisse des Volkes. So setzten sich die deutschen Agrarexperten das Ziel, lebensfähige bäuerliche Familienbetrieb zu entwickeln , die Kleinbauern und Pächter zu entschulden und die verdeckte ländliche Arbeitslosigkeit zu vermindern. Obgleich bis zum Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 80 bis 85 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren, produzierte diese dennoch zu wenig, so daß der Import selbst von Getreide in durchschnittlichen Erntejahren notwendig war.
Die zweite große Reform, an der wir Deutsche mitwirkten, war die Alphabetisierung vor allem der ländlichen Bevölkerung durch den Bau von Schulen und die Ausbildung von Lehrkräften. Hier gab es indessen durch strenggläubige Muslime immer wieder erhebliche Widerstände auch gewaltsamer Art, wie durch Morde oder Zerstörung von Schulen. Auch die Frauenemanzipation stand auf dem Arbeitsplan deutscher Entwicklungshelfer, konnte aber trotz Abschaffung des Schleierzwangs 1959 nur oberflächliche Erfolge erzielen. Dagegen war die Ausbildung der Polizei durch deutsche Ausbilder ein großer Erfolg, während die Russen nach 1945 die Ausbildung der Armee in die Hand bekamen. Festzuhalten bleibt, daß in diesen 60 Jahren die deutsche Entwicklungshilfe niemals der Ausdehnung deutscher politischer Interessen diente, sondern immer nur dem Land helfen sollte.
Der Absetzung des Königs Sahir Schah während eines Auslandsaufenthalts im Juli 1973 durch seinen Vetter und Schwager Mohammed Daud und die anschließende Ausrufung der Republik Afghanistan bis zu deren Sturz durch die kommunistischen Parteien „Khalq“ (Volk) und „Partscham“ (Fahne) am 27. April 1978 bedeuteten zunächst noch keine nachhaltige Veränderung des deutsch-afghanischen Verhältnisses, doch mit dem Einmarsch der Sowjetarmee am 27. Dezember 1979 änderte sich das schnell und nachhaltig. Denn Afghanistan war jetzt kein neutraler Staat mehr, der die Entwicklungshilfeangebote und die dahinter stehenden politischen Interessen der Geberstaaten wie USA, Großbritannien, Westdeutschland, Japan und Sowjetunion gegeneinander abwog und in der Balance hielt, sondern ein sozialistischer Staat, der sich eng an die Sowjetunion anschloß. Neuer deutscher Ansprechpartner war jetzt die DDR, die aufgrund des Krieges indes kaum zum Zuge kommen sollte.
Es ist hier nicht der Platz, den zehnjährigen Krieg der Afghanen gegen die Sowjets nachzuzeichnen, zumal Deutsche hier so gut wie keine Rolle gespielt haben. Aber dieser Krieg liefert zum Verständnis der heutigen Lage, in deutsche Soldaten am Hindukusch eine gewisse Bedeutung haben, sehr wohl wichtige Erkenntnisse. Die wichtigste Lehre, die die Sowjets aus der Geschichte hätten ziehen können, aber in der Überschätzung ihrer militärischen Mittel nicht gezogen haben, war die Lektion, die die Afghanen in drei Kriegen den Engländern erteilt hatten. Denn auch im Jahre 1979 glaubten die Sowjets mit überlegener Truppenstärke, mit gepanzerten Fahrzeugen und Panzern, mit Hubschraubern und Fallschirmjägern, kurz gesagt: mit überlegener Technik die afghanischen „Stammeskrieger“ besiegen zu können.
Zunächst gelang es den Sowjets zwar im Handstreich, alle großen Städte zu besetzen, den kommunistischen Präsidenten Hafizullah Amin, von dem man befürchtete, er könnte sich den USA zuwenden, zu stürzen und ein kommunistisches Regime ihrer Wahl unter Babrak Karmal einzusetzen. Aber dem sich rasch entzündenden Widerstand, der sich wie ein „Flächenbrand“ auf die kleinen Städte und das weite Land ausbreitete, hatten sie auf Dauer nichts entgegenzusetzen, zumal als die Mudschaheddin von den USA ab 1986/87 mit Kampfmitteln wie den berühmten Stinger-„Fliegerfäusten“ (Ein-Mann-Boden-Luft-Raketen) ausgerüstet wurden und damit die Luftherrschaft der Sowjets zum Teil brachen.
Die Brutalität des Kampfes wurde aller Welt offen sichtbar durch die erschreckend hohen Zahlen der Flüchtlinge, die in den Iran, vor allem aber nach Pakistan flohen. Waren es seit April 1978, nach dem kommunistischen Putsch gegen Daud, erst 109.000 Flüchtlinge, so betrug deren Zahl im Dezember 1979, beim Einmarsch der Sowjets, bereits 400.000, die in Pakistan ankamen. Diese Zahl kletterte bis Mai 1981 auf bereits zwei Millionen und stieg bis zum Januar 1986 auf etwa 3,1 Millionen (WIEBE, 1987, S. 113). Diese Flüchtlingswelle hatte fatale Auswirkungen auf den internationalen Ruf der Sowjetunion.
Trotz massiven Einsatzes modernster militärischer Mittel scheiterten die Sowjets schließlich am Hindukusch (ADAM, S. 271). Damit wurde die Voraussage des sowjetischen Sicherheitsberaters Wjatscheslaw Daschitschew wahr, der bereits am 20. Januar 1980, also drei Wochen (!) nach dem Einmarsch, das Zentralkomitee der KPdSU wegen dieses Krieges scharf verurteilt hatte. Doch wurden seine Warnungen erst fünf Jahre später publiziert. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen standen zehn Gesichtspunkte, von denen die wichtigsten, die auch für die Gegenwart gelten, hier aufgeführt (DASCHITSCHEW) werden sollen:
Für die UdSSR ist eine neue gefährliche Front entstanden unter ungünstigen geographischen und sozialpolitischen Verhältnissen.
Der Einfluß der UdSSR auf die Bewegung der Blockfreien, vor allem auf die islamische Welt, hat entscheidend gelitten.
Die feindliche Propaganda erhält starke Trümpfe zur Erweiterung ihrer Kampagnen gegen die UdSSR.
Das Mißtrauen in die sowjetische Politik bei den Verbündeten der UdSSR nimmt zu.
Auch daß die US-Regierung unter Präsident Bush jun. hat die „unheilbringenden Erfahrungen“ der Sowjets und der Briten außer acht gelassen, so daß die USA jetzt in Afghanistan ihr „zweites Vietnam“ erleben dürften, obwohl sie für ihre Kriegsführung mehr Soldaten als die Sowjets und zudem Hilfstruppen aus 42 Ländern herangezogen hatten. Aus diesem hoffnungslosen Krieg einen Ausweg unter Wahrung seines Gesichts zu finden, wie es der US-Präsident Obama nun versuche, gleicht für Daschitschew der Quadratur des Kreises. Noch deutlicher brachte es der russische Botschafter bei der NATO, Dimitri Rogosin, auf den Punkt: „Wir haben den Amerikanern immer gesagt: Wiederholt nicht den Fehler des Sowjetunion. Wenn ihr glaubt, ihr könnt den Afghanen die amerikanische Demokratie beibringen, werdet ihr scheitern – so wie wird, als wir ihnen den Kommunismus einzutrichtern versuchten.“ (WINKELVOSS, S. 77)
Der Abzug der Sowjets war von den Afghanen mit unermeßlichen Opfern erstritten worden. Durch den Krieg und die Millionen von Flüchtlingen war es zum flächenhaften Zusammenbruch der Landwirtschaft, gerade beim Bewässerungsfeldbau und zur weitgehenden Zerstörung der ohnehin kleinen Industrie und der Infrastruktur gekommen. Außerdem waren große Teile der Intelligenz nach Westeuropa und in die USA geflüchtet. Viele der entwurzelten jungen Afghanen in den pakistanischen Flüchtlingslagern wandten sich in der Folge verstärkt der Religion zu, deren radikalster Ausdruck die Taliban (= Koranschüler) werden sollten, die die Friedensunfähigkeit der in sich zerstrittenen Mudschaheddin-Gruppen ausnutzten. Durch amerikanische und pakistanische Hilfe finanziell und organisatorisch gefördert, gelang es den Taliban, Afghanistan bis 1996 zu besetzen und zu „befrieden“ – mit Ausnahme Nordafghanistans allerdings, wo weiterhin die usbekisch dominierte Nordallianz herrschte.
Doch als sich die Taliban politisch und wirtschaftlich gegen die USA stellten und zudem eine ausgesprochen frauenfeindliche Innenpolitik betrieben, wendete sich das Blatt. Als sie sich weigerten, den mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge auf die beiden WTC-Türme in New York am 11. September 2001, Osama bin Laden, auszuliefern, marschierten die USA Ende Oktober 2001 mit Bodentruppen in Afghanistan ein, während die Nordallianz Kabul nahezu kampflos besetzte. Bis Ende Dezember 2001 war der Widerstand der radikalislamischen Taliban weitgehend gebrochen, auch deshalb, weil ihre Radikalität (u. a. Musikverbot, Justizgreuel und organisierter Massenmord an der persischsprechenden Minderheit der Hazaras, die meist Schiiten sind) sie in weiten Teilen des Landes verhaßt gemacht hatte.
Doch die Geschichte wiederholte sich, diesmal unter Mitwirkung der Deutschen. Denn wohl war es den US-Amerikanern – wie auch früher schon den Engländern und Sowjets – gelungen die großen Städte wie Kabul, Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif und Jalalabad rasch zu besetzen, aber sie hatten auf Dauer nicht mit der unglaublichen Widerstandskraft der Afghanen gerechnet. Denn diese empfanden die fremden Truppen im Rahmen der ISAF schon bald nicht mehr, wie Ende 2001 noch, als Befreier von den Taliban2, sondern wegen ihres anmaßenden Auftretens und der zahlreichen zivilen Todesopfer in Folge von Bombenangriffen („Kollateralschäden“) als Besatzer. So entstand in wenigen Jahren eine weitverzweigte Widerstands-Infrastruktur der Taliban. Diese galt es nun zu zerstören.
Es kann indessen keine Rede davon sein, daß man von der Kampfesweise der Taliban überrascht sein konnte, denn der britische Elitesoldat Tom Carew, der in Afghanistan mit den Mudschaheddin bei zwei Geheimoperationen gegen die Sowjets beteiligt war, hatte bereits 2001 gewarnt: „Wenn es zu einem Bodenkrieg kommen sollte, hat der Westen kaum eine Chance auf einen Sieg. Die letzte fremde Armee, die auf afghanischem Boden gesiegt hat, gehörte Alexander dem Großem; alle anderen wurden geschlagen und vertrieben“ (CAREW, S. 4). Doch weder seine noch andere Warnungen wurden ernstgenommen. Auch die USA setzten ihre Siegeszuversicht auf ihre überlegene Waffen, ihre Logistik, vor allem auf die modernen Telekommunikations- und Navigations- sowie Ortungssysteme. Damit gelang es ihnen jedoch nur, die Großstädte und die wichtigsten Straßen zu kontrollieren, und dann meist auch nur tagsüber. Hinzu kommt das oft rücksichtlose, brutale Auftreten von US-Soldaten und vor allem von Angehörigen privater Sicherheitsunternehmen, die wegen ihrer Grausamkeit besonders gefürchtet und verhaßt sind, weil sie nicht die Haager Landkriegsordnung zu respektieren brauchen.
Da die Sicherheit sich zudem recht bald nur auf das Umland von Kabul beschränkte, wurden die zahlreichen internationalen, auch deutschen Hilfsorganisationen vor allem dort tätig, während außerhalb Kabuls die Unterversorgung immer spürbarer wurde. Im Zuge der versuchten Befriedung wurde auch eine große Volksversammlung (Loya Dschirga) einberufen; aber anstatt den nahezu 90jährigen, aus dem Exil angereisten ehemaligen König Sahir Schah erneut zum König wählen zu lassen, verhinderten die USA dies mit geradezu törichter Borniertheit und setzten Hamid Karzai als Staatschef von ihren Gnaden ein, der in spöttischer Weise jahrelang als Präsident der „Republik Kabul“ bezeichnet wurde.
Es kann nicht anders als tragisch bezeichnet werden, daß sich diesem ethnisch fragmentierten Land, das als Staat nach westlichen Maßstäben gar nicht zu begreifen ist, deutsche Soldaten im Rahmen einer internationalen Truppe befinden. Dieser Einsatz wurde am 8. November 2001 vom Bundestag „in uneingeschränkter Solidarität zu den USA“ beschlossen; ihr Einsatz ist jedoch auch aufgrund der geringen Stärke ohne Chance auf bleibende militärische Erfolge gewesen.
In einer ideologischen Verblendung sondergleichen behauptete im Februar 2008 Klaus Naumann, der ehemalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr in seiner Schrift Auch gegen den Willen der Mehrheit, daß „Afghanistan der Lackmustest der NATO im 21.Jahrhundert sei, denn wenn die NATO dort scheitere, werde das einzige funktionierende Sicherheitsbündnis der Welt ebenfalls scheitern und die Signalwirkung und der Anreiz für die Schurken dieser Welt wären dann gewaltig“ (BACKERRA, S. 70). Man kann den Kopf nur schütteln über diese amerikahörige, verblendete Behauptung, die schon angesichts der für einen Partisanenkrieg völlig unausgebildeten deutschen Soldaten ohne Hand und Fuß ist.3
Praktisch waren die 5.350 stationierten deutschen Soldaten in Nordafghanistan (Mazar-e-Sharif, Termes, Kunduz, Taluqan, Faizabad) und in Kabul lediglich stationiert, um sich selbst zu schützen. Dieser Einsatz dauerte zwölf Jahre, hat bisher aber nur 54 Soldaten das Leben gekostet, die meistens Anschlägen zum Opfer gefallen sind. Der Einsatz westlicher Soldaten ist seit 2011 gefährdeter denn je gewesen, weil die Taliban wegen ihrer numerischen Unterlegenheit immer mehr Selbstmordattentäter einsetzen und sich ferner mit neuer Taktik als Angehörige der afghanischen Armee verkleiden und dann westliche Soldaten erschießen; wie im Januar 2012 in Ostafghanistan geschehen, wo ein Taliban in afghanischer Uniform vier französische Soldaten erschoß und weitere 15 verletzte. So sind seit Ende 2011 auch konsequenterweise keine deutschen Spähtrupps und Patrouillen mehr in der Provinz Balkh und in ihrer Hauptstadt Mazar-e-Sharif eingesetzt worden (ROTH, S. 7). Die deutsche Strategie war von Anfang an defensiv, und sie ist trotz des Drucks der US-Amerikaner, sich offensiv am Krieg in Südafghanistan zu beteiligen, defensiv geblieben, weil Berlin dazu gezwungen ist, einen Krieg „mit gefesselten Händen“ zu führen (ders., a. a. O.) Was die geringe Zahl der Gefallenen anbetrifft, so ist hierin sogar ein gewisser Vorteil zu sehen. Defensive aus Angst vor der Wahrheit, sich im Krieg zu befinden, untergräbt aber die soldatische Moral. Die Folgen lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen …
Wie nun ist der jahrelange Militäreinsatz der westlichen Streitkräfte, darunter auch deutscher, in Afghanistan zu bewerten, nachdem der Rückzug weitgehend durchgeführt worden ist und der endgültige Abzug der Bundeswehr aus Nordafghanistan „Anfang 2016“, so die Verteidigungsministerin von der Leyen, stattfinden soll?
Das 2001 gesetzte Ziel der US-Amerikaner, die Taliban als militärische Kraft auf Dauer auszuschalten, ist zweifelsohne (bis jetzt) verfehlt worden. Ferner kann von der Errichtung einer Zivilgesellschaft und einer Demokratie nach westlichem Vorbild ebenfalls keine Rede sein, erst recht nicht von einem Sieg. Erstaunlich, denn im Jahr 2011 zählte die ISAF in Afghanistan 130 930 Soldaten und im Jahre 2012 die afghanische Armee 184 700 Soldaten (LEITHÄUSER, 2014, S. 5).
Das 2002 gesetzte Ziel des deutschen militärischen Kontingents war es, in einem Stabilisierungseinsatz möglichst kampflos den zivilen Aufbau Nordafghanistans schützend zu begleiten. Das ist zu großen Teilen gelungen.
Schließlich ist der westliche Militäreinsatz auch aus organisatorischen Gründen zum Scheitern verurteilt gewesen, weil es kein System der vernetzten Sicherheit und einer vernetzten Operationsführung gab, in dem militärische wie zivile Akteure in ein strategisches Gesamtkonzept eingebunden hätten sein müssen.
Fazit ist, daß die deutschen Soldaten, die ISAF- und NATO-Truppen ein Land verlassen haben, dessen Herz sie nicht gewinnen konnten und dessen eigene Lebensgesetze sich durch Bombenkrieg und Besetzung eher gefestigt haben. Die westlichen Soldaten konnten der Realität des unverstandenen Landes nicht die Stirn bieten. Der Kölner Staatsrechtsprofessor Otto Depenheuer kritisierte das vor dem Abzug des deutschen Soldaten mit folgenden Worten: „Deutsche Soldaten kämpfen also unter Einsatz ihres Lebens für den Wiederaufbau Afghanistans, weil die internationale Gemeinschaft und damit die Bundesrepublik dies so will. Von deutschen Sicherheitsinteressen kein Wort“ (DESCHNER, S. 1).
Das Deutsche Reich von 1915 war politisch und militärisch souverän. Die Bundesrepublik dagegen ist weder politisch noch militärisch souverän, sie hat kein eigenes Sicherheitskonzept und kennt keine genuin deutschen außenpolitischen Interessen. Folglich waren wir Deutsche 1915/16 selbstbewußte Vertreter einer in Europa kriegführenden souveränen Nation. Wir Deutsche seit 2002 hingegen haben nur international definierte, durch jahrzehntelange Umerziehung entnationalisierte Soldaten eines seit 1945 nicht mehr souveränen Landes.
1915/16 kamen nationalbewußte, stolze deutsche Offiziere und Soldaten nach Kabul, beseelt von ihrem Auftrag, den Weltkrieg zugunsten Deutschlands mitentscheiden zu können; jeder von ihnen hatte im gefahrvollen Marsch durch Persien sein Leben sehr viel höheren Gefahren ausgesetzt als die Soldaten heute. Seit 2002 sind zwar im ständigen Wechsel Tausende von deutschen Soldaten in Afghanistan stationiert, doch nicht als Gründen nationaler oder innerer Überzeugung dort gewesen, schon gar nicht aus Liebe zu Deutschland. Sie waren zumeist aus finanziellen Gründen, aus Abenteuergründen dort; um einen guten „Job zu haben“. Soldatisches Ethos ? Fehlanzeige.
Schuld an diesem Zustand haben unsere Politiker, Medien und Kirchen, weil sie unsere Soldaten nahezu unvorbereitet nach Afghanistan schickten und dort nicht hinter ihnen standen. Das war absolut unverantwortlich. Die Folge ist, daß viele Soldaten traumatisiert nach Deutschland zurückkehrten.
Die deutschen Soldaten waren 1915 als Freunde der Afghanen im Land und hatten nicht um ihr Leben zu fürchten, während seit 2002 unsere Soldaten offiziell zwar auch als Freunde der afghanischen Regierung im Lande sind, sich aber ohne Einsatz nicht außerhalb ihrer Lager bewegen durften. Sie mußten den Kampf meiden, auch aus Gründen ihrer begrenzten Kampfmittel.
Die Soldaten 1915/16 hatten sich auf die zerklüftete ethnisch-soziale Struktur Afghanistans aufgrund mangelnder Unterlagen nicht vorbereiten können, während heute nicht nur den Soldaten, sondern auch den politisch Verantwortlichen in Berlin eine reiche Literatur und die Erfahrungen Hunderter Experten zur Verfügung stand, die von einem militärischen Einsatz abrieten. Doch weder aus der Geschichte noch von den Experten lernte man.
Schließlich verrät auch der Vergleich im militärischen Auftreten und in der Uniform den himmelweiten Unterschied zwischen den deutschen Soldaten von 1915 und heute. Damals waren es Soldaten vom Scheitel bis zur Sohle, heute sind es Zivilisten in „outdoor dress“4.
Als der damalige Oberbefehlshaber der ISAF, US-General McKiernan, im Spätsommer 2008 vor 60 (auch deutschen) Offizieren die mangelnde infanteristische Kampfkraft der ISAF mit folgenden Worte kritisierte: „Wenn Ihr Deutsche mir ein Regiment der Waffen-SS schicken würdet, die in der Normandie so großartig gegen uns gekämpft hat, hätte ich die Taliban in einer Woche weggefegt“ (BACKERRA, S. 82), hat er eine Wahrheit ausgesprochen, die kein deutscher Politiker oder Militär hätte aussprechen dürfen.
Der Vergleich zwischen 1915 und 2015 fällt also nicht zugunsten der Gegenwart aus. Die Teilnahme deutscher Soldaten am Krieg in Afghanistan geschah seit 2002 eben nicht aus nationalen deutschen Interessen, sondern lediglich aus Bündnistreue gegenüber den USA, die ihre militärischen Ziele mit Hilfe deutscher Streitkräfte zu verwirklichen trachten. Das positive Deutschlandbild der Afghanen, das sich auf dem Wissen gründete, daß wir Deutsche niemals die Interessen der Afghanen schädigten, sondern im Gegenteil Geburtshelfer ihrer Unabhängigkeit waren, dürfte sich deshalb seit 2002 dahingehend verschoben haben, daß unsere Soldaten im Grunde genommen eben das Marionettenregime von Karsai zu verteidigen hatten. Der Mangel an schweren Waffensystemen und der damit nur beschränkte Kampfeinsatz unserer Soldaten hat allerdings glücklicherweise zu verhältnismäßig geringen Verlusten unter der afghanischen Zivilbevölkerung geführt und die Fundamente der traditionellen deutsch-afghanischen Freundschaft nicht zerstört. Das ist der erfreulichste Begleitumstand unseres Einsatzes dort.
Emir Abdurrahman, der „Eiserne Emir“ (1880–1901) verglich Afghanistan mit dem „Getreidekorn zwischen den Mühlsteinen England und Rußland“. Aus dem „Korn“ Afghanistan ist inzwischen durch die Wechselläufe der Geschichte „Granit“ geworden (TICHY, S. 233). Und an diesem Granit haben sich dreimal die Briten und einmal die Russen die Zähne ausgebissen, und jetzt taten es die westlichen Koalitionstruppen, oder, um im Bild zu bleiben: der Granit hat die Mühlsteine zerbrechen lassen. So wie die USA 1972 ihren Rückzug aus Vietnam als „Vietnamisierung“ und die Sowjets ihrer Rückzug aus Afghanistan 1989 über ihren Statthalter Nadschibullah als „Politik der nationalen Versöhnung“ zu verschleiern versuchten, geschieht es jetzt wieder, indem von der „Übergabe der Verantwortung der Sicherheit an die afghanische Nationalarmee“ die Rede ist, also einer „Afghanisierung“. In Wahrheit handelt es sich um eine Niederlage. Noch niemals in der Militärgeschichte wurde ein Rückzug, ohne die Ziele im besetzten Land erreicht zu haben, als Erfolg, von Sieg ganz zu schweigen, glaubhaft der Öffentlichkeit vermittelt.
Ob sich eine dauerhafte politische Ordnung mit den weiter militärisch präsenten 5500 US-Soldaten und 30.000 militärischen Vertragsarbeitern (TOMASCHITZ, S. 19) in Afghanistan entwickeln wird, ist mehr als fraglich und muß Angelegenheit der Afghanen selber sein. Die USA haben Zentralasien weiter im Visier. Es ist dennoch nicht anzunehmen, daß trotz der Auflösung der ISAF-Truppe die politische Lösung in Afghanistan nach westlichen Vorstellungen ausfallen dürfte.
Sicher ist jedenfalls, daß die Taliban die westliche Besatzung „ausgesessen“ haben. Der neu gewählte Staatspräsident Ashraf Ghani versucht mit den das weite Land beherrschenden Taliban Friedensgespräche zu beginnen, womit er große politische Risiken eingeht, weil er sich gleichzeitig für eine längere Präsenz der US-Truppen einsetzt und außerdem enge Verbindungen zu China, Pakistan und Saudi-Arabien knüpft (BÖGE, S. 10).
Hinzukommt das unerwartete Problem, daß sich nach dem Tod des Talibanführers Mullah Omar 2013 unter dem jetzt neuen Anführer Akhtar Mohammed Mansour die Taliban aufspalten, und ein Waffenstillstandsabkommen mit der Kabuler Regierung bei allen kämpfenden Einheiten nicht durchsetzbar ist. Die Hoffnung, daß dadurch die Kampfmoral der Taliban schwindet, ist durch den Rückzug der westlichen Truppen nicht stärker geworden. Bis jetzt haben die Taliban jedoch ihre Macht ausgeweitet und mehr afghanische Sicherheitskräfte und Zivilisten getötet als je zuvor. Ihre Einnahme von Kunduz war ein Signal, auch wenn die Stadt zurückerobert wurde. Die Machtfragmentierung der Taliban kann allerdings der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) den Weg nach Afghanistan ebnen.
Noch ist allerdings kaum mit einem baldigen Friedensschluß zu rechnen, weil die Kabuler Regierung immer noch „keinerlei Strategie dafür ausgearbeitet hat und die Taliban ihren Einfluß im Lande angesichts der schwachen afghanischen Sicherheitskräfte immer noch weiter aus-dehnen“ (ders., S. 10), um ihre Verhandlungsposition zu verstärken. Eine belastende Folge für Deutschland ist die geradezu explodierende Zahl einströmender afghanischer Flüchtlinge seit Beginn des Jahres 2015, die allein im Oktober auf 20.830 angeschwollen ist, so daß sich insgesamt jetzt 67.000 Afghanen als Flüchtlinge in Deutschland befinden. (LEITHÄUSER, 2015, S. 2) Kabul weigert sich, abgeschobene Asylbewerber wieder aufzunehmen. Diese Konfrontation ist eine negative Folge der deutsch-afghanischen Freundschaft, weil Kabul weiß, daß Berlin keine Rückführung von Flüchtlingen erzwingen wird.
Wenn die deutsche Regierung die historische Lektion begreift, daß die Afghanen nur durch Ausübung des Selbstbestimmungsrechts frei, souverän und, religiös begründet, nach eigenen Gesetzen, nicht mit einem oktroyierten fremden politischen System, in Frieden leben können, dann wird Deutschland wieder als Freundesnation der Afghanen eine positive Zukunft haben können. Welch schönes Erbe der diplomatisch-militärischen Mission v. Hentigs und Niedermayers von vor 100 Jahren wäre das!
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Backerra, Manfred: Sind wir in Afghanistan noch zu retten?, in: Deutschland-Journal der SWG, Hamburg 2009, S.68–92
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Mohm, Hans Werner (Hg.): Afghanistan, Losheim 1987
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Winkelvoss, Peter: Todesfalle Hindukusch, Coburg 2008
Anmerkungen
1?Der Verfasser hat Afghanistan 1969 und 1975 als Tourist und von 1976 bis 1978 als Feldforscher für das Geographische Institut der Universität Tübingen im Rahmen seiner Promotion ausgiebig kennengelernt, auch die Landessprache Dari gelernt und in dieser Zeit und danach eine enge Freundschaft mit dem ersten Botschafter des Reiches in Kabul, Dr. Werner-Otto von Hentig, bis zu dessen Tod am 8. August 1984 gepflegt. Ihm ist er für viele Ratschläge dankbar gewesen, auch weil dessen Buch „Meine Diplomatenfahrt ins verschlossene Land“ (1918) ihn seit 1959 angeregt hat, sich mit dem Land am Hindukusch bis heute intensiv zu befassen.
2?Ein intimer Kenner Afghanistans, der Arzt R. Erös, erinnerte daran, wie frei und gefahrlos man sich als Europäer in den ersten Jahren nach der Befreiung von der Taliban-Herrschaft im Lande als Journalist, Aufbauhelfer und sogar als Soldat bewegen konnte (BACKERRA, S. 75, nach: Süddeutsche Zeitung vom 20. August 2009, S. 2).
3?Die strategische Bedeutung der geplanten Erdöl- und Gasleitungen von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan und Indien bleiben hier ebenso unberücksichtigt wie „die Prävention gegen die Taliban, die auf Pakistan und auf die Atomwaffen der pakistanischen Armee zielen“ (BACKERRA, S. 71, nach: Michael Stürmer in der WELT vom 27. August 2009, S. 7).
4?Es handelt sich um keinen offiziellen Begriff, sondern um eine Einschätzung des Verfassers, denn von soldatischem Auftreten, von einer ansprechenden, „schneidigen“ Uniform wie beim kaiserlichen Heer, bei der Reichswehr, Wehr-macht und NVA, die nationales Selbstbewußtsein verkörperte, kann heute keine Rede mehr sein.