Sooft die europäischen Volksbewegungen gegen die sowjetische Ausbeutung in den Medien zur Sprache kommen, wird vom „Prager Frühling“, einem kommunistischen Regime mit „menschlichem Antlitz“, geschwärmt, der eigentlich wesentlich bedeutendere Volksaufstand in Ungarn 1956 aber kaum erwähnt. Dub?ek war und blieb überzeugter Kommunist, wenn er auch die Reisefreiheiten sichtlich lockerte; er dachte aber nie daran, das Einparteiensystem aufzugeben. Bei seinen Mitarbeitern ist Staatspräsident Svoboda zu erwähnen, der viele Kontakte zu seinen Genossen in Moskau aufrechterhielt, da er einst der Kommandant der Tschechischen Legion im Russischen Bürgerkrieg war. In Ungarn sah die Sache völlig anders aus. Ein kleines, kaum bewaffnetes Volk griff schließlich die Supermacht frontal an, schoß an die 200 Sowjetpanzer ab und – was mir wichtig erscheint – , dieser Aufstand wurde von Arbeitern und Studenten initiiert. Was für eine Blamage für den Einparteienstaat, der sich selbst sozialistisch und demokratisch nannte, daß die Arbeiter die ersten waren, die zur Waffe griffen und dem Ausbeuter große Verluste zufügten, so daß er sogar für kurze Zeit die Hauptstadt verlassen mußte.
Die andere Säule des Widerstandes waren die studierende Jugend und sogar Schüler mit 13–14 Jahren. Die Zukunft also, die der Bolschewismus von allem Anfang an erobern wollte. Ein englischer Historiker schrieb, daß er nur einen einzigen anständigen Kommunisten kannte, und das war Imre Nagy. Er brauchte eine gewisse Zeit um dahinterzukommen, was das Volk wirklich wollte. Als er es wußte, stand er an seiner Seite und verließ es nicht mehr. Als ich zum 50. Jahrestag der Eröffnung des ungarischen Freiheitskampfes einen Artikel schrieb, wußte ich noch nicht, was in den inzwischen veröffentlichten Jelzin-Papieren, dem sogenannten Jelzin-Dossier, steht. Dabei handelt es sich um sowjetisches Archivmaterial in bezug auf den Ungarischen Volksaufstand von 1956, das Boris Jelzin anläßlich seiner Visite in Budapest 1992 der ungarischen Regierung überreichte.
Janos Kádár wurde in der zweiten Hälfte seines Regimes vom Westen hochgelobt. Man glaubte, die Hinrichtung des Ministerpräsidenten Imre Nagy sei von den Russen veranlaßt worden. In dem Jelzin-Dossier steht aber klipp und klar, daß Kádár fünfmal um die Erlaubnis der Exekution Imre Nagys ansuchte und dies von Moskau regelmäßig abgelehnt wurde, weil in Europa Wahlen vor der Tür standen und man nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer schütten wollte. Ebenfalls im Jelzin-Dossier steht, daß 1956 den Russen viel kostete, da man eine Menge von Öl, Kohle, Lebensmitteln in das Land brachte, damit der Sozialismus nicht zusammenbricht. Im Dezember 1956 organisierten die Frauen von Budapest eine auffallend große Demonstration, direkt vor der russischen Botschaft. Nicht das Geringste geschah! Die Russen wollten keine neue Revolution! Alles blieb friedlich, die Frauen durften mit ihren Transparenten und Kinderwägen heimkehren. Die Russen hätten sich mit einer Selbstkritik Imre Nagys wohl begnügt, doch diese verweigerte er regelmäßig bei seinen Verhören. Darauf sagten die Russen, nachdem sie die Hinrichtung fünfmal verweigert hatten, daß „die Angelegenheit eine innere ungarische“ sei. Noch am selben Tag befahl Kádár die Hinrichtung. Unter dem Galgen sagte Imre Nagy: „Ich werde nie um Gnade bitten. Mein Volk ist im Recht.“
Es gab und gibt Politiker im Westen, die Kádár für einen guten Mann hielten. Das einzige Mal, als ich Kreisky persönlich sprach, bei der Hochzeit des Sohnes seines Freundes Karl Kahane, debattierte ich darüber mit ihm, keinen Zweifel darüber lassend, daß ich Kádár kritisch gegenüberstand. Er setzte auch einige staatsmännische Entschlüsse, zum Beispiel das Amnestiegesetz und die Einreiseerlaubnis für die ehemaligen Emigranten. Trotzdem hat er den Ruf des Hochverräters nie ablegen können. Er war ja Minister von Imre Nagy und flüchtete mit einem russischen Panzer in die russische Botschaft zu Botschafter Juri Andropow, von wo er sofort nach Moskau gebracht wurde. Er wurde ein echter Satellit der Russen. Der Einmarsch einer ungarischen Division 1968 in der ?SSR erfolgte freiwillig. Ebenso freiwillig hat aber zum Beispiel Ceauçescu einen Einmarsch in das Nachbarland verweigert. Und es geschah ihm nicht das Geringste. Kádárs Aufstellung einer neuen Geheimpolizei mit vielen alten Namen ist auch nicht zu vergessen. Es setzte eine zeitlich kurze, aber umso blutigere Rache gegen alle Anhänger von Imre Nagy ein. Die von den Freiheitskämpfern freigelassenen politischen Häftlinge wurden Mann für Mann und Frau für Frau eingesammelt und weggesperrt. So zum Beispiel unser Revierjäger Müller, der wegen einer „Verschwörung“ 15 Jahre bekommen hatte und erst Ende der 1970er Jahre freikam. Der Chef der ungarischen Geheimpolizei ÀVO, später ÀVH, der russische Agent Péter Gábor, von dem etliche Historiker glaubhaft behaupten, daß er mehr als 100.000 Ungarn hat liquidieren lassen, wurde zwar anfangs eingesperrt, sehr bald aber amnestiert; er lebte dann bis ins hohe Alter als Bibliothekar und Pensionist in einer Villa.
Zum Ungarischen Volksaufstand hat in erster Linie die unmenschliche Politik von Mátyás Rákosi geführt. Dieser hatte nicht nur Ungarn im Sinne Stalins kommunistisch gemacht, sondern auch ehemals bedeutende Ungarn – Adelige, Generäle, Minister und hohe Beamte – in den Osten Ungarns deportieren lassen, um einen Keil zwischen die Bauernschaft und die „Herren“ zu treiben. Das Gegenteil geschah: Die Bauern, die sich seit jeher nicht ganz ohne Grund selbst als Herren – auf ihrem Grund und Boden – betrachteten, nahmen die sogenannten Klassenfeinde freundlich auf, die diese Freundlichkeit mit Fleiß bei der Arbeit und dem Fehlen jeder Klage vergolten. Freundschaften fürs Leben entstanden. Im Zuge der Entstalinisierung wurde Rákosi abgesetzt und Imre Nagy Ministerpräsident. Dieser beendete die Deportationen, liquidierte das Konzentrationslager in Recsk und begann Reformen durchzuführen. Doch schon weniger als zwei Jahre später, im April 1955, wurde er gestürzt und aus der Partei ausgeschlossen. Mátyás Rákosi kehrte an die Macht zurück. Doch statt aus seinen Fehlern zu lernen, startete er einen Rachefeldzug, der schließlich auch den Russen zu viel wurde. Am 17. Juni 1956 mußte er auf sowjetischen Druck zurücktreten, sein Nachfolger als KP-Generalsekretär wurde Ernö Gerö. Auch er galt als Bluthund, doch die Sowjets trauten ihm zu, weniger Fehler als Rákosi zu machen. Dieser wurde nach Moskau beordert, wo er Leiter einer Kolchose bei Moskau wurde. Er durfte Ungarn nie mehr betreten. Da er als besonderer „Liebling“ Stalins galt, wollten die neuen Herren Malenkow, Chruschtschow und Bulganin ihn in keiner führenden Parteiposition mehr sehen. Trotzdem konnte die Revolution in Ungarn nicht verhindert werden.
Eine Niederschlagung des Aufstandes war von sowjetischer Seite ursprünglich nicht geplant.
Die Russen hatten bis in hohe Parteikreise genug vom Kämpfen. Den Ausschlag gab jedoch ein Besuch bei Tito in Brioni, der abseits jeder Öffentlichkeit erfolgte. Sie machten diesen Canossagang in einer kleinen Propellermaschine. Erstens wollten sie Tito um Rat fragen, was sie jetzt mit Ungarn anfangen sollten. Sicher hofften sie, daß Tito zur Mäßigung raten würde, und es schwebte eine Art von „Finnlandisierung“ in der Luft. Tito sagte ihnen aber klipp und klar: „Wenn ihr diesen bewaffneten Volksaufstand nicht im Keim erstickt, wird es bald keinen Sozialismus in Europa mehr geben.“ Auch Mao ließ durch Tschu En-lai ausrichten, daß, wenn diese Revolution nicht sofort im Blut erstickt würde, durch den erzielten Erfolg andere sozialistischen Staaten das gleiche versuchen würden. Das gab der Troika im Kreml den Mut zum endgültigen Entschluß. Marschall Konew wurde beauftragt, eine riesige Panzerarmee von 3000 modernen Panzern aufzustellen und die Revolution niederzuwalzen. Während die in Ungarn stationierten und schon als „unverläßlich“ angesehenen Divisionen den Rückmarsch nach Rußland antraten, formierten sich in der Westukraine und Rumänien neu aufgestellte Verbände mit den damals besten Panzern der Welt. Manche Historiker sprechen sogar davon, daß eine große Panzerreserve im Hintergrund stand. Inzwischen brachen in Ungarn sechs völlig freie Tage an. Man bekam die neu ins Leben gerufene heimische bürgerliche und sogar ausländische Presse. Parteien bildeten sich in Windeseile, politische Häftlinge wurden freigelassen. Kardinal Mindszenty wurde von der ungarischen Armee befreit. Der dafür verantwortliche Kommandant – ehemals Pallavicini, jetzt Palinkas – wurde später natürlich auch von Kádár hingerichtet.
Bald nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes wurde der nach Moskau geflohene Ernö Gerö heimgelassen, und man baute ihm am „Rosenhügel“ von Buda eine neue Villa. Dort lebte er mit hoher Pension (aus den Biszku-Akten).
Auch den ehemaligen Rákosi-Ministern geschah unter Kádár wenig oder nichts. Der Geheimdienst wurde in seinen Führungskadern ausgetauscht, sonst aber blieb das meiste im großen und ganzen gleich. Man darf nicht vergessen, daß Kádár unter Rákosi Innenminister war, als Nachfolger des László Rajk, dem man zu Unrecht Kontakte zu Tito durch Folter „nachwies“. Während und nach Kádárs Haft wurden Gerüchte laut, daß er gefoltert worden war. Außerdem hielt sich hartnäckig das Gerücht, daß sein Verhörungsoffizier ihm in den Mund uriniert hätte. Diese Gerüchte waren unwahr und dienten der Tarnung der Tatsache, daß hohe Parteifunktionäre eine gewissermaßen bevorzugte Behandlung – mit einigen Ausnahmen – in der Haft genossen. Sein Verhörungsoffizier Wladimir Farkas, Sohn des Verteidigungsministers, konnte sogar noch im Kádàr-Regime Memoiren veröffentlichen.
Wenigen ist bekannt, daß der im Westen populäre und hochgelobte spätere Parteichef und Ministerpräsident Gyula Horn zwischen Dezember 1956 und Mai 1957 Mitglied des neuen Geheimdienstes wurde. Die seinerzeitige Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze war nicht Verdienst des Gyula Horn, sondern seines Regierungschefs Nemeth und natürlich Michail Gorbatschows.
Imre Nagy wurde als Soldat und Kriegsgefangener Kommunist. Er wurde am 7. Juni 1896 geboren und am 16. Juni 1958 hingerichtet. Sein Vater war armer Bauer, seine Mutter vor der Heirat Angestellte beim Untergespan. Er wurde an der russischen Front verwundet und kam so in Gefangenschaft. Im sibirischen Gefangenenlager wurde der junge Mann Bolschewik und trat in die internationale Brigade ein; er kämpfte auf der Seite der Roten Armee im Bürgerkrieg. Nach dem Krieg kehrte er nach Ungarn zurück und, obgleich Bolschewik, wurde er ganz legal Parteisekretär der ungarischen sozialdemokratischen Partei. Als er zu radikale Töne anschlug, wurde Nagy aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen. Er kehrte nach Moskau zurück und betreute seine Landsleute. In den Fraktionskämpfen stellte er sich auf die Seite von Bucharin und Landler. Vom Jahr 1939 an wurde er Sekretär von Malenkow, der im Politbüro die Staatssicherheit beaufsichtigte. Imre Nagy kehrte am 7. November 1944 mit der ersten Gruppe der „Moskauer“ Ungarn in das Land zurück und wurde im provisorischen Parlament des schon früh von der Roten Armee eroberten Debrecen Abgeordneter. Man beauftragte ihn mit der Organisation der Agrarreform. Nach den Wahlen, die der Kleinlandwirtepartei fast 70 % der Stimmen brachte, wurde er unter Zoltán Tildy Innenminister, aber nur bis zum 20. März 1946.
Nach Stalins Tod war es vor allem sein früherer Vorgesetzter Malenkow, der Nagy protegierte und zum Regierungschef vorschlug. Dieser war im März 1953 Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR geworden und setzte erste Reformen durch. Im innerparteilichen Machtkampf verlor er jedoch gegen Chruschtschow und trat 1955 als Vorsitzender des Ministerrates zurück. Dadurch hatte Nagy seinen wichtigsten Moskauer Fürsprecher verloren. Er wurde rasch gestürzt, erst aus dem Politbüro, dann aus dem Zentralkomitee, und aus der Partei ausgeschlossen. Rákosi kehrte, wie erwähnt, kurzfristig an die Macht zurück und wurde dann von Ernö Gerö abgelöst. Als dieser nach Ausbruch der Kämpfe zurücktrat, wurde Imre Nagy Ministerpräsident. Nach einigen Tagen sah es so aus, als ob die Aufständischen gesiegt hätten. Imre Nagy anerkannte die Revolution und erklärte am 1. November sogar den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und dessen Neutralität. Nun marschierten die Sowjettruppen in Ungarn ein und bestimmten am 4. November János Kádár zum Ministerpräsidenten. Bis zum 15. November dauerten die Kämpfe im ganzen Land an, die 2500 Ungarn und 720 Sowjetsoldaten das Leben kosteten.
Imre Nagys über Rundfunk und persönliche Emissäre erfolgte, ununterbrochene Hilferufe an die UNO blieben ungehört. Die trügerische Hoffnung, daß die USA eingreifen werde, war im Volk weit verbreitet. Doch die internationale Lage war ungünstig. In den USA stand man vor der Präsidentenwahl, Engländer und Israeli griffen den Suezkanal an. Zwar goß der amerikanische Sender in München Öl in das Feuer, und die Menschen waren überzeugt, daß ihnen geholfen werden würde. Auch ein Teil der Weltpresse glaubte das. Sämtliche westliche Korrespondenten waren schon vor Ort und berichteten. Doch nichts geschah. Die Jugoslawen übergaben (durch Finten) Nagy und die anderen in ihre Botschaft geflüchteten Revolutionäre den Russen. Imre Nagy wurde trotz wiederholtem Versprechen Kádárs, daß ihm nichts geschehen würde, nach langem Verhör und kurzem Prozeß am 16. Juni 1958 mit vier seiner Leidensgenossen, darunter Verteidigungsminister und Panzergeneral Pál Maléter, gehängt.
Wie fing der ungarische Freiheitskampf an? Für die damaligen Verhältnisse eher harmlos. Eine Demonstration der Studenten wurde für den 23. Oktober 1956 angemeldet, später vom Innenminister Piros verboten. Gerö, der Nachfolger Rákosis, weilte zu einem „Canossagang“ bei Tito in Jugoslawien, ähnlich wie Chruschtschow ein gutes Jahr vorher mit Malenkow und Bulganin. In Posen wurde eine weit bedeutendere Revolution durch die diplomatische Masche des sowjetischen Parteichefs beendet. Der inhaftierte „rechte“ Gomulka wurde freigelassen, der sofort den ebenso wie Mindszenty verurteilten Kardinal Wiszynski freiließ und in seine Residenz geleitete. Chruschtschow, wie die Russen damals überhaupt, wollte keinen Krieg, stoppte die vorrückende Rote Armee, entschuldigte sich bei Gomulka und setzte ihn sofort als Parteichef wieder ein. Dies erfuhr die ungarische Jugend und wollte es den Polen gleichtun. Ungarn hatte damals 8 Millionen Einwohner, Polen rund 40. Die Menschen verloren ihre ständige Angst vor der Geheimpolizei. Es gingen zuerst die Studenten, dann die Arbeiter aus den umliegenden Fabriken auf die Straße, trotz des ausdrücklichen und ständig im Radio wiederholten Demonstrationsverbotes, das der heimkehrende Gerö in einer präpotenten Rede wiederholte. Für ihn waren die friedlichen Demonstranten „Faschisten“ und „Knechte des Imperialismus“. Die Jugend sang zuerst die Marseillaise, dann marschierte sie zum Denkmal des polnischen General Bem aus dem Jahr 1848. Eine andere Truppe ging zum Petöfi-Denkmal auf der anderen Seite der Donau. Die Ereignisse in Polen, vor allem in Posen, gaben den Ungarn Kraft und Mut. Arbeiter verließen ihre Fabriken, Autobusse hielten und Chauffeure mit Insassen gingen mit den Demonstranten mit. Bevor das Politbüro in der Akadémia-Straße mit seiner Tagung geendet hatte und Befehle an die Exekutive durchgegeben werden konnten, waren um die zwei Denkmäler zehntausende Menschen versammelt. Die Hochschüler entwarfen eine Wunschliste von 16 Punkten. An erster Stelle stand der sofortige Abzug der sowjetischen Besatzungsarmee, die laut Friedensvertrag keinerlei Recht hatte, in Ungarn zu sein. Die Sicherung der Sowjettruppen in Österreich war kein Argument mehr, da der letzte Sowjetsoldat im Oktober 1955 Österreich verlassen hatte. Es war daher eine legale Forderung. Der zweite Punkt betraf die Partei. Man forderte vorerst die geheime Wahl ihrer hohen, mittleren und niedrigen Funktionäre; der dritte Punkt forderte die sofortige Bestellung des im Land beliebten Imre Nagy. Im vierten Punkt wurde ein Volksgericht gegen Rákosi und seine enge Clique gefordert. Im fünften Punkt wurde die sofortige Zulassung von anderen Parteien und somit die Auflösung des Einparteiensystems verlangt; der sechste Punkt forderte die Wiedereinführung des Streikrechtes, das in einem wirklich sozialistischen Staat selbstverständlich sein sollte. Die weiteren Punkte betrafen das Verhältnis Sowjetunion – Ungarn, die Umorganisation der Wirtschaft; unter anderem die Beendigung der Planwirtschaft. Ein Punkt betraf die damals für Ungarn so wichtige Uranproduktion. Wenn die Sowjets die Urangruben nicht ausgebeutet hätten, sozusagen als Kriegsbeute, wäre Ungarn nach damaligem Wert des Urans ein reiches Land gewesen. Der zehnte Punkt betraf die in die Kolchosen gezwungenen Bauern. Der elfte Punkt forderte höhere Bezahlung der Arbeiter und das Ende der Arbeitsnormen und des Stachanowsystems. Der zwölfte Punkt forderte die volle Freiheit der Meinung in Wort und Schrift; auch im Radio, denn Fernsehen gab es noch nicht. Die akademische Jugend wünschte sich eine eigene unzensurierte Zeitung. Ein Punkt wollte die freie Reise auch in westliche Länder, ein anderer die Änderung der nach sowjetischem Muster eingeführten Uniformen. Der von Stalin 1945 eingesetzte Marschall Woroschilow, der bis zur Einführung der Republik eine Art Verweserrolle spielte, hatte schon damals kritisiert, „die Uniform des ehemaligen Feindes einem stolzen und tapferen Volk aufzuzwingen“, sei eine „Beleidigung“. Woroschilow aber wurde nach Stalins Tod entmachtet, und die neuen Uniformen blieben unter Rákosi bestehen. Der letzte Punkt betraf das Staatswappen. Man forderte jenes zurück, das seit Stefan I. bestanden hatte (und noch 1989 von den Postkommunisten wieder installiert wurde). All diese Forderungen wurden öffentlich verlesen und Petöfis berühmtes Volksgedicht von 1848 an beiden Denkmälern abgesungen. Die riesengroß gewordene Menge lähmte vorerst die kommunistische Führung und ihre Polizei. Auch bei der folgenden Umstürzung eines Stalin-Denkmals wurde noch nicht eingegriffen. Dann aber stürmte die Menge zum Gebäude des Rundfunks. Die Geheimpolizei kam mit Rote-Kreuz-Wagen und eröffnete sofort das Feuer. Gleichzeitig wurde das Kommando der sowjetischen Truppen in Ungarn offiziell um Hilfe gebeten. Sehr bald rollten die Panzer aus ihren Garnisonen nach Budapest. Mit Erscheinen der sowjetischen Panzer brach der eigentliche Krieg in Budapest aus. Die Russen ließen sich lange bitten und taten das ihnen Aufgetragene sichtlich ungern.
Nur kurz zu meiner Tätigkeit während und nach der Revolution. Am Abend des 23. Oktober wurde ich plötzlich zu Landeshauptmann Krainer sen. in die Grazer Burg bestellt. Es war schon spät, und ich war erstaunt, die gesamte Landesregierung im großen Sitzungssaal anzutreffen. Mir wurde von Krainer die Frage gestellt, was ich vom Freiheitskampf hielte. Ich antwortete: „Nach meinen Erfahrungen mit den Russen werden sie die Revolution mit militärischer Übermacht so bald als möglich niederschlagen. Zwei, drei Landesräte stimmten mir zu. Krainer schien von meiner Antwort enttäuscht zu sein. An diesem Abend wurde ich als persönlicher Ungarnreferent des Landeshauptmannes für die nächsten vier Wochen bestellt und von meinem Dienst im Museum freigestellt. Ich sollte Krainer aus der ungarischen und ausländischen Presse täglich am Nachmittag möglich kurz gehaltene Berichte vorlegen. Mein Chef war der unmittelbare Vorgesetzte aller Landeshauptmann-Sekretäre, Hofrat Bruno Binder-Krieglstein. Gleichzeitig sollte ich auf den Bahnhöfen sowohl mit Ungarn sprechen und die vielen mit Fahrrädern nach Graz gekommenen Ungarn über die Lage interviewen. Krainer fand anscheinend Gefallen an meinen Berichten, denn die Dienstfreistellung wurde auf weitere vier Wochen ausgedehnt. Überall in Graz standen damals die abgestellten Fahrräder der Ungarn, die durch die Blechschilder mit Namen und Adresse am vorderen Rad zu erkennen waren. Einige Male wurde ich vom Landeshauptmann auch in „Privataudienz“ empfangen. Er gab bald zu, daß ich Recht hatte mit meiner Prognose und sagte mir auch, daß er mich am liebsten nach Ungarn geschickt hätte, was ich aber mit dem Hinweis ablehnte, daß mein älterer Bruder ohnehin schon in Ungarn wäre. Nach alldem, was ich in den Jahren 1945–48 in meiner Heimat erlebt hatte, war ich nicht gewillt, ein solches Risiko einzugehen. Ich erzählte Krainer von allen Greueltaten, die die Russen in Ungarn verübt hatten, von den blutbespritzten Verhörzimmern bei der Polizei in Mór, unserer Bezirkshauptstadt, den Vergewaltigungen, Plünderungen auch der Ärmsten, dem Verschwinden von zahlreichen Unschuldigen, die nie mehr auftauchten, und sagte: „Nein, danke, da will ich vorerst nicht mehr hin.“ Krainer schien mir Recht zu geben, aber mein Dienst in seinem Vorzimmer wurde bald darauf aufgekündigt. Zum Abschied sagte er mir noch, daß ich ein gutes politisches „Gespür“ hätte und fragte mich nebenbei, ob ich nicht in der Politik tätig sein wolle. Darauf sagte ich der Wahrheit entsprechend, ich hätte ein Gelübde abgelegt, nicht in die Politik zu gehen, obgleich ich seit meiner Kindheit politisch interessiert wäre. Krainer zwinkerte mit den Augen, sagte „Schade“, und mit einem kräftigen Händedruck wurde ich verabschiedet.
Zuletzt scheint es mir angebracht, einen Vergleich zwischen den Fluchtbewegungen 1945, 1948, 1956 und 2015 zu machen. Zu Kriegsende waren die Grenzen offiziell für alle Flüchtlinge geöffnet, auch mein Vater, der auf der Liste der Gestapo stand, konnte nach Österreich einreisen. Kontrolle war bei den Menschenmassen damals nicht möglich. Wir verließen Ende März mit drei Leiterwägen Ungarn, und es gelang uns, nach Brandhof zu gelangen. Nach 1948 war sowohl die ungarische Grenze als auch die Zonengrenze streng bewacht. Es gab aber noch keine Minen und nur vereinzelt Zäune. 1956–57 flüchteten allein aus Ungarn, das die Russen durch Panzerarmeen besetzten, 200.000 Menschen nach Österreich. In allen drei Fällen war die Angst vor dem Sowjetkommunismus der Grund zur Flucht. Österreich hatte sich wirtschaftlich erholt. Die Besatzungsmächte waren weg. Man half den Ungarn damals wie und wo man konnte. Zum Vergleich: Bis 1947 gab es in Ungarn volle Geschäfte, in Österreich konnte man die primitivsten Gebrauchsgegenstände nicht kaufen. Nach 1948, Rákosis Machtergreifung, wurde Ungarn wissentlich und relativ schnell „arm gemacht“, während in Österreich der Marschallplan und die ERP-Hilfe Wohlstand schuf. 1956 gaben die Österreicher den Ungarn große Mengen an Kleidung und anderes mehr. Ich hatte einen Studenten als Mitbewohner in meiner kleinen Wohnung. Er bekam vier Pelzmäntel als Geschenk von den Österreichern. Ich hatte keinen, und so schenkte er mir einen. Damals wurde wenig gesprochen und viel für die Flüchtlinge getan. Im Nachbarland Deutschland, wo es 1945 kaum ein bewohnbares Haus in den Städten gab, nahm man Millionen auf, auch in der Stunde der größten Armut. Die Menschen waren anders, die Hilfe war selbstverständlich. Heute gibt es – fast unbemerkt entstanden – eine Invasion aus Asien und Afrika, die schon einer Landnahme gleicht. Wenn ein Volk wie die Ungarn sich selbst und die Außengrenzen der EU schützt, wird es beschimpft. Dabei ist natürlich völlig klar, daß die Menschen in Syrien echte Fluchtgründe haben und ihnen geholfen werden muß. Fazit: Es hat sich zwischen 1945 und 2015 unendlich viel verändert. Geldgier und Egoismus haben die Menschenfreundlichkeit abgelöst. Wie immer auch die Frage der Auswanderer ausgehen sollte, es schaudert jedem der wenigen denkenden Menschen vor einem Blick in die Zukunft.
Der Autor
Philipp Graf Meran ist gebürtiger Ungar und kehrte nach der Flucht vor der Roten Armee wieder in sein Heimatland zurück, das er erst 1948 endgültig verließ. Der ehemalige Direktor des Grazer Jagdmuseums ist jedem Jagdbuchleser ein Begriff. Mit mehreren Literaturauszeichnungen geehrt, verbindet er in seinen nunmehr 19 Erzählbänden Jagderlebnisse, Zeitgeschichte und Gesellschaftskritik auf höchstem Niveau.
Sándor Kopácsi: Die ungarische Tragödie. Wie der Aufstand von 1956 liquidiert wurde.
David Irving: Aufstand in Ungarn
Emil Csonka: Grundlagenforschung zur Revolution 1945–1956
Helyi Érték, Politische Zeitschrift
Miklós Melocco, ehemaliger Freiheitskämpfer, Interview mit Majer Tamás
Das Jelzin-Dossier ist seit 2010 für Historiker frei zugänglich
Das Biszku-Dossier ist in Budapest veröffentlicht worden
Fejérváry István: Börtönvkilág Magyafrországon / Zuchthauswelt in Ungarn / Was in Ungarn geschah, Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen, Freiburg 1957
Georg Pálóczy-Horváth: Tragödie eines Volkes
Péter Gosztonyi: Die Nacht des Verrates 1966
EH Otto v. Habsburg: Die ungarische Revolution ist kein abgeschlossenes Ereignis, Oktober 1962
Fritz Moden/Eugen Pogány: Ungarns Freiheitskampf 1956
Adenauer Konrad: Erinnerungen 1955–59, Stuttgart 1967