Im Zeitalter der Postdemokratie, in dem die Diskrepanz zwischen den wenigen, die herrschen (Elite), und den vielen, die beherrscht werden (Masse), scheinbar unaufhaltsam wächst, gewinnen politische Theorien wie die von Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels unversehens an Aktualität. Diese drei Männer gelten als die klassisch-machiavellistischen Machtelitentheoretiker. Ihre Theorien von den Eliten sind Machttheorien, die zugleich auch eine Kritik des politischen Erfolgs sein wollen. Für Pareto, Mosca und Michels bestand die „herrschende Klasse“ aus einer Elite von Machtmenschen, die mit rücksichtsloser Energie und Erfolgstüchtigkeit an die Spitze drängen. Es ging dabei vor allem um einen Rekurs auf den bloßen Willen zur Macht.
Die Vorfahren des in Paris als Wilfried Fritz Pareto geborenen Vilfredo Federico Pareto (1848–1923) hatten sich im Sinne eines am italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Mazzini orientierten militanten Liberalismus betätigt. Vor diesem Hintergrund wandte sich Pareto bereits relativ früh der liberalen Wirtschaftslehre zu und kämpfte als ein intransigenter Liberaler für die Verwirklichung seines großen Ideals einer reinen „Marktwirtschaft“. Dies war allerdings nicht von Erfolg gekrönt: 1882 kandidierte er als Abgeordneter im Wahlkreis Pistoia-Prato, ohne in das Parlament gewählt zu werden. Pareto gab seinen Beruf als Ingenieur auf und übernahm 1892 an der Universität Lausanne den Lehrstuhl für Nationalökonomie, den bis dahin der sehr stark mathematisch ausgerichtete Léon Walras innegehabt hatte. Als einer der Begründer der Wohlfahrtsökonomik gelangte Pareto zu der Erkenntnis, daß die Verteilung des Einkommens nicht etwa einer Normalverteilung folgt, sondern zumeist „rechtsschief“ ist („positive Schiefe“).
1896/97 stellte Pareto, der weiterhin seinen liberalen Idealen nachhing, in „Cours d’économie politique“ nochmals die neoklassische Volkswirtschaftslehre dar und erwies sich so als Repräsentant des Wirtschaftsliberalismus. 1906 jedoch legte er mit seinem „Manuale di economia politica“ dieses „Gewand“ ab und gelangte von der Nationalökonomie zur Soziologie. Indem er diesen Schritt machte, verfaßte Pareto 1902/03 „Les systèmes socialistes“ sowie 1916 den „Trattato di sociologia generale“. Für die Nationalökonomen ist Pareto ein Soziologe, für die Soziologen ein Nationalökonom. Doch das Wesentliche von Paretos Lebenswerk besteht gerade in der Verbindung von Ökonomie und Soziologie zu einer Sozialwissenschaft von allumfassender Natur. Joseph A. Schumpeter lobte ihn, er habe wie kaum ein anderer begriffen, „daß letzten Endes alle exakten Wissenschaften oder Teilwissenschaften eine Einheit bilden“1.
In seinem „Trattato di sociologia generale“ ist Vilfredo Paretos Machtelitentheorie enthalten. Auf den entsprechenden Paragraphen im „Trattato“ wird jeweils in einer Anmerkung verwiesen.
Die Bevölkerung (Gesellschaft) besteht aus 1. der nicht ausgewählten Klasse und 2. aus der ausgewählten Klasse (Elite). Letztere gliedert sich wiederum in a) die herrschende Elite und b) die nicht herrschende Elite.2 Die ausgewählte Klasse – sowohl herrschende als auch nicht herrschende Elite – ist Pareto zufolge frei von jeglicher echter Wertvorstellung. Sie umfaßt Individuen, denen in bezug auf ihre Kapazität in einem bestimmten Aktionsbereich ein gewisser Index zugesprochen wird. Vor dessen Hintergrund findet eine Punktewertung statt: Allein der Erfolg um jeden Preis zeichnet die Eliten aus.3 Das politische Werden ist von der legendären Zirkulation der Eliten (Fusion der Eliten) gekennzeichnet – die zentrale These, durch die Pareto unsterblich geworden ist. Dabei sind die zirkulierenden Eliten wie erwähnt ausschließlich am Erfolg und an dem Streben orientiert, Macht zu erlangen und zu bewahren.4
Die dem menschlichen Handeln zugrundeliegenden psychischen Konstanten heißen bei Pareto Residuen, während deren pseudologische Begründungen Derivationen heißen. Die Klassifikation der Residuen kennt: I. den Instinkt der Kombinationen, II. die Persistenz der Aggregate, III. das Bedürfnis, Gefühle mit äußeren Handlungen auszudrücken, IV. die Residuen in Beziehung zur Soziabilität, V. die Integrität des Individuums und seines Zubehörs und VI. das sexuelle Residuum.5 Es sind die Residuen, die die Geschichte bestimmen; sie sind das „Gegebene“, an dem sich die Herrschenden zu orientieren haben. Hierauf geht in letzter Konsequenz der Dezisionismus zurück, weil letztlich allein die Tat als solche noch sinnvoll zu sein scheint.
Diese Geisteshaltung bot später dem Faschismus einen Anknüpfungspunkt, wie überhaupt die Kritiker Paretos ihm wohlfeil eine Zuneigung zum italienischen Faschismus vorwerfen. Dies hängt vor allem mit einer Würdigung Vilfredo Paretos durch Luigi Amoroso, einen italienischen Ökonomen und überzeugten Faschisten, zusammen. Vor diesem Hintergrund gilt Vilfredo Pareto vielen bis heute zum Teil als wichtiger Vorläufer der Bewegung Benito Mussolinis, der in ihm einen wichtigen Lehrmeister sah. Diese Auffassung ist jedoch stark umstritten, weil zum Beispiel der deutsche Soziologe Max Weber einer cäsarischen Ausprägung der Demokratie deutlich aufgeschlossener gegenüberstand als Pareto. Weber sprach sich allerdings dafür aus, in einer cäsarisch geprägten Demokratie als Gegengewicht ein starkes Parlament zu etablieren.
Pareto radikalisiert den ideologiekritischen Ansatz: Er sieht die Eliten nicht mehr nur als ein politisches, sondern als ein die gesamte Gesellschaft betreffendes Phänomen. Überdies erweitert er die Basis der ideologischen Enthüllung vom bloßen Machtstreben zu einer Reihe von gefühlsmäßigen „Residuen“, die eigentlich ein Agens aller Geschichte sind. Das Ergebnis lautet so: Für die Dynamik einer Gesellschaft sind vor allem gewisse, regelmäßig vorfindbare alogische Gefühlskerne (Residuen) entscheidend, denen gegenüber das rationale Raisonnement (Derivationen) lediglich die Funktion der nachträglichen Rechtfertigung des alogisch Gewollten erfüllt. Diese Gedankengänge sollten übrigens einen sehr starken Einfluß auf das marxistische Schema von Überbau und Unterbau ausüben.
Von den verschiedenen Kategorien der Residuen besitzen einzig und allein zwei Bedeutung für den historischen Prozeß. Dies sind 1. das Residuum der Kombination sowie 2. das Residuum der Persistenz. Ersteres bringt als kombinatorische Eliten den Typ des Spekulanten hervor. Selbiger zieht diplomatische Mittel den kriegerischen vor, wird auf Dauer jedoch von einer Rentner-Elite verdrängt. Diese ist der Typ, der die persistenten Eliten (das Gegenstück zu den kombinatorischen Eliten) prägt. Der Typ des Rentners beharrt auf seinem Besitz und verteidigt ihn stets auch mit Gewalt, wird jedoch auf Dauer von einer Spekulanten-Elite verdrängt. Somit findet eine permanente Elitenzirkulation statt: Die zur Macht strebende Elite löst irgendwann die herrschende Elite ab, verfällt allerdings früher oder später dem gleichen Schicksal des Niedergangs.
Vilfredo Paretos Zirkulationstheorie ist ein Protest gegen den Historismus und seinen Glauben an die Einmaligkeit und Individualität jeder Gesellschaft und jeder Epoche. Die von dem Soziologen vorgenommene Reduktion auf die residuale Vitalsphäre kehrt die Geschichtsgläubigkeit um und wird zum Glauben an den Sinn der bloßen Macht. Von hier bis zur normativen Kraft des Faktischen ist es kein großer Schritt mehr.
Der „neue Liberalismus“ erhob die Forderung nach einem starken Staat, in dem die Masse durch die Elite zu führen sei. Dieses Postulat entsprach Paretos These, wonach letzten Endes allein die Tat noch als sinnvoll anzusehen sei und worin sich die permanente Elitenherrschaft verkünde. Das Substrat hieraus ist ein reiner Dezisionismus, denn Vilfredo Paretos hauptsächliche Intention, auf das irrationale Wesen einer Politik der Gewalt zu verweisen und dabei die als falsch und trügerisch erkannten Ideale zu entschleiern, war und ist von einer dezisionistischen Grundhaltung beherrscht.6
Ohne jeden Zweifel kann von einem inneren Zusammenhang zwischen Paretos liberalistischer Gesellschaftstheorie und der totalitären Staatstheorie gesprochen werden. So schrieb der Philosoph Giovanni Gentile am 31. Mai 1923 an Benito Mussolini, der „wahre“ Liberalismus der Freiheit im Gesetz und damit im starken, als eine ethische Realität aufgefaßten Staat werde gegenwärtig in Italien nicht von den Liberalen, sondern von den Faschisten vertreten.7 Letztere fanden im Dezisionismus einen Punkt, an den sie anknüpfen konnten, denn der Faschismus stimmte mit dem Liberalismus darin überein, daß insgesamt ein Gleichgewicht der wirtschaftlichen Interessen und Kräfte herzustellen sei.8
Gaetano Mosca (1858–1941) wurde in Palermo geboren, an dessen Universität er 1881 ein Diplom in Rechtswissenschaften erwarb. Rechts- und Politikwissenschaftler, jedoch auch Soziologe, war er von 1896 bis 1923 Professor für Verfassungsrecht in Turin und von 1923 bis 1933 für Öffentliches Recht in Rom. Daneben als Abgeordneter in der Deputiertenkammer tätig (1909–1919), fungierte er in dem Zeitraum 1914–1916 als Unterstaatssekretär für die italienische Marine. 1919 wurde er zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Mosca, der auch als Publizist wirkte, gilt als der Begründer der Politischen Wissenschaft.
Als sein erstes Hauptwerk ist die im Jahr 1884 veröffentlichte Arbeit „Über die Theorie der Herrschaftsformen und über den Parlamentarismus“9 zu sehen. In dieser beschrieb er das Prinzip der Minderheitenherrschaft. Es folgte das Werk, mit dem Mosca bis heute weltbekannt geblieben ist: „Die herrschende Klasse – Grundlagen der Politischen Wissenschaft“ – 1896 deren erster Teil10 und 1923 deren zweiter Teil.11 Es gilt als das bedeutendste Werk der Politischen Soziologie und begründete die klassische Elitesoziologie. Mosca wollte mit seiner Schrift aufzeigen, daß jede Gesellschaft von einer Minderheit dominiert wird und daß Demokratie im Sinne einer Herrschaft des Volkes prinzipiell nicht möglich ist. Unter den Hauptwerken des Gelehrten ist darüber hinaus die 1937 herausgekommene Arbeit „Geschichte der politischen Lehren“12 zu verorten.
Moscas Werk „Die herrschende Klasse“ ist in 17 Kapitel untergliedert, wovon die ersten elf ein in sich geschlossenes Œuvre darstellen, dessen erster Teil 1896 erstmals publiziert wurde. Darin entwickelt der Autor die Grundzüge seiner Gesellschaftstheorie, wie er sie auch bereits in seinem vorhergehenden Werk „Sulla teoria dei governi e sul governo parlamentare“ in groben Zügen dargestellt hatte. Erst im Jahr 1923 gelangten die restlichen sechs Kapitel zur Veröffentlichung.
Den Hintergrund bildete die Auseinandersetzung Moscas mit Liberalismus und marxistischem Sozialismus bei einer sich verändernden Sozialstruktur. Als Antagonisten standen sich das italiensche Bürgertum und die aufstrebenden Kräfte der Arbeiterbewegung gegenüber. Mosca setzte es sich zum Ziel, unter Reduktion auf die formalen Bedingungen für Stabilität bzw. Instabilität die Phänomene des politischen Wandels in ihrer Universalität zu interpretieren. Er erkannte die Relativität jeder sozialen Ordnung und zweifelte heftig an dem in der liberalistischen Ideologie hochstilisierten harmonischen Interessenausgleich, der ohne staatliche Intervention zustandekommen sollte. Dies war kennzeichnend für den Wandel im liberalen Verständnis vom (Rechts-)Staat. Der italienische Staat war zum Medium der Klassenherrschaft des Bürgertums geworden: Es war keine Beschränkung staatlicher Macht mehr intendiert, stattdessen eine Instanz, die eine solche Beschränkung als überflüssig betrachtet. Von da an war es nicht mehr weit zur Elite, der „politischen Klasse“ (ital.: classe politica).
Es war Gaetano Moscas Anliegen, politische Grundstrukturen in der Gesellschaft aufzuspüren, wie sie in jeder historischen Epoche in gleicher Weise den Herrschaftsverhältnissen zugrundeliegen. Sein wichtigstes Ergebnis lautet so: Jede Gesellschaft ist in zwei Teile gespalten, in eine herrschende Minderheit und eine beherrschte Mehrheit (Gesetz von der Herrschaft der Minderheit). Das Gesetz der herrschenden Klasse soll zwei Grundirrtümer der Politischen Theorie beseitigen: 1. die Annahme, daß in der Diktatur tatsächlich ein Mann allein herrschen könnte; 2. den Glauben an die Möglichkeit einer demokratischen Mehrheitsherrschaft.
Die Art und Weise, in der Minderheiten an die Macht kommen (ob durch Delegation oder aber durch Berufung), macht Mosca zufolge den wahren Unterschied aus. Es gibt ein liberales (Wahl) und ein autokratisches Ausleseprinzip (Ernennung): dieses betrifft die Art der Auslese, d. h., ob sie von „unten“ oder von „oben“ vorgenommen wird. Eine andere Bedeutung besitzt bei Gaetano Mosca das Gegensatzpaar demokratische Tendenz – aristokratische Tendenz. Dieses zielt auf die zur Auslese in Betracht kommenden Gruppen und Schichten ab.
Zentrale Kategorien sind bei Mosca Macht und Herrschaft. Das Normen- und Wertesystem ist lediglich als Epiphänomen zu sehen: Macht und Herrschaft entbehren weitgehend des materialen und historischen Inhalts. Die „politische Formel“, einer der berühmtesten Begriffe aus der Terminologie Moscas, dient der herrschenden Klasse zur Rechtfertigung des Machtverhältnisses und der sozialen Strukturen. Was bei Pareto die Derivationen als pseudologische Begründungen der Residuen sind, wird bei Mosca von der „politischen Formel“ geleistet. Sie enthält gesellschaftlich anerkannte Lehren und Glaubenssätze, welche die Macht der gegenwärtig Regierenden jedem Mitglied der Gesellschaft gerechtfertigt erscheinen lassen und darüber hinaus der Befriedigung des psychischen Bedürfnisses der Masse nach legitimer Beherrschung dienen.
Gaetano Mosca hat seine Theorie von der herrschenden Klasse ausschließlich am Modell der Politik und ohne Einbeziehung anderer Gebiete des sozialen Lebens entwickelt. Seine Konzeption ist ausgerichtet an dem Konflikt zwischen den Führungsträgern in bezug auf die gesamtgesellschaftliche Herrschaft. Er selbst befürwortete die schrittweise vorzunehmende Erneuerung der politischen Klasse durch ein langsames Eindringen einiger Elemente aus den unteren Volksschichten als ein nützliches Korrektiv für die sich zu einer geschlossenen Kaste verfestigende Aristokratie. Er nahm die Haltung eines Konservativen ein, der meinte, daß die Gruppe der politischen Klasse, deren Sieg von Sympathie und Unterstützung der Massen abhänge, Elemente aus den niederen Volksschichten durch Kooptation aufnehmen müsse, um sich zu behaupten.13
Der Elitentheoretiker Mosca warnte aber vor einer Beseitigung des aristokratischen Prinzips. Bei ihm verband sich der Prozeß der Stabilisierung mit dem der Oligarchisierung. Zuletzt blieben die „oligarchischen Tendenzen“ innerhalb der politischen Klasse als Grundkonstante bestehen.14
Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels (1876–1936) wurde in Köln als Wilhelm Robert(o) Eduard Michels geboren. Er entstammte einer Kaufmannsfamilie und machte 1894 Abitur. Von 1896 bis 1900 studierte er Geschichte und Nationalökonomie an der berühmten Sorbonne in Paris sowie an den Universitäten München, Leipzig, Halle an der Saale und Turin. Nach seiner Promotion zum Dr. phil. (Thema der Dissertation: „Zur Vorgeschichte von Ludwigs XIV. Einfall in Holland“) im Jahr 1900 trat er 1901 dem „Partito Socialista Italiano“ (PSI) bei. 1903 folgte sein Eintritt in die SPD, für die er sich im selben Jahr vergebens als Reichstagskandidat aufstellen ließ. Michels nahm an beinahe allen Auseinandersetzungen der internationalen sozialistischen Bewegung teil, wobei er Sympathien für den revolutionären Syndikalismus in Frankreich und in Italien hegte. Im Zeitraum 1903–1905 war er Delegierter auf allen nationalen SPD-Parteitagen, wobei die auf diesen Parteitagen gesammelten Erfahrungen sein Werk prägten. Wegen seiner Teilnahme an sozialistischer Agitation wurde ihm in Deutschland die Habilitation verwehrt, woran auch die Fürsprache Max Webers nichts ändern konnte.
Michels’ innerparteiliche Opposition führte dazu, daß er Kritik an dem Zwiespalt übte, den er zwischen der revolutionären Phraseologie auf der einen Seite und der mehr als ängstlichen Politik der SPD auf der anderen Seite konstatierte. In seinen Augen war dies bloß „furchtsamer Legalismus“ und erntete seine Verachtung. Wesentlicher Grund für diese Haltung war die „Verkleinbürgerlichung“ im bürokratischen Apparat der SPD. Diese machte nach Ansicht von Robert Michels die besten Elemente des Proletariats von Handarbeitern zu Kopfarbeitern.
1907 übersiedelte Michels nach Italien. Er habilitierte an der Universität Turin und wurde dort Privatdozent für Nationalökonomie. Sowohl aus dem PSI als auch aus der SPD zog er sich zurück und wandte sich dem revolutionären Syndikalismus zu. 1913 nahm er, der einst als bourgeoiser „Renegat“ vom besitzbürgerlichen Lager in das revolutionär-syndikalistische übergelaufen war, die italienische Staatsbürgerschaft an. Nun wurde der kämpferische Internationalist italienischer Patriot und Anhänger des italienischen Nationalismus. 1914 erhielt Michels einen Ruf als Professor für Nationalökonomie und Statistik an die Universität Basel, gab aber seine Privatdozentur an der Universität Turin nicht auf. In der Folgezeit unterhielt er einen engen Kontakt zu Vilfredo Pareto, von dem er bei seiner Arbeit in ähnlicher Weise beeinflußt wurde wie von Gaetano Mosca.
Im Jahr 1922 trat Michels, der seine neue Rolle als italienischer Staatsbürger sehr ernst nahm, der „Partito Nazionale Fascista“ (PNF) Benito Mussolinis bei und erhielt 1926 einen Lehrauftrag an der Universität Rom, wobei er sich bemühte, das faschistische Regime des „Duce“ auf ideologischer Ebene zu legitimieren. Dies machte er offenbar überzeugend, denn 1928 wurde er an die Universität und faschistische Parteihochschule Perugia berufen. Dort lehrte Robert Michels als von Mussolini persönlich protegierter Ordinarius für Nationalökonomie und propagierte faschistisches Ideengut – bis zu seinem Tod im Jahr 1936.
War Mosca und Pareto der Nachweis dafür gelungen, daß es in jeder Gesellschaft unvermeidlich und notwendig eine „politische Klasse“ bzw. „Elite“ geben muß, wollte Michels aufzeigen, weshalb sich derartige „oligarchische Tendenzen“ durch Zwangsläufigkeit auszeichnen. Dafür boten sich Michels die sozialrevolutionären Arbeiterparteien als geeigneter Untersuchungsgegenstand an, weil diese ihrer Entstehung und Willensrichtung nach die Negation dieser oligarchischen Tendenzen darstellten: Der Soziologe Michels wollte dadurch zeigen, daß die Eliten-These auch der Probe des ungünstigsten Falls standzuhalten vermochte.
Für die Diskrepanz zwischen innerorganisatorischem Wertesystem und innerorganisatorischer Willensbildung konstatierte Robert Michels drei Ursachenkomplexe:
Technisch-administrative Entstehungsursachen: In diesem Komplex herrscht die mechanische und technische Unmöglichkeit unmittelbarer Massenherrschaft als Grund für die beschriebene Diskrepanz vor.
Psychologische Entstehungsursachen: Hier entfalten mehrere Ursachen ihre Wirkung, wobei Führungsbedürfnis, Dankbarkeit und Verehrungsbedürfnis der Massen eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Dazu kommt als Faktor die Selbstüberhöhung der Führer mit ihrem natürlichen Machthunger und ihrem autoritären Herrschaftswillen.
Intellektuelle Entstehungsursachen: Auf diesem Gebiet konstatiert Michels die sachliche und formale Überlegenheit durch die berufliche Führerschaft, die wiederum der Bildungsdifferenz zu den weit weniger gebildeten Massen geschuldet ist. Letztere spielen darüber hinaus durch ihre Apathie den Führern in die Hände.
Alle diese drei Ursachenkomplexe führen letztlich dazu, daß der Führer bzw. die Oligarchie an der Spitze sich der Organisation als Herrschaftsmittel zu bedienen vermag („Anfang vom Ende der Demokratie“). Demgegenüber bleiben alle präventiven Versuche, die auf die Verhinderung der Macht der Führer abzielen, in letzter Konsequenz zwecklos. Allenfalls bietet diese deprimierende Diagnose Ansatzpunkte für eine sozialpädagogische Therapie, deren Wirkung aber überhaupt nicht erwiesen ist. Robert Michels formuliert in Anbetracht der Organisation als Herrschaftsmittel der Führer bzw. der Oligarchie das soziologische Grundgesetz, dem die politischen Parteien zwangsläufig unterworfen sind: Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler. Und aus dem von den Eliten untereinander geführten Machtkampf resultiert schließlich eine Verschmelzung der Eliten.
Vor diesem Hintergrund entwickelt Robert Michels seinen Begriff von Demokratie, bei dem die Gedanken Jean-Jacques Rousseaus und dessen Vorstellung von direkter Demokratie eine wichtige Rolle spielen: Denn für Rousseau war direkte Demokratie mit jeglicher Form von Repräsentation und Delegation absolut unvereinbar. Für Michels’ Demokratiebegriff sind folgende Punkte konstitutiv:
Die revolutionäre Masse besitzt eine unvermittelte und somit ungebrochene Identität mit sich selbst (was für die frühsyndikalistische Frühphase Michels’ charakteristisch ist).
Michels hat Einsicht in die Notwendigkeit von Organisation und die mit dieser unvermeidlich einhergehende elitäre Verselbständigung der Führung gegenüber der Masse. Nicht zuletzt hier wird der Einfluß von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto, aber auch von Max Weber spürbar.
Es existieren heimliche Rückstände von Identitätsidealen: Der italienische Faschismus wird in Michels’ Sichtweise als die vollendete Synthese von Elitenherrschaft auf der einen Seite sowie von „identitärer“ Verschmelzung von Masse und Führer auf der anderen Seite gedeutet. Ganz in diesem Sinne ist die faschistische Konsensustheorie für Robert Michels die Verwirklichung des identitären Prinzips der Demokratie: eine Diktatur mit Genehmigung des Volkes oder – in anderer Wendung – „Konsensus statt Parlament“.
Gaetano Moscas Thesen werden durch Robert Michels’ Erkenntnisse vollauf bestätigt. Beide Theorien halten sich durchweg an den Bereich des Politischen, wobei es ihnen nicht so sehr um eine Bloßlegung sozialer Strukturverhältnisse als vor allem um den Willen zur Macht geht. Dieser soll als irrationale Basis politischen Handelns enthüllt werden. Die Robert Michels zugeschriebene normative Forderung nach sozialistisch verstandener Demokratie erinnert – und dies sei hier nochmals betont – an Jean-Jacques Rousseaus Leitbild der a priori gültigen „volonté générale“.15
Die an Michels geübte Kritik wirft ihm vor, daß er die sozioökonomischen und die politischen Bedingungen zu wenig beachte, daß er in einer allzu oft von der konkreten gesellschaftlichen Struktur und derjenigen der Staatsordnung abstrahierenden Sicht argumentiere. Sein Ansatz sei ein einseitiger und damit zumindest problematischer. Zudem übersehe er, so die Kritiker, daß die semiabsolutistische Staatsform des kaiserlichen Deutschlands es für die Führung der SPD unverzichtbar gemacht habe, so undemokratisch zu agieren, wie Michels es ihr vorwerfe.16
Pareto, Mosca und Michels gehören als Machtelitentheoretiker untrennbar zusammen. Hat doch jeder von ihnen die gleiche Entdeckung gemacht – nämlich die, daß in jeder Gesellschaft eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht und für ihre Macht einer ideologischen Rechtfertigung bedarf. Es ist bei genauer Betrachtung eine eigentümliche Radikalisierung der Banalität ihrer Einsichten festzustellen: In der Absicht, die wahre Natur der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse zu enthüllen, erzeugen die drei machiavellistischen Machtelitentheoretiker eine Verwerfung alles Geistigen in der Geschichte als bloßer Schein. Die Wirklichkeit wird ausschließlich von „Realfaktoren“ bestimmt.
Sehen wir auf das Gegensatzpaar Macht der Eliten – Ohnmacht der Massen, so ist bei den drei klassisch-machiavellistischen Machtelitentheoretikern Pareto, Mosca und Michels keine über diesen Antagonismus hinausgehende Differenzierung der Gesellschaft anzutreffen. Das hat auch seinen guten Grund, denn sie bieten eine Kritik des Marxismus mit seinem Glauben an die klassenlose Gesellschaft, und so kann es aus der ewigen Elitenzirkulation auch kein Entrinnen geben.
Was nun die Bezeichnung von Pareto, Mosca und Michels als klassisch-machiavellistische Machtelitentheoretiker anbelangt, so geht sie auf den US-amerikanischen Philosophen und politischen Theoretiker James Burnham zurück. Dieser beeinflußte in den 1930er Jahren als ein trotzkistischer Intellektueller die Arbeiterbewegung in den USA, wurde dort allerdings später zu einem Vorkämpfer der konservativen Bewegung. In Anlehnung an Niccolò Machiavelli und dessen berühmtestes Werk „Der Fürst“ (um 1513 verfaßt) bezeichnete er verschiedene Sozialtheoretiker als „Machiavellisten“. In den Augen Burnhams war ihnen allen die Auffassung gemeinsam, daß der Grundfaktor aller Politik der Wille zur Macht sei. Das daraus entspringende „machiavellistische“ Denken sei dazu angetan, die tatsächlichen Machtverhältnisse zu verhüllen oder gar die Konzentration der Macht als conditio sine qua non eines gut funktionierenden Staatswesens einzuschränken.
Nachdem Burnham im Jahr 1941 in seinem berühmten Werk „The managerial revolution“17 (mit einem eher negativen Tenor) vorausgesagt hatte, daß bald die Manager die neue Elite der Welt verkörpern würden, die den Rest der Gesellschaft unter ihre Herrschaft bringen würden, vertrat er in seinem 1943 herausgekommenen Buch „Die Machiavellisten“18 mit Blick auf diese Kaste eine leicht differenziertere Sichtweise, indem er seine Theorie weiterentwickelte: Diese neue Elite würde ihren eigenen Interessen besser dienen, wenn sie einige als „demokratisch“ zu wertende Einrichtungen als „Fassade“ beibehielte – zum Beispiel eine politische Opposition, eine freie Presse und dazu eine „kontrollierte Elitenzirkulation“. Also war auch hier wieder aller Überbau „bloßer Schein“!
In anderer Sicht erscheinen die „Machiavellisten“ als Lehrmeister des Faschismus. Denn die Unechtheit alles dessen, was über den reinen Machttrieb hinausgeht, läßt die Tat als solche allein noch als sinnvoll erscheinen. Diese eigentümliche Verschränkung von Enthüllung und Apologie der Macht war eine Konsequenz des unhistorischen Ansatzes der machiavellistischen Elitetheorien. So endet der „Verlust der Geschichte“ im bereits angesprochenen Dezisionismus.
1?Zitiert nach: Andreas Laukat, Friedhof der Eliten. Vilfredo Pareto: „Trattato di Sociologia Generale“, in: Die Zeit vom 2. September 1999, URL: www.zeit.de/1999/36/
199936.pareto_.xml
2?Dt. Fassung des „Trattato“: Vilfredo Pareto, Allgemeine Soziologie. Übersetzt von Carl Brinkmann, Tübingen 1955, § 2034.
3?§ 2026 ff.
4?§ 2042.
5?§ 888.
6?Vgl. dazu Wilfried Röhrich, Problem- und sozialpolitische Einleitung: Von Mosca bis Mills, in: Ders. (Hg.), „Demokratische“ Elitenherrschaft. Traditionsbestände eines sozialwissenschaftlichen Problems, Darmstadt 1975, S. 1–-27, hier: S. 17 f.
7?Giovanni Gentile an Benito Mussolini, 31. Mai 1923, zitiert bei: Röhrich, a.?a.?O. (Anm. 7), S. 17.
8?Röhrich, a.?a.?O. (Anm. 7), S. 18.
9?Im ital. Original: Gaetano Mosca, Sulla teoria dei governi e sul governo parlamentare. Studi storici e sociali, Turin 1884.
10?Im ital. Original: Gaetano Mosca, Elementi di scienza politica, 1a parte, Turin 1896.
11?Im ital. Original: Gaetano Mosca, Elementi di scienza politica, 2a parte, Turin 1923.
12?Im ital. Original: Gaetano Mosca, Storia delle dottrine politiche, Turin 1937.
13?Röhrich, a.?a.?O. (Anm. 7), S. 7.
14?Ebenda, S. 7 f.
15?Ebenda, S. 11.
16?Ebenda, S. 12 f.
17?Dt. Fassung: James Burnham, Das Regime der Manager, Stuttgart 1951.
18?Dt. Fassung: James Burnham, Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit, Zürich 1949.