Vor nun zwei Jahren hat Barbara Rosenkranz in der „Neuen Ordnung“ eine anregende Europa-Debatte angestoßen. In der Zeit des ideologischen Triumphes des sogenannten „Europäismus“ (oder der „EU-Ideologie“) und der damit einhergehenden Beschleunigung der EU-Errichtung zum Schaden der Souveränität der Nationalstaaten erweist sich die Frage nach der Zukunft der europäischen Völker tatsächlich als entscheidend und unaufschiebbar. Im wesentlichen beklagte die österreichische Politikerin, daß die EU durch undemokratische Institutionen sowie eine linksliberale Deutungshoheit die Selbstbestimmung und Identität der europäischen Völker erniedrige, und befürwortete demnach die Aufrechterhaltung der Nationalstaaten als Garanten der Völkersouveränität sowie der christlichen Tradition Europas.1
Diesem Aufsatz antwortete der brisante Beitrag Philip Steins, dessen provokanter Titel lautet: Der Nationalstaat ist tot – Es lebe Europa. Der junge deutsche Student führte damit einen Frontalangriff gegen einen Kernpunkt jedweder rechtskonservativer Politik und jeglichen „identitären“ Gedankengutes.2 Allerdings ging dieser Sturmangriff nicht in die Richtung des europäistischen und egalitaristischen „Zeitgeistes“, wie es Stein wohl allzu voreilig vorgeworfen wurde;3 mit seinem Aufsatz trachtete er vielmehr danach, die veralteten, starr gewordenen Nationalismen Europas zu überwinden und dabei das ausgeprägt revolutionäre (und mitnichten „zeitgeistige“) Konzept des „Eurofaschismus“ zu aktualisieren – ein Konzept bzw. politisches Projekt, dessen Konturen Benedikt Kaiser skizziert hat.4 Von diesen Voraussetzungen ausgehend, plädierte Stein für den Aufbau eines europäischen Bundesstaates, der die jeweiligen Nationalidentitäten nicht beschädige und zugleich gegen die „Geistlosigkeit“ der EU wirke. So erklärt Stein den gewaltigen Unterschied zwischen der EU und dem von ihm erwünschten Bundesstaat: „Denn woran es der Europäischen Union bereits seit ihrer Gründung fehlt, ist zunächst die Verankerung der europäischen Geistestradition in ihren Grundsätzen, jedoch vor allem die Tatsache, daß ein gemeinsames Europa nur dann funktionieren kann, wenn es dem Willen freier Völker entspringt und nicht das Produkt einer Zwangskollektivierung ist. So wie wir sie dieser Tage erleben, ist die EU nur ein europäisches Trugbild und keinesfalls gleichbedeutend mit dem, was Europa seiner Idee nach eigentlich darstellen sollte.“5
Dieser spannende Aufsatz Steins, der demnächst auch in der französischen Zeitschrift „Krisis“ erscheinen wird, wurde unlängst ins Italienische übersetzt und in der der CasaPound nahestehenden Online-Zeitung „Il Primato nazionale“ als Anstoß zu einer weitgreifenden Debatte über das Schicksal unseres Kontinents veröffentlicht.6 An dieser Debatte haben verschiedene Autoren teilgenommen, die die von Stein aufgeworfene Europafrage für ausschlaggebend und zentral halten. Die Diskussion beinhaltete eine Reihe von Beiträgen, die in Argumentation und Schlußfolgerungen sowohl zugespitzt als auch umstritten sind. Es ist daher das Ziel des vorliegenden Artikels, die Höhepunkte dieser Debatte zu resümieren und deren Ergebnisse auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.
Trotzdem sich die ausgedrückten Meinungen in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden, läßt sich jedoch ein Einheitspunkt benennen, den der Chefredakteur Adriano Scianca hervorgehoben hat: Der politische sowie ideologische Entwurf der EU sei gescheitert bzw. führe die europäischen Völker unausweichlich zum Scheitern und zur Selbstauflösung; parallel dazu profiliere sich die Entstehung eines auf andere Weise vereinigten Europas als überaus notwendig, wenn die Europäer wirklich beabsichtigen, auf dem aktuellen geopolitischen Schachbrett wieder eine bedeutende politisch-kulturelle Rolle zu spielen. Aus diesem Grund müsse man weder Europäist (wie die Brüsseler Eurokraten) noch Anti-Europäist (wie die alten Nationalisten), sondern eher „Alternativ-Europäist“ sein. So faßt Scianca die ersten Ergebnisse der Debatte zusammen: „Die im Primato nazionale publizierten Beiträge zum Schicksal Europas und der Nationalstaaten, die von der Lektüre des Artikels Steins angeregt wurden, stellen eine qualitativ glückliche Ausnahme in einer Internetlandschaft dar, die der Reflexion immer entwöhnter ist – leider auch auf den Seiten, die ‚alternativ‘ sind oder sein möchten. Die Rückkehr der Reflexion zu den Grundsätzen ist entscheidend. Und Europa ist zweifelsohne ein Grundsatz des nonkonformen Denkens. Die Täuschungen der EU und die von der politischen Kommunikation durchgesetzte Begriffsbrutalität haben neuerdings die Wiederkehr einer gewissen chauvinistischen Sprache à la 19. Jahrhundert mit sich gebracht. Unglücklicherweise faßt erneut die Idee Fuß, daß der Feind der Italiener Deutschland, Frankreich oder Österreich sei, während es viel sinnvoller wäre, Deutsche, Franzosen und Österreicher als Brüder derselben europäischen Familie zu betrachten, die gekauften Kollaborationsregierungen (genauso wie unsere es ist) unterworfen sind.“7
Der Beitrag Steins hat bei Gabriele Adinolfi großen Anklang gefunden, der hierbei von einer „Umbruch-These“ spricht. Adinolfi behauptet, daß die EU zwar kritisiert und revolutioniert werden müsse, jedoch indem man nicht rückwärts, sondern vorwärts gehe. Man brauche mithin nicht weniger, sondern mehr Europa. Das heiße ganz konkret: keine anachronistische Rückkehr zu den Nationalstaaten, keine Unterstützung des EU-Föderalismus, sondern Errichtung eines europäischen Imperiums: „Die Reaktion, wie jede Reaktion, hat immer kurze Beine, weil die Geschichte uns zeigt, daß sie niemals zurückkehrt, und daß sich jeder Versuch, sie anzuhalten, als ein Dekadenzbeschleuniger erweist. Man muß sie nicht anhalten, sondern umpolen. Das ist die Lektion, die wir ununterbrochen von den Zeiten Caesars an erhalten haben, während jede Heilige Allianz, die die Vergangenheit restaurieren will, den Interessen der Rothschild dient.“ Adinolfi schließt sich also den eurofaschistischen Thesen Pierre Drieu La Rochelles, Jean Thiriarts und Adriano Romualdis an und sieht in der „römisch-germanischen Achse“ die Garantie der Zukunft Europas, „mit dem Bewußtsein Roms (des antiken, nicht des gegenwärtigen), das dem deutschen Vitalismus Licht schenkt, der immer wieder unsere nahezu einzige Überlebenshoffnung darstellt. Eine Achse, die sich in der griechischen Philosophie entfaltet, welche sich die Romanitas angeeignet hat. Und sie muß sich in einer Form, welche weder föderal noch im Sinne des 19. Jahrhunderts ist, sondern in der Logik des Imperiums verwirklichen, das unlösbare Einheit, aber auch vollständige Autonomien impliziert, welche unabhängig von den formalen Institutionen die einzelnen Völker zufriedenstellen.“ So schließt Adinolfi ab: „Das besagt keineswegs, daß wir die Technokratie der EU nicht bekämpfen müssen […]. Das ist im Gegenteil ein Aufruf, sich an vorderster Front anzumelden, um Europa zu revolutionieren und jene Freier hinauszuschmeißen, die in der Nähe von Aachen tafeln.“8
Um eine allumfassende Europa-Vision zu entwickeln, verflechten sich sofort die institutionelle mit der geistesgeschichtlichen Perspektive, die politische Strategie mit der metapolitischen Lesart. Was die europäische Geistestradition und Metapolitik betrifft, so kommt das Wort „Imperium“ sehr oft vor. Das ist das Thema des Beitrags von Francesco Boco, der im Imperium den Angelpunkt der „europäischen Selbstbehauptung“ sieht. Insbesondere knüpft der Autor an das Denken Carl Schmitts an, zunächst an die „Freund-Feind-Unterscheidung“, die entscheidend sei, um das Selbstverständnis und die politische Strategie eines europäischen Großraums zu bestimmen: „Für den deutschen Juristen ist der Feind nicht etwas Abstraktes und Vages, sondern ist bzw. sollte immer etwas Konkretes, Verortetes, Bestimmtes sein. […] Die politische Feindlichkeit, die keineswegs notgedrungen in bewaffneten Krieg münden muß, ist ein Duell zwischen Gleichgestellten, zwischen Menschen, die sich in ihrer Wirklichkeit erkennen. Es ist also kein Wunder, daß die Verwestlichung der Welt (um mit Latouche zu sprechen) einer umfassenden Neutralisierung des Politischen die Tür geöffnet hat, die hauptsächlich in der Vernichtung des Gegners besteht.“ Europa sollte sich somit die eigentlich politische Dimension und damit die Möglichkeit wiederaneignen, antagonistisch die eigene Geschichte zu schreiben: „Von diesem Gesichtspunkt aus muß man also eine authentisch politische Vision wiedererlangen, die notwendigerweise verwurzelt ist, wenn man wirklich beabsichtigt, jenen epochalen Umbruch zu bewirken, dessen Vorboten sich noch nicht erblicken lassen.“
In diesem Sinne verweilt Boco beim Schmittschen Konzept des „Katechon“9: Vor seiner „Kehre“ in der Nachkriegszeit habe der deutsche Denker den „Katechon“, diese „aufhaltende Kraft“, nicht mit Europa identifiziert, das die Ankunft des Antichristen verzögert, sondern mit dem liberal-kapitalistischen System (= Britisches Empire und USA), das den Status quo bewahren möchte und damit die Dekadenz beschleunige. So würde der Katechon die Etablierung einer neuen (gerechteren) Ordnung verhindern. Und noch heute hat diese Macht „überhaupt kein Interesse, authentisch politische Konflikte einzuspeisen, weil diese den uniformen Ausgleich des vorherrschenden Systems erschüttern würden“. Aus diesem Grund sei jenes abendländische, egalitaristische System der echte „Katechon“, den man stürzen müsse, um den Umbruch und damit die Regeneration Europas zu zeitigen. Doch dieser Umbruch sei – genauso wie es Schmitt vertrat – innerhalb der (nie fixierten, sondern sich dynamisch wandelnden) Verfassung zu bewerkstelligen. Es gehe also um einen legitimistisch revolutionären Kampf. So resümiert Boco seine „innerrevolutionäre“ Position: „Dieser epochale Übergang ist mithin nicht aus einer konservativen Perspektive zu bewältigen, sondern vom Blickwinkel einer entschiedenen Selbstbehauptung aus, die sich auf die hellenisch-römisch-germanische, d. h. nordisch-mediterrane Gründungsachse stellt. Es geht also darum, zu ent-scheiden, d. h. die Beeinflussungen der Vergangenheit und deren Fesseln zu zerschneiden, um einen großeuropäischen Entwurf zu konzipieren, der auf der geistig und kulturell ursprünglichen Achse fußt.“ Daraus zieht Boco die Richtlinien des zukünftigen Imperiums Europas: „Das Imperium ist als eine artikulierte Verschmelzung von differenzierten Kräften zu denken, die man ausgleichen muß, indem man den politischen Innenkonflikt als Motor jeder Erneuerung und geschichtlichen Vitalität lebendig hält. Also: Autonomien, Verbandspartizipation, Bio-Eigentümlichkeiten, nach außen geschlossene, aber im Inneren offene Grenzen, organische und kohärente Außenpolitik.“ Katalysator dieses kaiserlichen Projekts sollte Deutschland sein, dessen Regierung – laut Boco und Adinolfi – auch in der Nachkriegszeit die einzige in Europa gewesen ist, die eine autonome und weitgreifende Außenpolitik verfolgt habe.10
Die erste kritische Stimme gegen die Formeln des gesamteuropäischen Bundesstaates oder Imperiums kommt aus dem Beitrag Matteo Rovattis. Der Autor spricht von einer regelrechten „bundesstaatlichen Utopie“ und plädiert deshalb für ein „Europa der Patrioten“. Die Kritikpunkte Rovattis sind sowohl historischer als auch wirtschaftlicher Natur. Der Meinung des Autors bewegt sich die EU auf einen Bundesstaat zu, was von den Amerikanern (also vom erklärten „Feind“ der nonkonformen Europäer) ganz enthusiastisch unterstützt wurde und noch heute wird, wie übrigens auch viele EU-Geistesväter (bspw. Altiero Spinelli) ausdrücklich zugestehen und zahlreiche Akademiker nunmehr seit Jahren erforschen.11 Ein Bundesstaat könne wohlgemerkt den jeweiligen Völkern viele wirtschaftliche Vorteile bieten: Als Beispiel eines erfolgreichen Bundesstaates nennt Rovatti die USA, die dank der stark föderal ausgerichteten politisch-wirtschaftlichen Maßnahmen Alexander Hamiltons und seiner Nachfolger wirksam gegen das Monopol des Britischen Empires handelten und eine beeindruckende Entwicklung nahmen: „Es ist hierzu anzumerken, daß im 20. Jahrhundert diese ökonomische Verwaltungsweise jüngere und raffiniertere Anwendungen in den drei Nationen hatte, die aus eigener Kraft die Weltkrise von 1929 überwanden: Italien, Deutschland und Japan. Rein zufällig die Nationen, die ausgerechnet im Zweiten Weltkrieg ausgeschaltet wurden.“ Nichtsdestoweniger könne ein Bundesstaat nur unter bestimmten Umständen funktionieren: Wie auch der „Pate des Neoliberalismus“ Friedrich August von Hayek schon 1939 verstanden habe, sei ein föderativer Staat nur insofern zum Erfolg bestimmt, als eine kulturelle Homogenität und eine allen Bürgern gemeinsame Identität präsent ist;12 was eben bei den USA der Fall gewesen sei, weil „es sich hierbei um einen Verteilungskonflikt innerhalb einer homogenen Bevölkerung von WASP-Bourgeois handelte.“ Auf der anderen Seite „gibt es selbstverständlich auch historische Fälle politischer Einheit mit verhältnismäßiger kultureller Heterogenität: Sowjetunion, Jugoslawien, Libanon, Nigeria, Belgien, Afghanistan, Indien. Nur gibt es dabei – der Meinung des Verfassers nach – keine erfolgreichen Beispiele.“
Darüber hinaus „ist der Europäismus eine ideologische Einbildung, die – zumindest in Italien – aus jenem Selbsthaß (oder Selbstverachtung) entstand, der auf brillante Weise Selbstrassismus genannt wurde.“ Denn eine föderale Einheit würde heutzutage – so auch der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir13 – ungeheure Kosten verursachen, die sich ganz wenige europäische Bürger aufbürden möchten. Diese Opfergänge würden zudem die Wirtschaftler der – heute vorherrschenden – Grenznutzenschule (und überzeugte Europäisten) feiern lassen, „d. h. diejenigen, die denken (und sie schreiben es auch), daß die Staaten keine Industrie-, Handelns-, Steuer-, Währungs-, Zoll- und Abwehrpolitik haben sollten, welche von den europäischen Bürokratien verwaltet werden müsse“. Aus all diesen Gründen sei die einzig mögliche Einheit Europas jene, die „von Giuseppe Mazzini und Charles de Gaulle theoretisiert und vom FN Jean-Marie Le Pens verfolgt“ wurde, d. h. ein „Verband (Konföderation) von souveränen Staaten, die frei und flexibel in bestimmten Angelegenheiten zusammenarbeiten und dazu bereit sind, die Unabhängigkeit aller Mitglieder zu verteidigen. Etwas ganz anderes als die föderalistische Utopie oder als die tatsächlich verwirklichte EU, wie neuerdings auch die akademische und ‚offizielle’ Politikwissenschaft zu erforschen beginnt.14 Ein souveränes Europa, ein Europa der echten Solidarität unter Patrioten, deren unbedingte Liebe zur eigenen Gemeinschaft keineswegs die Verachtung gegen die der anderen mit sich bringt. Man könnte diese Solidarität durch die 10 Tonnen an Nahrungsmitteln versinnbildlichen, die CasaPound der Chrysi Avgi und dem griechischen Volk geschenkt hat. Solidarität unter Patrioten, keine Nivellierung unter Volksverräter, die vom Ende der Geschichte besessen sind.“15
Eine Synthese der bisher ausgedrückten Positionen bietet der ausführliche Aufsatz Valerio Benedettis. Der Autor betont, daß die Europafrage insofern entscheidend sei, als die europäischen Völker heute vom triumphierenden und alles vernichtenden Einhergehen des liberalen Egalitarismus und des Finanzkapitalismus, kurz: des „Globalismus“, bedroht seien. Deshalb sei es überaus opportun und gar lebensnotwendig, neue Visionen europäischer Zukunft anzubieten, um den Europäern ein selbstbestimmtes Schicksal zu schenken. Benedetti betont zudem, daß dieser Europafrage aus der geistesgeschichtlichen und zugleich der institutionellen Perspektive nachzugehen sei, weil die europäischen Völker „sowohl eines mobilisierenden Mythos als auch eines konkreten Entwurfes“ bedürfen.
Die Frage nach der Geistestradition Europas sei oft zu oberflächlich angegangen worden, indem diese Überlieferung als ein eindeutiges und einheitliches Faktum interpretiert worden sei. Stattdessen sei sie „in ihrem Wesen durchaus zweideutig. Hier gilt, was Goethes Faust ausruft: ‚Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust‘. Zwei Seelen, die selbstverständlich in Konflikt stehen. Etwas grob zusammenfassend, könnten wir sagen, daß in der Brust Europas eine ‚heidnische‘, d. h. tragische, kriegerische, heroische, suprahumanistische und faustische Seele, und dann eine universalistische und egalitaristische Seele urchristlicher und aufklärerischer Herkunft wohnen.“ Benedetti versucht sodann, kurz die Geschichte dieser Tradition zu rekonstruieren. Am Ende der Antike und im Mittelalter sei eine Synthese bzw. Synkrise dieser zwei Seelen erfolgt: „Daraus entsteht Novalis’ berühmte Gleichung: Christenheit oder Europa.“ Diese (problematische) Synthese sei durch die Jahrhunderte und diverse Krisen gegangen: die Renaissance, die „die heidnische Seele Europas wiederentdeckte“, die Spaltung der christlichen Ökumene (Reformation und Gegenreformation), die Dekadenz des Heiligen Reiches und die daraus folgende Entstehung der Nationalstaaten. Eine erste Wende bilde das 18. Jahrhundert, d. h. „die Epoche der sogenannten ‚Säkularisierung‘: wissenschaftliche, industrielle, Französische Revolution. Die christliche Seele wird insofern verleugnet, als ihr jener Kompromiß mit dem ‚Heidentum‘ vorgeworfen wird: Der egalitaristische Diskurs sei unterbrochen worden, gebremst vom ‚Obskurantismus‘ der Kirchen und der europäischen Dynastien. Es werde die Göttin Vernunft sein, die das Projekt des Egalitarismus zu Vollendung bringen wird: Es ist das Zeitalter der Aufklärung, der Menschenrechte und des ‚Todes Gottes‘ (Nietzsche). Daraus folgt die romantische Revolte, die angesichts des kalten Rationalismus und der ‚Entzauberung der Welt‘ (Max Weber) versucht, Europa eine Seele zurückzugeben. Diesem stark empfundenen Bedürfnis entspringt unter anderem die erhabene Dichtung Hölderlins und Foscolos: Der Ursprung Europas wird nun im tragischen und heroischen Hellas, in der Urgeschichte der europäischen Völker gesucht.“
Doch erst dank Persönlichkeiten wie Wagner („Erlösung dem Erlöser“), Nietzsche („Umwertung aller Werte“) und Mazzini („Zukunftsreligion“) komme eine neue Synthese zustande. Die „heidnische“ Seele Europas werde transfiguriert, es entstehe ein neuer Mythos: es sei der „Mythos der Wiedergeburt und Regeneration Europas“, den Benito Mussolini in politische Revolution übertragen habe. Es klang so alt und war doch so neu, ruft der wagnersche Hans Sachs aus. Der italienische Faschismus, „Poesie des 20. Jahrhunderts“ (R. Brasillach) und „Kult des Littorio“ (E. Gentile), entzündete ganz Europa: „Es ist die Epoche, in der sich der Geist des Schützengrabens zum Staat formt und die heroische und tragische Seele der europäischen Jugend ihre Anführer findet. Doch es ist auch die Zeit, in der Giovanni Gentile und Martin Heidegger die Bollwerke der ‚abendländischen Metaphysik‘ angreifen und zu ‚Schaffern neuer Werte‘ werden; es ist die Zeit von Drieu und Céline, von José Antonio und Oswald Mosley. So wird der ferne Ursprung des europäischen Geistes zur ‚politischen Religion‘ und zum mobilisierenden Mythos.“ Mit dem militärischen Sieg der „Heiligen Allianz des Egalitarismus“ werde jedoch der neue Mythos unterdrückt: Europa sei nicht mehr die Mitte der Welt, „sein Zepter wird vom amerikanischen Jerusalem und dem bolschewistischen Moskau usurpiert, nunmehr neuen Hauptstädten des Egalitarismus.“
Mit dem Ende des Kalten Kriegs und mit der Implosion der Sowjetunion kanalisieren schließlich die Verfechter des „Endes der Geschichte“ ihre Mühe in einen einzigen Entwurf: den „Globalismus“, der „ideologisch liberal-trotzkistisch und wirtschaftlich kapitalistisch ist“. Das ist also laut Benedetti die zweideutige Geistestradition Europas: „griechisch-römische und jüdisch-christliche, aufklärerische und romantische, faschistische und antifaschistische Wurzeln“. Die Europäer sollten somit eine bestimmte Überlieferung (unter den vielen möglichen) wählen und neu schöpfen. „Die Globalisten haben ihre schon ausgesucht: Alles, was vor der Aufklärung und den Menschenrechten gewesen ist, müsse gelöscht werden.“ So sagte unlängst der französische Philosoph Alain Finkielkraut: „Um niemand anderen auszugrenzen, mußte Europa sich selbst loswerden, sich entwurzeln (désoriginer) und von seinem Erbe nur noch die Universalität der Menschenrechte bewahren. ‚Substantielle Leere und radikale Offenheit‘: Das ist dem deutschen Soziologen Ulrich Beck nach das Geheimnis Europas. Wir sind gar nichts.“16 Eine mögliche Alternative wäre stattdessen das, was schon Boco angezeigt habe: „Wie in marmornen Buchstaben ist in unserem Schicksal das Wort ‚Imperium‘ eingeschrieben, mit all seinen Folgen im Sinne vom Willen zur Macht und ‚Großer Politik‘.“ In diesem Rahmen „repräsentieren Rom, Athen und Berlin – mit einer Paraphrase Giobertis – die drei Brennpunkte der europäischen Ellipse.“ Desweiteren entspricht diese Idee im wesentlichen der Ansicht Sandro Consolatos, der anhand einer ausführlichen Analyse des einzigartigen Runenkästchens von Auzon behauptet, daß die Geisteswurzeln Europas griechisch-römisch, christlich und germanisch seien.17
Allerdings sei das Imperium ebenso wie der (supranationale) Bundesstaat – so Benedetti weiter – als gesamteuropäische Institution nicht wünschenswert, da beide von Natur aus die Hegemonie einer Nation implizieren. Und das würde heute ganz konkret heißen, daß diese Hegemonie der BRD von Frau Merkel zustehen würde – jener Frau Merkel, die als prominentes Mitglied des mächtigen deutsch-amerikanischen Thinktanks „Atlantik-Brücke“ und dabei als Vertreterin der Flüchtlingspolitik sowie des Transatlantischen Freihandelsabkommens Europa zur Selbstauflösung verurteilen würde. Aus diesem Grund knüpft Benedetti an Peter Sloterdijk, der die Europäer zu einer „Reichsübertragung“, d. h. zu einer Aktualisierung des Imperium-Konzeptes auffordert,18 und an den Vorschlag Rovattis an, der einen Staatenverband vorsieht. So lautet schließlich die Formel Benedettis für die Zukunft Europas: „Imperiale Seele und multipolarer Körper. Nur auf diese Weise kann Europa – nach Jahrzenten seiner Abwesenheit – voluntaristisch auf seinen heroischen Ursprung zurückgreifen und damit sein Schicksal schmieden.“19 Für eine europäische Konföderation plädiert auch Giovanni Damiano, der Europa als „Land der Differenz“ bezeichnet. Allerdings hebt Damiano hervor, daß auch ein Staatenverband unbedingt Zentralinstitutionen mit Entscheidungsmächten bedürfe, um erfolgreich die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen. Der Autor nennt hierzu das historische Beispiel der Konföderierten Südstaaten von Amerika, die sich zweckgemäß mit einem Präsidenten und Vize-Präsidenten, doch auch mit einer Konföderationsregierung haben versorgen müssen: „Wir könnten von einer nach oben gerichteten ‚Konföderation‘, um einen europäischen Großraum ins Leben zu rufen, und unter Umständen von einem nach unten gerichteten Föderalismus sprechen, d. h. mit dem Nationalstaat als Entscheider in letzter Instanz bezüglich eventueller ‚lokaler‘ Differenzen, die zu bewahren und/oder aufzuwerten sind.“20
Diese Debatte führt uns vor allem zwei Dinge vor Augen: Zum einen, daß es eine lebhafte und inspirierte Bandbreite an alternativen Modellen für die Zukunft Europas gibt. Zum anderen, daß diese Zukunft, in der wir frei und geschichtsfähig sein könnten, nicht in der Einigkeit schwacher und atomisierter Völker bestehen kann, sondern von wieder selbstbewußt gewordenen Nationen getragen werden muß.
1? Vgl. B. Rosenkranz, Imperium oder Demokratie?, in: Neue Ordnung, I/2014.
2? Es ist hier zu präzisieren, daß ich überhaupt nicht beabsichtige, die Identität als geschichtlichen und daher dynamischen Prozeß des Selbstverständnisses eines Volkes zu kritisieren, sondern nur die steife Auffassung der Identität als träges, „metaphysisches“, geschichtsloses Faktum.
3? Vgl. C. Wolfschlag, Notwendigkeit Nationalstaat, ebd., III/2014.
4? Vgl. B. Kaiser, Faschismus universal, ebd., II/2014. Kaiser hat das Thema „Eurofaschismus“ in einem Band vertieft, der dem Denken des französischen Schriftstellers Pierre Drieu La Rochelle gewidmet ist: Eurofaschismus und bürgerliche Dekadenz. Europakonzeption und Gesellschaftskritik bei Pierre Drieu la Rochelle, Kiel 2011.
5? Ph. Stein, Der Nationalstaat ist tot – Es lebe Europa, in: Neue Ordnung, II/2014.
6? Vgl. Ph. Stein, Lo Stato nazionale è morto, pensiamo una nuova Europa, in: Il Primato nazionale, 15. April 2016. Es geht um eine leicht bearbeitete und gekürzte Fassung des originalen Artikels [http://www.ilprimatonazionale.it/approfondimenti/stein-lo-nazionale-morto-nuova-europa-43416/].
7? A. Scianca, Essere non anti, ma alter-europeisti. In che modo?, ebd., 7.05.2015 [http://www.ilprimatonazionale.it/approfondimenti/alter-europeisti-44656].
8? G. Adinolfi, Stein ha ragione: l’Ue si contesta solo attaccando in avanti, ebd., 16.04.2016 [http://www.ilprimatonazionale.it/approfondimenti/adinolfi-ue-43553/].
9? Vgl. dazu C. Schmitt, Beschleuniger wider Willen oder: Problematik der westlichen Hemisphäre (1942), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. v. G. Maschke, Berlin 1995, S. 431–440.
10? F. Boco, Decidersi per l’autoaffermazione dell’Europa, ebd., 19.04.2016 [http://www.ilprimatonazionale.it/approfondimenti/autoaffermazione-europa-43633/].
11? Vgl. hierzu etwa R. J. Aldrich, OSS, CIA and European Unity: The American Committee on United Europe, 1948–60, in: Diplomacy & Statecraft, 8/1 (1997), S. 184–227; R. Mundell / A. Clesse (Hgg.), The Euro as a Stabilizer in the International Economic System, Boston 2000.
12? Vgl. F. A. von Hayek, Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse (1939), in: ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Zürich 1952, S. 324–344.
13? Vgl. Jacques Sapir, Le coût du fédéralisme dans la zone Euro, in: Russeurope, 10. November 2012.
14? Vgl. hierzu G. Majone, Rethinking the Union of Europe Post-crisis: Has Integration Gone Too Far?, Cambridge 2014.
15? M. Rovatti, Contro l’utopia federalista, per un’Europa dei patrioti, in: Il Primato nazionale, 18. April 2016 [http://www.ilprimatonazionale.it/approfondimenti/rovatti-europa-43601/].
16? Interview mit A. Finkielkraut, in: Le Monde, 11. November 2007 [http://www.lemonde.fr/idees/article/2007/11/11/alain-finkielkraut-et-paul-thibaud-font-le-point-sur-les-relations-entre-chretiens-et-juifs_976891_3232.html].
17? Vgl. S. Consolato, Quel cofanetto misterioso in cui è celato il segreto dell’Europa, in: Il Primato nazionale, 5. Mai 2016. [http://www.ilprimatonazionale.it/cultura/cofanetto-segreto-europa-44513/]
18? P. Sloterdijk, Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, Frankfurt a. M. 1994, S. 34.
19? V. Benedetti, La rivoluzione europea avrà un’anima imperiale e un corpo multipolare, in: Il Primato nazionale, 21. April 2016 [http://www.ilprimatonazionale.it/approfondimenti/benedetti-rivoluzione-europea-43814].
20? G. Damiano, L’Europa resti terra della differenza, ebd., 26. April 2016 [http://www.