Als im Januar 2015 ein Kommando des Islamischen Staates die Redaktion von Charly Hebdo in Paris überfiel und acht Journalisten erschoß, ging ein Aufschrei der Empörung durch ganz Europa. Alle Regierungen beeilten sich, der französischen ihr Beileid auszusprechen, zahlreiche Regierungschefs eilten nach Paris, um Arm in Arm mit dem französischen Präsidenten zu posieren, das bestürzte Volk ging auf die Straße und skandierte: „Je suis Charly“, kurzum, alle solidarisierten sich mit einem Satireblättchen, das vorher nur wenige gekannt hatten und das nun durch das Attentat zu unverdienter Berühmtheit gelangte.
Kenner des erbärmlichen Niveaus dieses Blättchens sagten, es versprühe mehr Körpersäfte als Tinte, wobei mit Körpersäften weniger Schweiß und Tränen als vielmehr Urin und Sperma gemeint waren. Und Beispiele der bescheidenen Zeichenkunst von Charlys Autoren verrieten dem irritierten Betrachter, daß es Pornographie war, was hier verbreitet wurde. Es schien das Hauptanliegen dieses Magazins zu sein, alles, was je den Menschen heilig war, mit Füßen zu treten. Da sich aber die Christen jede Beleidigung Jesu Christi klaglos gefallen lassen, blieb es Muslimen überlassen, die Ehrenverletzung ihres Propheten zu rächen.
Es ist so viel von europäischen Werten die Rede, vor allem im Zusammenhang mit solchen Ereignissen, was aber ist damit gemeint? Früher hieß es scherzhaft, seine Werte habe man auf der Bank, aber das ist inzwischen auch veraltet, seit das Bankgeheimnis geknackt ist und man keine Zinsen mehr erhält. Jetzt steckt man seine Werte eher in Briekastenfirmen auf den Jungferninseln oder in Panama.
Früher war auch weniger von Werten die Rede als von Idealen und Tugenden. Eines der höchsten Ideale des politischen Lebens war die Gerechtigkeit im Sinn des alten Wortes: iustitia fundamentum regnorum (Gerechtigkeit ist das Fundament der Königreiche). Ein anderes Ideal war das des inneren und äußeren Friedens, den zu bewahren aller staatlichen Gewalt aufgetragen war. Vom einzelnen Menschen aber erwartete man Tugenden wie Wahrheitsliebe, Treue, Frömmigkeit, Bescheidenheit, auch sogenannte Sekundärtugenden wie Fleiß und Pünktlichkeit. Von alledem ist kaum noch die Rede.
Wenn man jetzt nach europäischen Werten fragt, werden meist Demokratie und Menschenrechte genannt, darunter die Freiheit, wobei der Meinungsfreiheit ein außerordentlich hoher Stellenwert eingeräumt wird. Das ist verwunderlich, wo doch gewisse Themen gänzlich tabuisiert sind und die „political correctness“ dafür sorgt, daß man Wörter, die man früher ganz unbefangen in den Mund nahm, unbedingt vermeiden muß. Wer bei Themen der Zeitgeschichte nicht im großen Strom („mainstream“ genannt) brav mitschwimmt, riskiert empfindliche Strafen. Es gibt sogar mehrere Tatbestände, die einen leicht hinter Gitter bringen: „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ zum Beispiel, was soviel bedeutet wie, daß man von einem vermeintlich Verstorbenen oder Getöteten niemals sagen darf, er sei am Leben geblieben, was umso verwirrender ist, als man ja immer wieder von Überlebenden einer bestimmten Katastrophe hört und liest. Ein anderes Vergehen ist die „Verharmlosung des Nationalsozialismus“, die man schon darin erblickt, da einer etwa meint, Hitler sei es immerhin gelungen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Schließlich gibt es die Vielzweckwaffe „Volksverhetzung“, die analog zum berüchtigten Boykotthetze-Paragraphen des DDR-Strafrechts jeden Kritiker der bestehenden Ordnung zum Abschuß freigibt. Gegenwärtig sollen einige tausend Leute wegen Meinungsdelikten Gefängnisstrafen absitzen; trotzdem wird die Illusion der Meinungsfreiheit eifrig gepflegt.
In seinem herrlichen Essay „Über das Erhabene“ definiert Schiller den Menschen als „das Wesen, welches will“, und schreibt: „Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur einen Fall gibt, wo er schlechterdings muß, was er nicht will. Dieses einzige Schreckliche, was er nur muß und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten, und ihn, wie auch wirklich bei den mehresten Menschen der Fall ist, den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überleifern; seine gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkte gebunden ist.“
Was nun von der Freiheit allgemein gilt, sollte auch von der Meinungsfreiheit gelten. Wer sie auch nur in einem Punkt aufhebt, hebt sie ganz auf. Insofern kann in der Bundesrepublik Deutschland gar nicht im Ernst von Meinungsfreiheit gesprochen werden, wo es sich um die Geschichte und das Selbstverständnis der Nation handelt. Umso grotesker ist es, wenn sie dann ausgerechnet da in Anspruch genommen wird, wo es sich gar nicht um Meinung, sondern um Verunglimpfung von Personen, ihren Überzeugungen und ihren Glauben, um schamlose Verhöhnung von Religion oder üble Pornographie handelt.
Ein eklatantes Beispiel dafür ist die umstrittene „Schmähkritik“ von Jan Böhmermann, die rein gar nichts mit Kritik zu tun hat und nicht einmal auf dem Niveau dessen steht, was die Österreicher „an Schmäh“ nennen. Ich will hier diesem verkrachten Satiriker nicht die Ehre antun, ihn zu zitieren; der Mist, den er gemacht hat, stinkt zum Himmel und ist nicht zufällig auch dem türkischen Präsidenten in die Nase gestiegen. Wäre ich dessen Berater gewesen, hätte ich ihm gesagt: „Herr Präsident, ein deutsches Sprichwort sagt: Was kümmert’s den Mond, wenn ihn der Hund anbellt?“ Dann hätte er womöglich geantwortet: „Aber er hat mich nicht nur angebellt, er hat mir ans Bein gepinkelt.“ – „Na, wenn schon“, hätte ich erwidert, „bedenken Sie aber, daß so ein Hund gar nicht satisfaktionsfähig ist. Sie sollten sein Verhalten nicht auf die juristische oder gar diplomatische Ebene heben. Das ist die Sache doch nicht wert!“ Vielleicht hätte er trotzdem nicht auf mich gehört, aber das spielt keine Rolle, da ich kein Präsidentenberater bin.
Ich bin auch nicht der Richter, der über Herrn Böhmermanns „Schmähkritik“ ein Urteil zu fällen hat. Betrüblich scheint mir erstens, daß dergleichen von einem öffentlich-rechtlichen Sender ins Programm genommen wird, und zweitens, daß es Politiker gibt, welche die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen, falls ein solches „zugegebenermaßen unmögliches satirisches Lied“ (Jean-Claude Juncker) nicht auf die Bühne darf. Geht es hier wirklich um die Verteidigung „europäischer Werte“ oder werden diese nicht eher durch Leute wie Böhmermann vor aller Welt in den Schmutz gezogen? Pubertäre Sexualphantasien verkörpern doch kein Werk, das man verteidigen müßte!
Wenn nun der russische Präsident Putin schon seit längerer Zeit die Meinung vertritt, die westliche Welt befinde sich im Zustand der Dekadenz, wird er sich durch die Causa Böhmermann voll bestätigt sehen. Womöglich würde er sich sogar freuen, wenn dieser Clown freigesprochen würde. Für das Urteilsvermögen deutscher Richter wäre es jedoch eine Bankrotterklärung. Was da vorliegt, ist weder durch die Meinungs- noch durch die Kunstfreiheit gedeckt; keiner der primitiven Reime des Textes ist ein Ausweis für Kunst. Das ganze Machwerk bewegt sich auf jenem Niveau, das einst kleine Bauernlümmel bewiesen, indem sie frech erklärten: „Ich kann auch dichten – mit dem Finger im Hintern!“
Solange sich Europa in einem Zustand befindet, in dem Freiheit mit Libertinage und Kunst mit Stuhlgang verwechselt wird, sollte man das wichtigtuerische Geschwätz von „europäischer Wertegemeinschaft“ einstellen. Was sind denn das für „Werte“, die von Charly Hebdo oder Jan Böhmermann repräsentiert werden? Da könnte man auch spotten: „Westliche Pferdegemeinschaft?“, fragte der Viehhändler verschmitzt. „Sollte es nicht eher westliche Schweinegemeinschaft heißen?“
Der römische Satiriker Juvenal hat behauptet, es sei schwierig, keine Satire zu schreiben: Difficile est, satiram non scribere.“ Trotzdem schaffen es keineswegs alle, die sich einbilden, Satiriker zu sein; ein gewisses geistiges Niveau ist eben doch erforderlich – und die Erinnerung daran, daß Sitte und Anstand lange Zeit nicht nur zur europäischen Kultur gehörten, sondern Teil jeder höheren menschlichen Kultur sind.