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Auf dem Weg in den Bürgerkrieg

Der Historiker Michael Wolffsohn warnt vor der Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols

Die immer lauter werdenden Rufe nach mehr Zivilcourage mündeten letzten Endes in einen Aufruf zum Bürgerkrieg. So die provokante These des deutsch-jüdischen Historikers und Politologen Professor Michael Wolffsohn in seiner jüngsten Veröffentlichung "Zivilcourage - Wie der Staat seine Bürger im Stich läßt" (erschienen im dtv-Verlag, München, 96 Seiten, 7,90 Euro). Denn der gut klingende Aufruf an die Bürger, Zivilcourage zu zeigen, komme der Aufforderung gleich, Leib und Leben zu riskieren, so Wolffsohn in seiner Denk- und Streitschrift. Und er stehe im Kern für einen Appell zur Selbstjustiz, resümiert der 1947 in Tel Aviv geborene Wolffsohn, der von 1981 bis 2012 an der Universität der Bundeswehr in München Neuere Geschichte lehrte. Bernd Kallina hat sich mit ihm über wichtige Kapitel seiner Neuerscheinung unterhalten.

Herr Professor Wolffsohn, in Ihrer kürzlich erschienenen Streitschrift „Zivilcourage – Wie der Staat seine Bürger im Stich läßt“ kommt der politisch überaus korrekte, vielfältig gebrauchte und so positiv besetzte Begriff „Zivilcourage“ nicht gut weg. Sind Sie ein Gegner von „Zivilcourage“?
Keineswegs! Ich habe gar nichts gegen Zivilcourage, ich verorte sie aber in größeren Zusammenhängen und möchte sie sicherheitspolitisch realistisch eingeordnet wissen, sprich: Meine Aufgabe als Wissenschaftler ist es zunächst, ähnlich wie übrigens in der Medizin, eine Diagnose zu erstellen. Denn ohne Diagnose von Fehlentwicklungen gibt es keine Therapie. Und das Ergebnis meiner Langzeit-Diagnose lautet, daß die modernen westlichen Dienstleistungs- und Industriegesellschaften ein sich ausweitendes Problem bei der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit haben. Gerade auch in Deutschland. In meinem Buch „Zum Weltfrieden“ habe ich mich auf die äußeren Konstellationen konzentriert, in „Zivilcourage“ auf die inneren.

Und bei der Gewährleistung von „innerer Sicherheit“ seien die vielen zu Zivilcourage aufrufenden Akteure in unserer Gesellschaft nicht gerade hilfreich?

Nochmals und zur Verdeutlichung: Ich bin kein Gegner von „Zivilcourage“, welche eine Tugend ist und wie sie im allgemeinen verstanden wird. Aber selbst die beste Zivilcourage kann den Staat nicht aus der Pflicht entlassen, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Das Phänomen der zunehmenden Gewalt als gesamtgesellschaftliche Realität ist doch unbestreitbar. Wenn staatliche Stellen aber ständig sagen, die Bevölkerung müsse angesichts innenpolitischer Konfliktverschärfungen mehr Zivilcourage zeigen, dann ist das ein bedenkliches Signal …

Weshalb?
Weil das im Grunde genommen nicht anderes heißt als: Wir sind dazu nicht mehr in der Lage! Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Aus dieser Pflicht zur Gewährleistung von innerer Sicherheit kann und will ich den Staat nicht entlassen, denn sonst bräuchten wir ja keinen Staat mehr.

Zweifellos zeichnen sich unsere heutigen Konflikt-Gesellschaften durch zunehmende Polarisierung und Gewalt-Bereitschaft aus. Wie erklären Sie sich als Historiker diese Entwicklung?

Dazu zwei wichtige Punkte: Als zeitgeschichtlichen Urgrund, sozusagen und ohne zunächst die gravierenden demographischen Veränderungen zu betrachten, kann hervorgehoben werden, daß sich in Westeuropa und in Deutschland verständlicherweise nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges die Selbstwahrnehmung der Bevölkerungen in unseren Ländern verändert hat. Diese Richtung ging vom „Wir“ auf das „Ich“. Das war ein mehr als verständlicher Prozeß, denn das „Wir“ ist auf schändliche Weise vor allem in Deutschland zu Zeiten der NS-Herrschaft mißbraucht worden. Für eine Mehrheit der Bevölkerung ist daraus die Konsequenz gezogen worden, „Ich bin Ich“ und das „Wir“ zählt wenig bzw. nichts! Doch diese individualistische Akzentverschiebung erweist sich nun als großes Problem für die Makrosteuerung von Großgruppen, sprich bei der sicherheitspolitischen Führung in einem Staat!
Hinzu kommt eine zunächst durchaus erfreuliche Vielschichtigkeit der Gesellschaften. Allerdings erschwert diese Pluralität die werte- und bindungsorientierte Identifikation der Staatsbürger mit der Gesellschaft. Die Gesellschaft besteht heute aus einer Addition von Individuen ohne Identifikation, was die Konsensfindung, bezogen auf mehrheitsfähige Konfliktprävention, außerordentlich erschwert. Ein nicht unwesentlicher Grund, warum notwendige Sicherheitsmaßnahmen nach innen und außen zurückgefahren wurden, gleichzeitig aber die Bevölkerung zu mehr „Zivilcourage“ aufgerufen wird.

Die Zahl der linksextremen ­Gewalttaten ist viel höher

Was sich ja vor allem im von der rot-grünen Bundesregierung losgetretenen  „Aufstand der Anständigen“ oder im „Kampf gegen Rechts“ schon seit Anfang der 2000er Jahre zeigt. Allerdings hat dieser jahrelange „Kampf gegen Rechts“, den es seltsamerweise als „Kampf gegen Links“ nicht gibt, kaum etwas gebracht: Die Zahl „rechtsextremer Straftaten“ sei angeblich gestiegen …
Das ist richtig, aber es gibt ja nicht nur ein Ansteigen des Rechtsextremismus, welcher höchst bedauerlich ist, es gibt auch eine erhebliche Zunahme linksextremistischer Taten. Das bemerkenswerte dabei ist, daß beide Extremismen in der Öffentlichkeit keineswegs angemessen thematisiert werden: Wenn Sie den letzten bundesdeutschen Verfassungsschutzbericht nehmen, in dem zu Recht, objektivierbar und beängstigend, der Anstieg rechtsextremistischer Gewalttaten genannt worden ist. Aber: Die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten ist noch viel höher! Über die allerdings wird viel weniger geredet, wie es ja in Ihrer Frage schon anklingt. Das heißt, wir haben eine asymmetrische Diskussion aus Gründen, die bekannt sind.

Tatsächlich greifen Linksextreme Bundeswehrstützpunkte an, schottern Gleisanlagen, verwüsten Geschäftsräume, fackeln Autos politischer Gegner ab, verletzen und töten auch Bürger. Trotzdem gibt es keinen auch nur annähernd so starken und vergleichbaren zivilgesellschaftlichen Aufstand im Kampf gegen „Links“. Sie sagen aus Gründen, die bekannt sind. Welche denn?
Das hängt mit der selektiven Vergangenheitsbewältigung in den Jahren nach 1945 zusammen. Alles, was irgendwie mit Rechtsextremismus in Deutschland und Europa zu tun hat, wird mit dem mörderischen Nationalsozialismus gleichgesetzt.
Dagegen hat der nicht minder gewalttätige historische Linksextremismus sozusagen die Gnade der idealistischen Geburt in der Entstehungsphase der Arbeiterbewegung, die ja ganz zweifellos humanistisch motiviert war. Das humanistische Motiv überstrahlt aber alle dunklen Seiten und Verbrechen im real existierenden Sozialismus/Kommunismus, die in deren Staaten an Millionen von Menschen begangen wurden. Diese Kapitel  werden von den meisten Linken schlicht und einfach ausgeblendet, das heißt, wir haben hier eine auffällige Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung vom ursprünglich durchaus idealistischen sozialistisch-linken Anspruch und der linksextremen Wirklichkeit zu verzeichnen.

Das Gewaltproblem der Religionen

Kommen wir auf die islamistisch geprägte Terror-Gewalt in Europa zu sprechen, die ja inzwischen auch Deutschland erreicht hat. Inwiefern liegen ihre Wurzeln im Koran begründet; oder anders gefragt: Was halten Sie von der Beschwichtigungsformel: All diese Gewalt, so wie sie in Paris, in Würzburg oder in Ansbach auftrat, um nur einige Orte zu erwähnen, hätte nichts mit dem Islam zu tun?
Das ist großer Unsinn! Jede der drei monotheistischen Religionen hat grundsätzlich ein Gewaltproblem. Judentum und Christentum haben es im Laufe ihrer Entwicklung aber weitgehend durch Gewaltabkehr gelöst. Abgesehen von einigen militanten Minderheiten, die es nicht zuletzt auch bei meinen jüdischen Glaubensgenossen gibt. Halten wir also fest: Eine frühere Kreuzzugsmentalität ist im Christentum – Gott sei Dank – passé, und der Geist des mißverstandenen Alten Testaments ist auch bei Juden – erfreulicherweise – überwunden.

Und im Islam?
Da sieht es anders aus. Bei ihm, beginnend mit dem Koran, gibt es eine Fülle von Gewaltaufrufen gegen Ungläubige im allgemeinen und im speziellen: viele antijüdische Passagen. Der hervorzuhebende Unterschied ist der, daß sich diese Stellen im Koran gegen ganz konkrete, heute noch lebende Gruppen richtet, vornehmlich auch gegen Juden!
Der Koran operiert mit einer blutigen und höchst aggressiven Terminologie. Da werden zum Beispiel Juden als Affen bezeichnet, es kommen Passagen vor, wo Juden als Unwürdige dargestellt werden, trotz des verbesserten Status gegenüber den Heiden. Ähnliches gilt für die Christen. Kurzum: Hier hat der real existierende Islam ein Gewaltproblem, und wenn er das nicht löst, braucht er sich nicht zu wundern, daß er – im Sinne von Goethes Zauberlehrling – die Geister, die er ruft, nicht mehr loswird!

Nur eine Mini-Minderheit von ­Muslimen ist integrierbar

Halten Sie denn eine erfolgreiche Integration von Millionen von islamisch geprägten Bevölkerungsteilen in Europa überhaupt für möglich? Immerhin mahnen hervorragende Intellektuelle aus muslimischen Herkunftsländern, wie die in Deutschland lebende Soziologin Necla Kelek oder der Völkerrechtler Bassam Tibi, immer wieder eine realistische Betrachtung der Problematik an. Sie warnen uns vor einer Überdosis naiver Integrations-Gläubigkeit ...
Eine Integration ist theoretisch möglich. Sie ist in Teilen auch praktisch erreicht. Nur, jetzt folgt der bittere, aber entscheidende Wermutstropfen: Dabei handelt es sich um eine Minimini-Minderheit! Das muß man klar sehen. Frau Kelek und Herr Tibi, sind ja beide – Sie erwähnten es – Islam-Insider. Was wiederum – bei ihnen wenigstens – beweist, daß Integration möglich ist, wenn man sich kritisch mit der eigenen Herkunft, sei es mit Religion, Staats- oder Gesellschaftsverständnis usw., auseinandersetzt. Was bei einigen wenigen Intellektuellen möglich zu sein scheint, bei der Mehrheit klappt es – bis jetzt – eindeutig nicht!
Wir wissen aus jüngsten Umfragen, daß bei einer eindeutigen Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime notwendige Schritte in Richtung Integration nicht nur ausgeblieben, sondern gegenteilige Entwicklungen eingetreten sind. Dabei trat zutage, daß der islamische Juden- und Christenhaß sogar zugenommen hat. Das wiederum hängt auch mit den demographischen Verflechtungen zusammen, die wir in Nahost haben.

Welche Zusammenhänge meinen Sie damit?
Durch die muslimische Zuwanderung in die westeuropäischen und deutschen Gesellschaften sind diese Länder zu nahöstlichen Nebenkriegsschauplätzen geworden. Das wiederum führt dazu, daß auch die Unkultur der Auseinandersetzungen, sprich „Mord und Totschlag“, heute bei uns häufiger anzutreffen sind als gestern und vorgestern! Es hat sich also ein Riesenproblem entwickelt, vor dem wir heute stehen, und wir sind – mehrheitlich – überhaupt nicht darauf vorbereitet.
Der Staat sichert den inneren ­Frieden nicht mehr
Erinnern Sie auch deshalb in Ihrem Buch an die „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahre 1993? Konkret: Was sind denn die wichtigsten Versäumnisse unserer Funktionseliten, die diese düsteren „Aussichten“ begünstigten, weil man notwendige Präventivmaßnahmen seit Jahren versäumt?
An erster Stelle: Die nicht ausreichende Durchsetzung der hier vorhandenen Alltagsregeln, sprich Gesetze. Es geht hierbei nicht primär um Ideologien, fremd oder nicht fremd, sondern um die jahrzehntelange Vernachlässigung des Vollzugs von geltendem Recht und der Regeln in unserem Land, aber auch in anderen Staaten Europas. Und das wiederum hängt damit zusammen, daß staatliche Regulative immer schwerer durchsetzbar sind. Denken Sie an die französischen Vorstädte, an die berühmt-berüchtigten Banlieues oder an die Unerfreulichkeiten in den neuen Bundesländern, Stichwort „Befreite Zonen“. Es gibt in Deutschland immer mehr Gebiete, in welche sich die Polizei schon aus Gründen des Selbstschutzes nicht mehr hineintraut, sogenannte „No-Go-Areas“. Und wenn man sich die gewachsene Zahl lesenswerter Bücher frustrierter Polizisten und Polizistinnen vor Augen hält …
Sie denken an das Buch von Tania Kambouri „Deutschland im Blaulicht – Notruf einer Polizistin“?
Ja, ein gutes Beispiel. Wer das Buch dieser griechischstämmigen deutschen Polizistin gelesen hat, weiß, was Sache ist. Auch das gerade erschienene Buch „Deutschland in Gefahr“ von Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, schlägt in dieselbe Kerbe. Also: Wenn der Staat von sich aus auf sein Gewaltmonopol gegen wen auch immer (und vielleicht auch in bester Absicht)  verzichtet, kann man sich nicht wundern, daß Individuen und Gruppen das „Recht“ selbst in die Hand nehmen. Damit befindet sich aber die Gesellschaft auf dem Weg in den Bürgerkrieg, der verhindert werden muß!
Wie läßt er sich verhindern, Herr Wolffsohn, welche Konsequenzen fordern Sie anhand Ihrer Gefahrenanalyse?
An der Schärfung des Sicherheitsbedürfnisses im gesellschaftlichen Bewußtsein führt hierbei kein Weg vorbei. Das könnte sich auch bei Wahlen dann so auswirken, daß diejenigen Parteien zulegen würden, die etwa für die innere Sicherheit mehr tun wollen. Die ist ja lange Zeit von den etablierten Parteien geradezu stiefmütterlich behandelt worden. Als einzige Ausnahme nenne ich hier die CSU in Bayern: Wo es ja auch eine deutlich geringere Kriminalität gibt, was ein positives Beispiel darstellt.
Desweiteren ist mir auch das Klima im Umgang mit dem Sicherheitspersonal ganz besonders wichtig: In einer Gesellschaft, in der Polizisten nicht mehr als „Dein Freund und Helfer“ gelten, sondern als „Bullen und Schweine“ beschimpft werden, kann man sich doch nicht wundern, daß dann diese vermeintlichen „Bullen und Schweine“, deren Stellenzahlen auch noch erheblich abgebaut wurden, nicht mehr in der Lage sind, in „No-Go-Areas“ für Recht und Ordnung zu sorgen, oder aus dem Ruder gelaufene Demonstrationen zu befrieden und gegen extremistische Gewalttäter vorzugehen.
Sie schildern jetzt die politischen Spätfolgen des Ungeistes der 68er- Generation, die ja heute im rot-grün geprägten politisch-medialen Komplex die Macht in den Händen hat?
Das kann man so sagen! Ich bin vom Jahrgang her ja auch ein 68er, allerdings ohne je auf der linken Barrikade gestanden zu haben. Aber viele dieser 68er-Unsinnigkeiten haben als Ursache eine verengte Sicht auf das staatliche Gewaltmonopol, weil es in Deutschland einmal zum dramatischen Mißbrauch des Kollektivs geführt hat. Daraus hat sich ein so grundlegendes Mißtrauen gegen den Staat an sich entwickelt, das bis heute nicht überwunden ist. Obwohl der Staat in Deutschland und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ja erwiesenermaßen stets demokratisch legitimiert und human motiviert gewesen ist, bei allen Defiziten, die zu beklagen waren.

Der Staat sichert den inneren ­Frieden nicht mehr

Erinnern Sie auch deshalb in Ihrem Buch an die „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahre 1993? Konkret: Was sind denn die wichtigsten Versäumnisse unserer Funktionseliten, die diese düsteren „Aussichten“ begünstigten, weil man notwendige Präventivmaßnahmen seit Jahren versäumt?
An erster Stelle: Die nicht ausreichende Durchsetzung der hier vorhandenen Alltagsregeln, sprich Gesetze. Es geht hierbei nicht primär um Ideologien, fremd oder nicht fremd, sondern um die jahrzehntelange Vernachlässigung des Vollzugs von geltendem Recht und der Regeln in unserem Land, aber auch in anderen Staaten Europas. Und das wiederum hängt damit zusammen, daß staatliche Regulative immer schwerer durchsetzbar sind. Denken Sie an die französischen Vorstädte, an die berühmt-berüchtigten Banlieues oder an die Unerfreulichkeiten in den neuen Bundesländern, Stichwort „Befreite Zonen“. Es gibt in Deutschland immer mehr Gebiete, in welche sich die Polizei schon aus Gründen des Selbstschutzes nicht mehr hineintraut, sogenannte „No-Go-Areas“. Und wenn man sich die gewachsene Zahl lesenswerter Bücher frustrierter Polizisten und Polizistinnen vor Augen hält …

Sie denken an das Buch von Tania Kambouri „Deutschland im Blaulicht – Notruf einer Polizistin“?
Ja, ein gutes Beispiel. Wer das Buch dieser griechischstämmigen deutschen Polizistin gelesen hat, weiß, was Sache ist. Auch das gerade erschienene Buch „Deutschland in Gefahr“ von Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, schlägt in dieselbe Kerbe. Also: Wenn der Staat von sich aus auf sein Gewaltmonopol gegen wen auch immer (und vielleicht auch in bester Absicht)  verzichtet, kann man sich nicht wundern, daß Individuen und Gruppen das „Recht“ selbst in die Hand nehmen. Damit befindet sich aber die Gesellschaft auf dem Weg in den Bürgerkrieg, der verhindert werden muß!

Wie läßt er sich verhindern, Herr Wolffsohn, welche Konsequenzen fordern Sie anhand Ihrer Gefahrenanalyse?

An der Schärfung des Sicherheitsbedürfnisses im gesellschaftlichen Bewußtsein führt hierbei kein Weg vorbei. Das könnte sich auch bei Wahlen dann so auswirken, daß diejenigen Parteien zulegen würden, die etwa für die innere Sicherheit mehr tun wollen. Die ist ja lange Zeit von den etablierten Parteien geradezu stiefmütterlich behandelt worden. Als einzige Ausnahme nenne ich hier die CSU in Bayern: Wo es ja auch eine deutlich geringere Kriminalität gibt, was ein positives Beispiel darstellt.
Desweiteren ist mir auch das Klima im Umgang mit dem Sicherheitspersonal ganz besonders wichtig: In einer Gesellschaft, in der Polizisten nicht mehr als „Dein Freund und Helfer“ gelten, sondern als „Bullen und Schweine“ beschimpft werden, kann man sich doch nicht wundern, daß dann diese vermeintlichen „Bullen und Schweine“, deren Stellenzahlen auch noch erheblich abgebaut wurden, nicht mehr in der Lage sind, in „No-Go-Areas“ für Recht und Ordnung zu sorgen, oder aus dem Ruder gelaufene Demonstrationen zu befrieden und gegen extremistische Gewalttäter vorzugehen.

Sie schildern jetzt die politischen Spätfolgen des Ungeistes der 68er- Generation, die ja heute im rot-grün geprägten politisch-medialen Komplex die Macht in den Händen hat?
Das kann man so sagen! Ich bin vom Jahrgang her ja auch ein 68er, allerdings ohne je auf der linken Barrikade gestanden zu haben. Aber viele dieser 68er-Unsinnigkeiten haben als Ursache eine verengte Sicht auf das staatliche Gewaltmonopol, weil es in Deutschland einmal zum dramatischen Mißbrauch des Kollektivs geführt hat. Daraus hat sich ein so grundlegendes Mißtrauen gegen den Staat an sich entwickelt, das bis heute nicht überwunden ist. Obwohl der Staat in Deutschland und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ja erwiesenermaßen stets demokratisch legitimiert und human motiviert gewesen ist, bei allen Defiziten, die zu beklagen waren.

Nationalismus, ­überlebensnotwendig

In früheren Stellungnahmen haben Sie den mangelnden Patriotismus der Deutschen beklagt und auf das unterentwickelte Nationalgefühl unserer Landsleute, vor allem bei den Funktionseliten, hingewiesen. Sie sehen darin offenbar auch eine sicherheitspolitische Störgröße und plädieren für einen „nach innen gerichteten Nationalismus der Deutschen“. Richtig?
Ja, dieser überlebensnotwendige Nationalismus ist bei den heutigen Deutschen nach wie vor bedrohlich unterentwickelt! Denn: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ist sozusagen der abendländische Konsens. Das finden wir schon im Alten Testament, im Buch Leviticus 19,18: Liebe den Fremden wie dich selbst, ist ebenfalls Leviticus 19,36; alles wunderbare Worte! Aber eben: Wie dich selbst! D. h. die Selbstliebe ist die Voraussetzung der Nächstenliebe. Das ist in bezug auf das deutsche Kollektiv nach 1945 aus verständlichen Gründen schwergefallen. Aber die deutsche Geschichte besteht eben nicht nur aus den Jahren 1933 bis 1945. Es bleibt für mich uneinsichtig, warum die Bundesrepublik Deutschland, die ein international vorbildliches Gemeinwesen darstellt, kein Staat sein soll, mit dem man sich – bei allen Defiziten bis hin zur Bundeskanzlerin für manche Kritiker – identifizieren kann. Denn – und das ist ein ganz entscheidender Punkt – eine Nation, die nicht zu sich selbst den inneren Frieden durch positive Selbstannahme findet, ist auch nicht in der Lage, den äußeren zu stiften oder gar zu sichern.

Das klingt schon fast so wie ein appellatives Schlußwort an die Deutschen, endlich normal zu werden. Dennoch eine abschließende Frage: Was besorgt Sie angesichts der aktuellen Krisenlagen denn am meisten?

Mich beunruhigt vor allem die analytische Unfähigkeit von Wissenschaft, Gesellschaft, Medien und Politik, auf die innen- und weltpolitischen Veränderungen realistisch einzugehen. Die Tatsache, daß es so viele Konflikte gibt, für die es nicht einmal eine analytische Erörterung oder gar Lösungsantworten gibt, hat Ursachen, die ich in meinen letzten beiden Büchern „Zum Weltfrieden“ und „Zivilcourage“ benannt habe.
Denn: Wenn man die Probleme nicht benennt, kann man sie auch nicht lösen. Ich beklage darüber hinaus eine merkwürdige Unwilligkeit, sich überhaupt auf die offenkundigen Problemlagen einzulassen. Aber, wenn man zu spät anpackt, dann hat man sehr bald das Chaos, und das sehen wir in bezug auf die Flüchtlingssituation seit September 2015. Das sind alles Entwicklungen, die lange vorhersehbar waren. In aller Bescheidenheit weise ich darauf hin, zu denen zu gehören, die sie vorhergesagt haben. Man mußte dazu auch gar kein Prophet sein, sondern einfach nur hinschauen, beschreiben und Empfehlungen auszusprechen, was man machen könnte. Im nachhinein, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, Schadensumkehr oder Schadenbegrenzung zu erreichen, kostet immense Kräfte und Anstrengungen! Vielleicht kann mein Buch „Zivilcourage“ etwas dazu beitragen, daß sich weitere Fehlentwicklungen im Sicherheitsbereich der nächsten Jahre rechtzeitig verhindern lassen.

Herr Professor Wolffsohn,
vielen Dank für dieses Gespräch!

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com