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Antideutsch sind erst die Enkel

Von Univ.-Prof. Paul Gottfried

Günter Rohrmoser über die Frankfurter Schule

Neulich las ich in einem im Jahr 2008 von dem Baseler Philosophie- und Religionswissenschaftler Harald Seubert herausgegebenen Sammelband verschiedene Aufsätze des einstigen Stars des deutschen Konservatismus, Günter Rohrmoser (1927–2008). Das wertvolle Buch bekam ich von einem deutschen Wissenschaftler zugeschickt, dem bei Rohrmosers Problematisierung zeitgeschichtlicher Fragen die Parallele zu meinen Standpunkten aufgefallen ist. Obwohl ich im Unterschied zu Rohrmoser nie ein übermäßiges Gedränge von Zuhörern in der Universität erlebt habe und seit dem Tode Richard Nixons mit keinem Staatsmann weltbewegende Themen mehr beratschlagt habe, scheint es mir nichtsdestoweniger, daß zwischen mir und dem verstorbenen deutschen Querdenker eine Reihe von Übereinstimmungen bestehen.

Grundsätzlich festzuhalten ist unsere gemeinsame Abscheu vor dem Multikulturalismus und dem Schwingen der Faschismuskeule als Mittel, um Kritiker der Diktatur der Gutmenschen einzuschüchtern und sozial sowie politisch auszugrenzen. Wir haben au?erdem die gleiche Verehrung für die jetzt zersetzte bürgerliche Kultur und ihre gestaltenden und bewahrenden Einrichtungen gehegt – und at last but not at least teilen wir die Bewunderung für die Leistungen der deutschen Hochkultur ab der Goethezeit bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Kant, Hegel, Schopenhauer, Goethe, Schiller, Heine, Kafka, Fontane, Musil, die Gebrüder Jünger, Max Weber, Jacob Burckhardt, Thomas Mann, Heimito von Doderer und Georg Simmel; aber auch Nietzsche, Heidegger und Carl Schmitt gehören in den Olymp jener Denker und Dichter, die meine Existenz geistig oder künstlerisch bereichert haben. (Es ist überflüssig zu sagen, daß diese vorliegende Auflistung notwendigerweise unvollständig sein muß.)
Eine Seite von Rohrmosers bewunderungswürdigem Denken, die mir zu meinem Bedauern bis vor einigen Wochen unbekannt war, ist seine Auseinandersetzung mit dem Werden und Wirken der Frankfurter Schule (FS). Als ich mich darin vertiefte, wurde mir klar, was für eine Denkleistung ich bisher ignoriert hatte. Diese Forschungslücke gestehe ich nicht ohne Bedauern ein. Obwohl ich diesbezüglich über die Jahre viel geschrieben habe und Rolf Wiggershaus’ Standardwerk „Die Frankfurter Schule“ (1986) zu bewältigen versuchte, war mir Rohrmosers Themenbehandlung bis vor kurzem kein Begriff. Doch Rohrmoser setzte mit seinem Werk über die Entwicklung der FS und ihrer „Kritischen Theorie“, ausgehend vom Werk Max Horkheimers, mit einer deutlichen, kohärenten Bearbeitung des gewählten Forschungsobjekts Maßstäbe.

Erkenntnistheoretische ­„Wühlarbeit“

Rohrmoser verwechselt keineswegs das Ideengemisch der FS mit Marxens geschichtlichem und anthropologischem Ausgangspunkt. In erster Linie beschäftigten sich Horkheimer und seine Gefolgschaft nicht mit einem materialistisch vorangetriebenen, klassengeprägten Geschichtsprozeß, der in einer „Diktatur des Proletariates“ und schließlich in einer klassenlosen Gesellschaft gipfelt. Im Gegensatz zu Marx ging Horkheimer von einer Zerlegung der bürgerlichen Wissenschaftsmethode, die Alternativrealitäten verdunkele, aus. Er hatte die „Positivisten“ im Visier, bei denen er eine bürgerliche „Verwissenschaftlichung“ und eine reduzierte Wirklichkeitswahrnehmung verortete. Der „Positivist“, der aus einem bürgerlichen, betont kapitalistischen Milieu entstamme, verarbeite auf mechanische Weise Wissensgegenstände und verdunkele dabei die Aussicht auf soziale Veränderung. Horkheimer bemängelte diese „nicht-dialektische“ Herangehensweise, die den sozialgeschichtlichen Zusammenhang ausblende. Sie führe zu einer verkürzten Einsicht in unsere Lebenswelt und zur Abweisung einer gerechteren und glücklicheren Zukunft. Horkheimer, Adorno und ihre radikalen Anhänger begannen ihre „Wühlarbeit“ also auf der erkenntnistheoretischen und nicht auf der geschichtsmaterialistischen Ebene.
Obgleich das Zentrum der Frankfurter Schule, das in Frankfurt am Main eröffnete Institut für Sozialforschung, 1924 als Vehikel strenggläubiger marxistischer Sozial- und Geschichtsstudien eingerichtet worden war, verlagerte man 1936 – sechs Jahre nach dem Amtsantritt Horkheimers als Leiter des Instituts im Jahre 1930 –, in dieser Zeit bereits in den USA, den Akzent auf die „Sozialtheorie“. 1930 war Horkheimer im übrigen auch zum Ordinarius für Sozialphilosophie an der Philosophischen Fakultät der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt ernannt worden. Er vereinte mit Leichtigkeit diese zwei Ämter, die demselben sozialkritischen Zweck dienten. Ohne die marxistische Etikettierung aufzugeben, schöpften Horkheimer und seine Kollegen auch aus anderen Inspirationsquellen, um eine aktuelle Auslegung von Marx’ Projekt zu entwickeln. Eine wichtige Funktion in ihrem Projekt nahm Hegels dialektische Denkart ein, so wie sie zum Beispiel in seinem Hauptwerk „Phänomenologie des Geistes“ entfaltet wird.

Vorwurf des „falschen Bewußtseins“

Diesen Einfluß kann ich selbst bezeugen, war ich doch, nach dessen Übersiedlung in die USA, Student des FS-Vordenkers Herbert Marcuse. Jedesmal, wenn unser Professor drauf und dran war, eine marxistische Auffassung zu beweisen, wendete er sich fast instinktiv in Richtung Hegel. Die Synthese der Ideen seiner richtunggebenden Denker spiegelt sich insbesondere in Marcuses Erfolgsbuch „Vernunft und Revolution“ (1941/dt. 1962) wider. Beachtenswert erschien mir, daß bei Marcuses Darlegungen Hegel auf dem ersten Platz rangierte und Marx nur an zweiter Stelle stand. Er ging unbeirrt von der Hegelschen Prämisse aus, daß jede erschöpfende Erklärung darüber, was in der Erscheinungswelt geschieht, notwendigerweise nach den Entstehungsgründen zu fragen habe. Hinzu kommt, so die Auffassung von Marcuse, daß Begriffe nicht völlig zu ergründen seien, bis wir den ihnen innewohnenden Gegensatz deutlich gemacht haben. Nicht durch reine Verstandeskraft, sondern durch ein geschichtssensibles Vernunftvermögen vergegenwärtigen wir uns die dialektischen Möglichkeiten, die neue Horizonte eröffnen. Der „bürgerlichen Wissenschaft“ haben Marcuse, Horkheimer und Theodor Adorno allesamt vorgeworfen, die zu verarbeitende Erkenntnis nicht dialektisch durchdenken zu wollen. Der verachtete Spie?bürger, der sich keine Mühe macht, der widersprechenden Ausprägung unserer Wahrnehmungen und Axiome auf den Grund zu gehen, bleibt in einem „falschen Bewußtsein verfangen“.

Von der Ökonomie zur „Kultur“

Eine ebenso nicht auf Marx zurückzuführende Positionierung bei der FS war deren Ausrichtung auf die „Kultur“. Durch eine kritische Wertung der kulturellen Hervorbringungen der modernen Gesellschaft ist es machbar, so Horkheimer, leitende Trugbilder und die „Selbstentfremdung“ der betrogenen Kulturkonsumenten ans Licht zu bringen. Marx begriff jede Ideologie als Derivat einer bestimmten Ausprägung sowohl der Wirtschaft als auch der gesellschaftlichen Klassen. Er sah kulturelle Gegebenheiten als Lehrbeispiele des Primats einer besonderen Klasse an, die wechselnden sozialökonomischen Zusammenhängen entsprängen. Sie gehörten generell dem Überbau der Historischen Dialektik an und hätten einen weniger bedeutenden analytischen Rang inne als der bestimmende ökonomische Unterbau. Die Akzentverlagerung der FS auf die „Kulturfrage“ wurde durch den Ansatz, die geistigen Irrwege der spätkapitalistischen Gesellschaft unter die Lupe zu nehmen, arrondiert. Diese Wende setzte mit besonderer Eindringlichkeit nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten ein, als die kritischen Sozialwissenschaftler gezwungen wurden, sich mit einer entscheidenden Frage auseinanderzusetzen: Warum wendete sich die deutsche Arbeiterschaft in Richtung Faschismus anstatt in Richtung radikaler Sozialismus?
Die Antwort auf diese Frage steckt nach der Beurteilung der Frankfurter Schule in der Ägide Horkheimers in der autoritären Wesensart der Familienstruktur, die die spätkapitalistische Arbeitswelt kennzeichne. Diesem Gebilde hafteten streng patriarchalische Charakteristika an, die von der Irrationalität des Wirtschaftssystems herrührten. Indem die Produktionskräfte zugunsten einer recht begrenzten Menge von Hochkapitalisten ausschlagen und kaum einen Zusammenhang mit den wirklichen menschlichen Bedürfnissen aufweisen, sind die menschlichen Beziehungen weder von Eintracht noch von wechselseitigem Respekt gekennzeichnet. Rohrmoser hebt zu Recht hervor, daß diese hochfliegenden Setzungen auf keine zwingenden Indizien gestützt sind. Fragwürdig ist weiter Horkheimers Annahme, daß die bürgerliche Kultur und ihre sittlichen, wertbezogenen Grundfesten – je nach Verfall der Wirtschaft – bröckeln werden.

Vernunft und Freiheit nicht ernst genommen

Rohrmoser hingegen stellt fest, daß genau das Umgekehrte beobachtet werden kann. Zugrunde ging eine einst gefestigte Bürgerlichkeit, als eine gedeihende Konsumgesellschaft den Niedergang der bürgerlichen Familie eingeleitet hat. Bei Rückfragen über den Ma?stab, nach dem die bürgerliche, mit einer kapitalistischen Sozialökonomie versehene Gesellschaft als „irrational“ abzutun sei, gibt es keine andere Sacherklärung, so Rohrmoser, als ihre Unvereinbarkeit mit einer zusammenphantasierten „Utopie“ festzustellen. Die Künder und Deuter der „Kritischen Theorie“ stampften ihr Musterbild eines harmonischen menschlichen Zusammenseins gänzlich aus dem Boden.
Die Sachlage verkomplizierend, insistiert die FS auf der „Vernunft“, ohne haltbare Argumente für Vernünftigkeit vorlegen zu können. Da Horkheimer die Moralität auf wechselnde geschichtliche Konstellationen oder auf volatile wirtschaftliche Umstände bezieht, ist sein Moralisieren irritierend. Im Gegensatz zu Marx, der das Ideal, wenn nicht die Praxis der Aufklärung hochhielt, konnte Horkheimer nicht einmal seiner Phantasievorstellung Geltung verschaffen. Dem Muster des glücklichen Lebens kommen die Gründer der FS am nächsten, wenn sie die „menschliche Freiheit“ in den Vordergrund stellen. Aber auch da sind sie unfähig, über Beliebigkeit oder Einzelaspekte hinauszukommen. Die Freiheit ist erstrebenswert, so die Theorie, wenn sie Möglichkeiten eröffnet, unseren Begehren zu frönen. Bei Marcuse, weniger beim konservativeren Horkheimer, wird Freiheit mit einer Loslösung von der bürgerlichen Sexualmoral unterschiedlich verknüpft. Insbesondere Marcuse rechnete die Zurückdrängung unserer Sinnengenüsse den Folgekosten der Spätkapitalismus an und sehnte sich nach einem ganz anderen Dasein, in dem sich unsere gehemmte erotische Seite am stärksten entfalten kann.
Rohrmoser zeigt auf, daß in der zweiten Formierungsphase der FS in der Zeit von 1933 bis 1945 die Vernunft selbst unter Beschuß geriet. Der angestrengte Versuch, die „Natur zu beherrschen“, wie Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ (1944) herausstreichen, schlägt auf die Menschheit zurück. Sie führte zu dem dämonischen Unterfangen, alles menschliche Streben und alle Hoffnungen im Zeichen des von der Vernunft getriebenen Fortschritts der Herrschaft der Technik zu unterwerfen. Von diesem pessimistischen Standpunkt aus gesehen, lieferte die aufklärerische Bemühung um eine Weltbesserung Hitler und Stalin die Blaupause für eine alles kontrollierende Tyrannei in die Hand. Später versuchte Horkheimer, Bedeutungsunterschiede zwischen den „substantiven“ und „instrumentellen“ Arten der Vernunft herauszuarbeiten. Horkheimer ist es aber vor allem um die technische, antihumanitäre Handhabung der Vernunft zu tun. Es lag allerdings nicht in seiner Absicht, die menschliche Vernunft pauschalierend abzuurteilen.

Faschismus immer gegenwärtig

Die FS betrachtete jedwede Denkprozesse mit Argwohn, die von ihrem Standpunkt abwichen. Was für die „Enkel“ der Stifter, um Rohrmosers Vokabel zu gebrauchen, einen lebhaften Gedankenaustausch zum Abschluß bringt, kann einzig auf ein vollständiges Einverständnis mit ihrer Meinung hinauslaufen. Auch mit einer empirisch oder logisch untermauerten Gegenmeinung wird sich ein intellektueller Gegner bei diesen Enkeln nie durchsetzen. Jedwede gegnerische Stellungnahme steht beim Nachwuchs der FS unter dem Verdacht, die Vernunft zu reaktionären Zwecken zu „instrumentalisieren“. Das erklärt zum Beispiel, warum ein Historiker, der das rundum negative deutsche Geschichtsbild der heutigen Kulturmarxisten mit zwingenden Argumenten bestreitet, scheitern muß. Der Verdächtigte wird getadelt, seinen Datensammlerfleiß und seine Verstandeskraft dazu verwendet zu haben, gegen den Fortschritt zu optieren oder, noch ärger, „faschistischen Positionen“ in die Hände zu spielen.

Natur kommt vor dem Geistigen

Ein Schwerpunkt Rohrmosers ist die Analyse einer Denkbewegung, mit der Horkheimer, Adorno und Marcuse die Betonung der sozialen Widersprüche im klassischen Marxismus durch den Gegensatz von Geist und Natur ablösten. Diese Denkbewegung erklärt sich daraus, daß ihr Widerstand gegen die „instrumentelle Vernunft“, die sie mit der bürgerlichen Gesellschaft und deren Wirtschaftssystem in eins setzten, in gewisser Hinsicht „eine Wiederkehr“ zum Naturzustand erforderlich macht. Die Naturbeherrschung, die durch die Moderne angestoßen wurde, führt zu problematischen Konsequenzen. Es kam kaum von ungefähr, daß menschliche „Selbstentfremdung“, Faschismus und ein in Rußland herrschender, entgleister Sozialismus gerade im 20. Jahrhundert ihre Ausprägungen fanden. Es waren die Auswüchse eines Kampfes gegen die Natur und die Ambivalenz menschlicher Verhaltensmuster, die Hemmnisse und Ungerechtigkeit zur Folge hatten. Die Rückkehr oder das Bekenntnis zu gewissen menschlichen Instinkten, die im Nationalsozialismus Gestalt annahm, legte von der Tragweite des Aufstandes gegen die Rationalität Zeugnis ab. Rohrmoser behauptet, daß im frappanten Unterschied zu Hegel, der in seiner Phänomenologie Geist und Natur begrifflich und in einem historischen Zusammenhang zu versöhnen suchte, diese bei den FS-Gründern im dauerhaften Widerspruch zueinander blieben. Anders als Freud, der die Sublimierung der erotischen Triebe als Kosten zivilisatorischer Leistungen stoischerweise hinnahm, quälte sich die erste Generation der FS mit dieser unauflösbaren Gegensätzlichkeit ab.
Das Ringen mit dieser Problematik, so Rohrmoser, öffnete Marcuses Wunschbild der Erotisierung einer künftigen „befreiten“ Gesellschaft Tor und Tür. Grundlegend für die damals sich herausbildende studentische Protestbewegung war das marcuseanische Ineinssetzen einer unterdrückten Sexualität mit den Erfordernissen einer spätkapitalistischen Wirtschaft und Arbeitsteilung. Angesichts des technischen Fortschritts, so Marcuse, wäre es machbar gewesen, ein hohes Lebensniveau für jedermann zu gewährleisten, ohne diese wie Rädchen in einem kapitalistischen Getriebe zu behandeln. Die Sache wurde nach Marcuse weiter dadurch erschwert, daß die menschlichen Rädchen ihres Vermögens, sich Alternativwirklichkeiten auszumalen, beraubt wurden. Ihre Lebenswelt kommt den Enthumanisierten gezwungenermaßen „eindimensional“ vor, weil ihr seelischer und schöpferischer Bezugsrahmen wegen der herrschenden sozialökonomischen Irrationalität zusammenschrumpft.

Der „eindimensionale Mensch“

Rohrmoser bemerkt, daß Marcuse bei seiner Zeichnung des „eindimensionalen“ Albtraums und seines empfohlenen Wunschbilds reichlich Anleihen bei der Romantik macht: „Man muß“, so Rohrmoser, „in die Ur- und Vorgeschichte zurückgreifen, um überhaupt einen Stoff zu finden, an dem jene geforderte neue Realität einen Anhaltspunkt haben kann.“ Und weiter: „Marcuse meinte, daß die Zeit gekommen sei, um das Projekt von Wissenschaft und Technik durch die ästhetische Wirklichkeit zu ersetzen. Seine Zielsetzung ist im Letzten die Erotik, ein erotisches Verhältnis des Menschen in der Neuaneignung und Entdeckung seiner Leiblichkeit und zu der ganzen Natur.“ Trotz Marcuses Huldigung der Freisetzung erotischer Energien, so Rohrmoser, findet man im Kern seiner Weltansicht eine deutliche Distanz zur rohen Sexualität. Er monierte „die Dominanz der genitalen Sexualität“ und setzte die „unmittelbare sexuelle Befriedigung“ mit einem „Rückfall von Kultur in Barbarei“ in eins.
Rohrmoser schränkt seine Anklage gegen Marcuse dadurch ein, daß er sich weigert, ihn als Miturheber „der sexuellen Revolution der letzten fünfzehn Jahre“ zu benennen. Weitaus schuldiger daran war der Fürsprecher einer sexuellen Revolution und Marcuses Mitstreiter in der FS, Wilhelm Reich. Zu alldem, so Rohrmoser, scheint es verbohrt, vor der Einsichtigkeit von Marcuses „Herausarbeitung des Konsequenzen der Herrschaft des instrumentellen oder eindimensionalen Vernunftbegriffes“ die Augen zu verschlie?en. Empfehlenswert wäre es, Marcuses Kritik der „eindimensionalen Vernunft“ vor dem Hintergrund eines tiefergreifenden Vernunftverständnisses zu begreifen – ein Ansatz, der von der Scholastik bis Hegel verfolgt wurde.

Die Frankfurter Schule ist keine Verschwörung

Jedenfalls könnte man sich einen besseren Ausweg im Hinblick auf die „Eindimensionalität“ als den von Marcuse im Namen der ästhetisierten Erotik vorgezeichneten denken, der die Gesellschaft auseinanderreißt: „Die Ersetzung der bestehenden Realität durch den Realitätsbegriff der alternativen Kultur, wie sie Marcuse vorschwebte, ist jedenfalls nicht möglich. Dies ist ein verzweifeltes und im Ansatz zum Scheitern verurteiltes Projekt.“ Rohrmoser kommt zu der Schlußfolgerung, es sei „völliger Unsinn, die Wirkung der Frankfurter Theorie im Kontext einer Verschwörungstheorie zu erklären, so wie es weite Kreise der Konservativen und insbesondere der CDU immer getan haben“. Eine stimmige Antwort darauf wäre, den rationalen Kern daran anzuerkennen, von da aus die Unzulänglichkeit der dargelegten Theorie blo?zustellen und das Bedürfnis nach einer umfassenderen Anthropologie und Ethik zu befriedigen.
Eine begrüßenswerte Besonderheit bei der Behandlung dieses Themas liegt darin, daß sich Rohrmoser im Hinblick auf die Beurteilung der Entwicklungsphasen von Horkheimers Denken gerecht zeigt. Er steht damit im Gegensatz zu etlichen Kritikern. Horkheimer hat seine Feindbilder im übrigen mit angemessener Feinschattierung gemalt.

Konservative Regungen bei Max Horkheimer

Die überkommene Familienstruktur, die nach Horkheimers Darstellung vom Spätkapitalismus aufgelöst wird, hielt er für unwiederbringlich verloren. Horkheimer bedauerte indes zusehends die Auflösung eines Familiengefüges mit pflichtbewußten Mitgliedern, die den ihnen zugewiesenen Rollen nachkamen. Am Ende seiner Lebensjahre wandte er sich der Religion zu; trotz seines jüdischen Hintergrunds, dem er nie abgeschworen hat, begeisterte er sich für den Gründer des Christentums. Überdies setzte er sich daran, dem allen Fortschrittlichen abgeneigten Schopenhauer zu aktualisieren und als Vorboten seines Kulturpessimismus vorzustellen. Ebenso bemerkenswert waren Horkheimers Anstrengungen, nach seiner Heimkehr dem steigenden antideutschen Affekt entgegenzuwirken. Dieser Affekt drang bis ins Innere der Frankfurter Schule vor, wo sich antideutsche Stimmungsmacher wie zum Beispiel Jürgen Habermas breitmachten. Horkheimer, der nie Adornos gefühlsbetonte Vorliebe für Habermas geteilt hat, distanzierte sich vom neuen Kurs.
Das führt mich zu ein paar kritischen Anmerkungen im Hinblick auf Rohrmosers tiefgreifende Analyse, die mir seine Bewunderer hoffentlich nicht verübeln werden. Wegen des Zeitpunkts, an dem Rohrmoser die Wirkung der FS auf die aufständischen deutschen Jugendlichen beleuchtete, kommt uns seine Entscheidung verständlich vor, gewisse auf Marcuse zurückzuführende Themen offenzulegen. Ende der 1960er Jahre und in den 1970ern wurden sie hochgeputscht und mit Lautsprechern verkündet. Damals standen die „Kids“ und ihre Anführer gegen die sexuellen Hemmungen und die Überbleibsel einer schon angeknacksten bürgerlichen Gesellschaft auf. Man führte die Repression auf die grundlegenden Einrichtungen des Spätkapitalismus zurück und zauberte aus den verkifften Köpfen der Gesellschaftsstörer sozialistische Wunschträume hervor, die darauf abzielten, „die bestehende repressive Ordnung“ mittels geplanter Gewalttaten abzulösen.
Offen aber bleibt, ob in der Zeit dazwischen die am tiefsten greifende Einwirkung der Frankfurter Schule mit Rohrmosers Analyse übereinstimmt. Vom Blickpunkt der Gegenwart her, ist das – mit Respekt – in Frage zu stellen. Der Antifaschismus der FS-Enkel, sprich Jürgen Habermas und dessen Gefolgschaft, schlug sich keineswegs in einem Kampf gegen die von der Bürgerlichkeit aufgenötigten sexuellen Hemmungen nieder. Stattdessen feuerten Habermas und sein Anhang auf das Bestehen einer abgrenzbaren deutschen Nation, bewaffnet mit einer positiven Selbstwertung und einem Überlebenswillen. Bis die Deutschen alles versuchen, um ihre Nationalidentität in jedwedem bejahenden Sinn abzustreifen, lauert unseren Mitmenschen die faschistische Gefahr auf. Habermas’ Verteufelung betrifft sein eigenes Volk, das seine gesamte Geschichte bis zu seiner Besatzung und Umerziehung nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Schmach empfinden sollte. Zur Vergegenwärtigung dieser zentnerschweren Schuldlast braucht man erotischen Trieben nicht freien Lauf zu lassen, sondern nur über das Ausma? der deutschen Verbrechen durch eigenes Verschulden nachzusinnen.

Habermas reformiert die FS

Im Gegensatz zu dem marcuseanischen Vernunftbegriff, der, wie Rohrmoser mit Genauigkeit feststellt, „das in der biologischen Natur liegende Triebvermögen, ein Verlangen nach Befriedigung“ umkreist, hat dieser bei Habermas eine weniger „enthemmte“ Bedeutung. Habermas weist auf eine andere instrumentelle Funktion hin, nämlich als Mittel, Regeln klarzustellen und anzuwenden. Diese Setzung geht ohne grundlegende metaphysische Prämissen vor, da Habermas jeden nicht auf seinen vorgegebenen Vernunftregeln beruhenden Diskurs kurzerhand von sich weist. Nach den aufgestellten Regeln muß der erwünschte „herrschaftsfreie Diskurs“ derart verfahren, daß niemand auf die Idee kommt, Habermas’ demokratische und postnationale Grundfestlegung zu intensiv oder ohne Bedacht zu untersuchen. Am besten wäre es, wenn die Dialogführenden nach dem Vorbild des antifaschistisch bewegten Habermas ausgesucht werden müßten. Den Beteiligten fällt es zu, alles so zu sehen, daß die „herrschaftsfreien Plauderstündchen“ nicht auf Abwege geraten. Den Deutschen obliegt eine zusätzliche Verantwortung, ihren eigenen zerstörenden Nationalismus und die Nationalgefühle von anderen westlichen Völkern zu dämpfen und womöglich mit Stumpf und Stiel auszurotten.
Rohrmoser erläutert nicht im einzelnen, wie die FS von dem Verlangen nach Sinnengenuß auf ihr moralinsaures Gerede gekommen ist. Diese Grundfrage problematisiere ich in meinen Schriften über den deutschen Antifaschismus und gelange darin zu dem Schlu?, daß bei dieser Entwicklung eine schroffe Unterscheidung sowie eine augenfällige Kontinuität zu beachten ist. Die Bemühung, einem als reaktionär befundenen Gesprächspartner die Meinungsfreiheit abzusprechen, und der Eifer, die „bürgerliche Vergangenheit zu überwinden“, sind Charakteristika, die sich auf die Gründungszeit zurückverfolgen lassen und die Habermas und Gleichgesinnte gern aufnahmen und weiterführten. Ähnliches gilt für die Einordnung aller Anhänger der FS zum Sozialismus, gleichwie bunt oder vielfältig diese Gruppierungen sind.
Aber es gibt eine Abweichung zu verzeichnen. Obgleich Adorno (aber seltener Marcuse und Horkheimer) während und direkt nach dem Zeiten Weltkrieg über die Deutschen geschimpft hat, war das bei den Vätern ein weniger starker Zug als bei Habermas und den „Neomarxisten“ aus der nächsten Generation. Diese antideutsche Zeittendenz setzte eher bei den antideutschen Historikern wie Fritz Fischer, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler sowie bei Psychologen wie Alexander und Margarete Mitscherlich ein als bei den Gründern der FS. Und bemerkenswerterweise war diese Zeitströmung in gewissem Ma?e die Folge der Umformung der deutschen politischen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg, die von den westlichen Besatzern oktroyiert und dem deutschen Nachwuchs eingetrichtert worden war.
Obwohl die FS eingeladen war, sich an diesem bewußtseinsverändernden Experiment zu beteiligen, war das Ab- und Aussondern der Deutschen als einzigartig schädliches Volk für die FS-Gründer nie prägend.

Nicht vorgesehen – der Antiamerikanismus

 Sowohl Adorno wie Horkheimer wurden von den US-amerikanischen Besatzungsbehörden motiviert, nach Frankfurt am Main zurückzukehren und Lehrstellen an der Universität zu bekleiden. Ma?nahmen wurden am geeigneten Ort getroffen, um das Verfahren zu beschleunigen. Das hatte allerdings andere Konsequenzen, als sie die Besatzer anstrebten. Die von Adorno geprägten Studenten in den 1950er und 1960er Jahren wandten sich entschlossen gegen die amerikanischen Sieger. Zu Beginn der 1970er Jahre galten nicht die Deutschen, sondern die „Amis“ den deutschen Radikalen einschlie?lich der FS als eine Weltmacht, die durch ihre abgebrühte Ausbeutung der „Verdammten der Erde“ und ihre kapitalistische „Plünderlust“ einem möglichen dritten Weltkrieg den Weg bahnten. Mit den Deutschen und der ganzen Dritten Welt wurde dieser Auffassung zufolge seitens des verrufenen US-Imperialismus Schindluder getrieben. Wenn sich die revolutionären Studenten „Antifaschismus“ aufs Panier schrieben, war ihr Haß nicht ausdrücklich gegen die Deutschen gerichtet; sie beschimpften bestimmt nicht auf die gleiche Weise wie die heutigen deutschen Gutmenschen ihr Geburtsland und ihre Ahnen. Nicht den Vätern der FS, sondern ihren hypermoralisierenden Enkelkindern ist die antideutsche Fixierung, die heute unter den Deutschen grassiert, anzulasten.

 
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