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Radhabinod Pal und die Tokioter Prozesse

Von Lore Waldvogel

Eine (fast) vergessene Geschichte

Der indische Richter und Völkerrechtsexperte Radhabinod Pal stellte die Sieger­justiz der Alliierten in Japan bloß — außerhalb Japans hat jedoch kaum jemand von ihm gehört.

Am 12. November 1948 verkündeten die Alliierten das Urteil: von 25 Angeklagten wurden sieben zum Tode verurteilt, darunter Japans Premierminister während des Zweiten Weltkriegs, Tojo Hideki. Sein Selbstmordversuch in amerikanischer Gefangenschaft im Jahr 1945 war gescheitert, und so mußte er das Kriegstribunal von Anfang bis Ende über sich ergehen lassen. Die Vorlage für den Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten, auch bekannt unter dem Namen „Tokio Prozesse“ (???? – Tokio Saiban, 1946–1948), bildeten die Nürnberger Prozesse. Ähnliche Dinge, die man den Deutschen vorgeworfen hatte, wurden nun auf Japan übertragen. Den Angeklagten wurde vorgehalten, sie hätten eine Verschwörung gegen den Weltfrieden, Mord sowie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Zwei Anklagepunkte wurden aus Mangel an Beweisen nicht verhandelt: die „Invasion in Thailand“ und die „Verschwörung von Japan, Italien und Deutschland um Weltherrschaft“.
Einige Kommissionsmitglieder, insbesondere der Holländer Bert Röling und der Franzose Henri Bernard, brachten Einwände zu einzelnen Vorwürfen vor. Nur der aus Kalkutta stammende Richter Radhabinod Pal, der Indien vertrat, erklärte sich mit keinem der Anklagepunkte einverstanden. Er lehnte die gesamte Vorgehensweise der Alliierten in diesem Militärtribunal als willkürliche Siegerjustiz ab, weil sie mit Gerechtigkeit nichts zu tun hatte und das Völkerrecht mit Füßen trat. In seiner 1235 Seiten umfassenden, in geschliffenem Englisch verfaßten Schrift plädierte er für Freispruch aller Angeklagten.
Die Alliierten waren entsetzt: Wie hatte das passieren können? Wie war ein solcher Mann in die Kommission gelangt? Die Sache war um so peinlicher, als der Inder der einzige in der Kommission war, der sich mit Völkerrecht auskannte. Pal wurde überstimmt. Die Todesurteile wurden am 23. Dezember 1948, dem 15. Geburtstag des heute amtierenden Kaisers Akihito, vollstreckt. Einer Legende zufolge hinterließ Tojo Hideki noch kurz vor seiner Hinrichtung ein Haiku zu Ehren des indischen Richters. Auf dem Gelände des berühmten Yasukuni-Schreins, wo japanische Kriegsgefallene geehrt werden, wurde auch ein Monument zu Ehren Radhabinod Pals errichtet — allerdings erst nach dessen Ableben. Der Kaiser hatte ihm aber noch ein Jahr vor seinem Tod den Orden des geheiligten Schatzes verliehen (1966).
Die Alliierten versuchten mit aller Macht, das abweichende Urteil Pals vor der Welt geheimzuhalten. Lange Zeit wußten weder die japanische noch die amerikanische Öffentlichkeit davon. In Japan wurde die Publikation der Schrift von den amerikanischen Besatzern verboten. Die geplante Versenkung im „Erinnerungsloch“ (George Orwell) gelang aber nicht vollständig. Heute kann man das Buch von der Homepage der japanischen „Gesellschaft für die Verbreitung historischer Tatsachen“ (Society for the Dissemination of Historical Fact) herunterladen. Der amtierende Ministerpräsident Japans, Shinzo Abe, der sich auch Geschichtsrevisionisten als Regierungsberater gestattet, reiste bei einem Staatsbesuch in Indien im Jahr 2007 eigens nach Kalkutta, um sich mit Pals Sohn Prasanto zu treffen. Die Kritik blieb nicht aus; den Japanern wird ohnehin ständig vorgeworfen, sie zeigten nicht genügend Reue für ihre Untaten, sie sollten sich gefälligst ein Beispiel an den Deutschen nehmen. Man unterstellte außerdem, daß Abe dieses Treffen als Ersatz für einen Besuch beim Yasukuni-Schrein anberaumt hatte — der Ort in der Hauptstadt Tokio, an dem die Japaner ihre Kriegsgefallenen einschließlich ihrer sogenannten „Kriegsverbrecher“ ehren. Abe hat den Yasukuni-Schrein, der als Pilgerstätte für japanische Nationalisten gilt, bislang nicht offiziell besucht, aus Rücksicht auf die diplomatischen Beziehungen zu Korea und China. Es wird aber gemunkelt, daß er den Schrein inoffiziell aufsucht.
In Indien, wo man heute den amerikanischen Traum träumt, erinnert man sich kaum noch an den mutigen Landsmann. Für japanische Revisionisten ist die Schrift The Dissentient Judgment of Justice Pal (Das Sondervotum des Richters Pal) eine Goldgrube. Hierzulande ist sie weitgehend unbekannt. Und das, obwohl uns Pals sezierender Blick auf die völkerrechtliche Argumentationsbasis der Ankläger bei den Tokio Prozessen auch einiges über die Geisteshaltung der Alliierten bei den Nürnberger Prozessen verrät.

 

Die Gnadenlosigkeit der Sieger

In seiner Schrift weist Pal er mehrfach darauf hin, daß unsere Wahrnehmung häufig auf „Illusionen“ beruht, daß wir vielleicht nur „träumen“ — und impliziert damit, daß harte Urteile zu vermeiden sind. Der Begriff maya, der „Schleier der Täuschung“, ist ein zentraler Begriff im Hinduismus, der die Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung und das (Selbst-)Täuschungsvermögen des Geistes berücksichtigt. Die Vorstellung, daß unsere sichtbare Welt von Göttern geträumt wird, geht auf ein altes indisches Epos zurück, nämlich auf den Traum des Gottes Vishnu.
Neben den völkerrechtlichen Widersprüchen war es auch die völlige Abwesenheit einer gnädigen Gesinnung, die Pal empörte: Die rachsüchtigen Anklagereden seien zwar unterhaltsam, aber wenig informativ und von emotionsgeladenen Gemeinplätzen durchdrungen gewesen. Was die Welt nach diesen Katastrophen bräuchte, seien aber nicht Selbstgerechtigkeit und Rachedurst, sondern „Großherzigkeit und verständnisvolle Barmherzigkeit“ („generous magnanimity and understanding charity“, Dissentient, 700). Er fand, es sollte niemandem gestattet sein, den Namen der Justitia anzurufen, um eine Racheorgie zu rechtfertigen.
Der japanische Anglistik-Professor und Kulturhistoriker Shoichi Watanabe, der Pals Kernthesen in einem Buch zusammengefaßt und erläutert hat, legt nach: noch das europäische Mittelalter kannte mehr Humanität. Ritterlichkeit („chivalry“), der Ehrenkodex in der militärischen Auseinandersetzung im Mittelalter, sei ein Merkmal zivilisierten Bewußtseins. Diese und andere gute europäische Eigenschaften hätten die Puritaner über Bord geworfen, als sie nach Amerika auswanderten:
Amerika war eine Nation, die von den Puritanern begründet wurde, und die Puritaner waren im Wesentlichen eine radikalprotestantische Sekte. Sie betrachteten Europas Mittelalter als finsteres Zeitalter („the dark ages“), und wußten mit seinen Traditionen nichts anzufangen. Die Begründer Amerikas kappten ihre europäischen Wurzeln endgültig mit dem Unabhängigkeitskrieg. Die Amerikaner waren so darauf erpicht, etwas Neues zu erschaffen, daß sie darüber ihre europäische Vergangenheit größtenteils vergaßen. Ein gewisser Sinn für Ritterlichkeit ging verloren.
Der Begriff der Ritterlichkeit entwickelte sich im Mittelalter und erlebte damals seine Blütezeit. Ritterlichkeit verlangte, daß man seinen Gegner als ebenbürtig betrachtete; aber die amerikanischen Einwanderer betrachteten die Indianer nicht als ebenbürtig. Mit der Mißachtung des Mittelalters ging die Mißachtung der Ritterlichkeit einher, und das Ergebnis ist die Auflösung dieses Geistes und der damit einhergehenden Werte. (Watanabe, 4)
Watanabe lenkt hier die Aufmerksamkeit auf die ethische und kulturelle Prägung führender alliierter Mächte, die bei Pal angedeutet wird. Zu Recht: Tatsächlich ist die Abwesenheit von Gnade und ein ausgeprägter Rachegeist, der sich in sadistischen Strafphantasien, Gewaltvoyeurismus und Gut-Böse-Dichotomien äußert, eine auffällige Begleiterscheinung des calvinistischen Glaubens, der sich vor allem in England, Amerika, Schottland, Holland und der Schweiz ausbreitete, natürlich auch in den englischsprachigen Kolonien Australien und Neuseeland und zeitweise auch in Frankreich (Hugenotten). In der anglistischen Forschung ist bekannt, daß sich mit der erstarkenden Präsenz des Calvinismus im 17. und 18. Jahrhundert in England auch die Rechtsprechung veränderte, und daß man jetzt strenger über Verbrechen und Disziplinierung durch Gewalt nachdachte: Die ersten „Zuchthäuser“ entstanden im calvinistisch geprägten Holland und in England. Das hat nicht zuletzt etwas mit Calvins Gottesbild zu tun, das sich — anders als das Gottesbild Luthers — vornehmlich aus dem Alten Testament herleitet. Calvinistische Theologen werden deshalb nicht müde zu betonen, daß Gott den Sünder „haßt“. Hinzu kommt die Doktrin vom ewigen Ratschluß Gottes: der Glaube an die eigene Auserwähltheit und an die ewige Verdammnis der Sünder, die keine Reue, kein Gebet und kein reinigendes Fegefeuer jemals aus ihrer Verstoßenheit erlösen können. Aus der Konstellation dieser Glaubenssätze ergibt sich eine ethische Matrix, die es beinah unmöglich macht, einen straffällig Gewordenen zu begnadigen. Der alttestamentarische Rachegott hat Christen seit jeher zu schaffen gemacht. Deutsche Theologen des 19. Jahrhunderts lasen die Fluchpsalmen im Alten Testament als Relikte ritueller Verfluchung im antiken Judentum und lehnten dieses Erbe als barbarisch ab.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die theatrale Darbietung sowohl der Nürnberger als auch der Tokioter Prozesse, die Zeitgenossen auffiel. Das amerikanische Time Magazine nannte das Tribunal im fernen Osten eine drittklassige Version der „Nürnberg Show“, obwohl man die Räume sorgfältig dekoriert und mit Jupiterlampen für die Presse ausgestattet hatte, die dem Ganzen das Erscheinungsbild einer „Hollywood-Premiere“ verliehen (Time, 24). Selbst der Holländer Bert Röling fühlte sich insgesamt zu oft an Hollywood erinnert (Cryer, 46). Die Theatralität von Bestrafung ist ebenfalls eine auffällige Begleiterscheinung der Theologie Calvins. Und das, obwohl Calvin das Theater radikal ablehnte. Genauso wie Bilder, einschließlich Sprachbilder und die menschliche Vorstellungskraft, galt ihm das Theater als Nährboden für die Sünde. Wenn es um die Bestrafung von Sündern ging, sollten Prediger diese aber gerne mit allen Mitteln der Rhetorik bildhaft ausgestalten, um sie der Gemeinde lebendig vor Augen zu führen und sie die wahre Gottesfurcht zu lehren. Die Sprache der Propheten des Alten Testaments, allen voran die von Jesaja und Jeremia, fand Calvin in dieser Hinsicht besonders vorbildlich. So nimmt es nicht Wunder, daß die bekannte Schrift eines calvinistischen Predigers in England den Titel The Theatre of God’s Judgements (1597) trug — Das Theater der Gottesurteile. In dem Buch, das auf dem französischen Original eines Hugenotten basiert, geht es aber nicht etwa um das Jüngste Gericht, sondern um die unsichtbare Hand Gottes, die jeden Sünder noch im Diesseits seiner gerechten Strafe zuführt. Hunderte von Kriminalgeschichten aus ganz Europa wurden zu didaktischen Zwecken in den Büchern dieser radikalprotestantischen Moralisten zusammengefaßt und mit hohen Auflagen in der Bevölkerung verbreitet. Es ist vielleicht kein Zufall, daß gerade die anglo-amerikanische Welt eine besondere Vorliebe für das Sex and crime-Genre entwickelt hat. Radhabinod Pal, der mit den literarischen Traditionen der Briten vertraut war, verglich die Tokioter Prozesse mit einem „plumpen Moralitätenspiel“ (Cryer, 46). (Das morality play war ein geistliches Spiel im christlichen Mittelalter, das in der Reformationszeit noch stärker didaktische, moralisierende Züge annahm).
Der Haß der friedliebenden Welt auf die sündigen, kriegslüsternen Besiegten, Deutschland und Japan, ist auch ein wiederkehrendes Motiv in Pals Schrift. Dabei nimmt er — oft sehr kritisch — Bezug auf Juristen, die die rechtlichen und ideologischen Grundlagen für die Nürnberger Prozesse ausgearbeitet hatten. Darunter Dr. Sheldon Glueck („By what tribunal shall war offenders be tried? “), Robert H. Jackson („Justice Jackson“), Aron Naumowitsch Trainin („The Criminal Responsibility of the Hitlerites“), L. J. L. Oppenheim, Lord Wright, Quincey Wright und James Fitzjames Stephen. Letztgenannter war der Onkel der berühmten englischen Schriftstellerin Virginia Woolf. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Das Strafgesetz verhält sich zur Leidenschaft der Rache wie die Ehe zum Geschlechtstrieb.“
Pal selbst fand, daß ein Militärtribunal nicht von Haß- und Rachegefühlen, sondern von dem Wunsch nach Gerechtigkeit und Aussöhnung motiviert sein sollte. Die verbreitete Haltung des sowjetischen Juristen Aron N. Trainin erschien Pal unseriös, den er wie folgt zitiert:
Die Frage der kriminellen Verantwortung der Hitleristen für die Verbrechen, die sie begangen haben, ist deshalb von allergrößter Bedeutung; sie wurde zu einem drängenden Problem, da die monströsen Verbrechen der Hitlerischen Schlächter den brennendsten und unstillbaren Haß und das Verlangen nach harter Vergeltung („thirst for severe retribution“) in den Herzen aller ehrlichen Menschen in der Welt, die Massen aller freiheitsliebenden Menschen, geweckt haben. (97)
In seinem Buch über Pal nennt Watanabe eine weitere zivilisatorische Errungenschaft Europas, hinter die die Alliierten mit ihrer gnadenlosen Rachejustiz zurückgefallen seien: den Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Watanabe impliziert, daß die Militärtribunale der Alliierten die hier niedergelegten Regelungen verletzen:
Der Vertrag beginnt damit, daß er territoriale Dispute anspricht, und besagt dann, daß Religion und Regierung zu trennen seien; er besagt auch, daß große und kleine Länder dieselben Rechte haben, und daß jede souveräne Nation Krieg führen darf. Der Vertrag legt diese Werte fest und hat sie der Nachwelt hinterlassen. Er besagt auch, daß es in einem Krieg keine gute und keine schlechte Seite gibt; nur wenn die Art der Kriegführung schlecht ist, sollte dies bestraft werden (Mißhandlung Gefangener, Töten oder Verletzen von Zivilisten etc.). (Watanabe, 4)
Watanabe fügt hinzu, daß man sich in den nachfolgenden Jahrhunderten an diese Regelung hielt, und daß man noch zu Napoleons Zeiten mehr Ritterlichkeit an den Tag gelegt hätte. Die lebenslange Verbannung des französischen Generals auf die südatlantische Insel St. Helena hatten Zeitgenossen als zu hart empfunden, man fand die britische Haltung „gnadenlos“. „Die Engländer schickten ihn zwar trotzdem ins Exil, weiter ging man aber nicht. Zur damaligen Zeit hätte man es als unritterlich empfunden, einen Feind zum Tode zu verurteilen“, so Watanabe (4).
Nicht nur im Hinblick auf den Westfälischen Frieden ist auch der Anklagepunkt des „Angriffskriegs“ problematisch. Er ist auch für Pal ein Stein des Anstoßes, ebenso wie die Vorstellung, daß der Besiegte der Böse und der Sieger der Gute sei. Ein Kriegstribunal ist dann angebracht, wenn Kriegsverbrechen begangen wurden, zum Beispiel gegen die Zivilbevölkerung — das sah man 1648 so, und das ist auch der Standpunkt Radhabinod Pals. Dann gehörten aber eigentlich auch die Vergehen aller Kriegsparteien, inklusive die der Sieger, auf den Tisch. Kriegführung an sich ist kein Verbrechen, zumal der Kriegführende immer behaupten wird, daß er einen Krieg zur Selbstverteidigung führte, was laut Westfälischem Frieden das Recht einer jeden souveränen Nation ist. Mit dem 1929 unterzeichneten Kellogg-Briand-Pakt hatte sich der Völkerbund inklusive Deutsches Reich und Japan zwar verpflichtet, Streitigkeiten in Zukunft nicht mehr durch Krieg, sondern auf diplomatischem Wege zu lösen — das Recht auf Selbstverteidigung war mit dem Pakt aber weiterhin gewährleistet. Sowohl in den Nürnberger Prozessen als auch bei den Tokioter Prozessen wurde den Besiegten aus diesem Pakt ein Strick gedreht und ihre Kriegshandlungen als „Verbrechen gegen den Frieden“ gewertet. Besonders kritikwürdig und willkürlich erschien Pal auch die Anwendung sogenannter „ex post-facto laws“ — Gesetze, die von den Alliierten im nachhinein erlassen worden waren und die dann die Grundlage für Anklage und Verurteilung von Handlungen stellten, die lange vor Inkrafttreten dieser Gesetze stattgefunden hatten.

Asiens Herrenrasse?

Den Glauben an die eigene Auserwähltheit und die besondere Rolle im göttlichen Heilsplan hat der Calvinismus aus dem Judentum übernommen — auch wenn der Calvinist bisweilen von Selbstzweifeln geplagt wird und seine Auserwähltheit in Frage stellt. Das ist insofern von Bedeutung, als dies ein Punkt war, den die Alliierten den Japanern unterstellten. Schon in der antijapanischen Kriegspropaganda war behauptet worden, es sei eine „nationale Obsession“ der Japaner, zu glauben, ihnen stünde die Weltherrschaft zu, mit Tokio als Welthauptstadt. In einem amerikanischen Propagandafilm, der die Volkspsychologie der Japaner erklärt, versichert der Sprecher: „Sie glauben, es sei die Vorsehung der japanischen Kaiser, die ganze Welt zu beherrschen. Diese (göttliche) Bestimmung ihrer Erfüllung zuzuführen und alle Nationen und Völker zu zerstören, die der Erfüllung dieser Bestimmung im Weg stehen, ist die heilige Pflicht der japanischen Armee und Marine. Die japanische Armee ist eine gut trainierte, disziplinierte Streitmacht, bestehend aus Fanatikern“ (https://www.youtube.com/watch?v=F1Nxz7a7T5o). Die Darstellung dieser national-religiösen Haltung ist arg verzerrt und eine böswillige Fehlinterpretation der japanischen Überlieferung. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich hier vielmehr um eine Projektion des eigenen Weltherrschaftsanspruchs und der eigenen Auserwähltheit handelt. Die Behauptung bezieht sich auf das Konzept des „Hakkôichiu“, was so viel bedeutet wie „Die ganze Erde unter einem Dach“. Das stellt ungefähr den gleichen Weltherrschaftsanspruch dar wie der Vers „Deutschland, Deutschland über alles“: nämlich gar keinen. Der Begriff stammt aus einem Gebet des ersten legendären japanischen Kaisers Jimmu bei der Gründung der Kaiserstadt Kashihara, das allerdings erst in der modernen Zeit verfaßt wurde. „Hakkô“ bedeutet „acht Kordeln“ und stammt ursprünglich aus dem Chinesischen; die Ziffer acht steht in Japan für alle Himmelsrichtungen, also metaphorisch gesprochen für die Welt. „Ichiu“ bedeutet „unter dem Dach eines Hauses“. Von einem Glauben an die göttliche Vorsehung zur Weltherrschaft kann allerdings keine Rede sein: gemeint ist damit eigentlich die harmonische, friedliche Koexistenz der Völker. Der Begriff wurde zwar im Zweiten Weltkrieg auch als Propaganda-Slogan für die japanische „Kolonialisierung“ verwendet, die das Kaiserreich damals offiziell zum Schutz Asiens vor den imperialistischen Westmächten, insbesondere Großbritannien und Holland, und vor dem Kommunismus betrieben hatte. Die Alliierten deuteten dies als verbrecherisches Vorherrschaftsstreben Japans — aus reinem Eigennutz, wie es aussieht: schließlich wurden sie von den Japanern aus „ihren“ Gebieten zurückgedrängt, in denen sie sich mit Opiumkriegen und Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung lukrative Einnahmequellen erschlossen hatten.
Bei den Tokioter Prozessen wurde den Japanern auch ihr angebliches Herrenrasse-Denken zur Last gelegt. Es steht außer Frage, daß die Japaner sich ihrer im Vergleich zu anderen asiatischen Völkern außergewöhnlichen Leistungsfähigkeit und Disziplin sehr bewußt sind und waren, und großen Wert auf ihre Traditionen legen. Das heißt aber noch lange nicht, daß sie sich deshalb als überlegene Rasse oder gar als „auserwähltes Volk“ mit Führungsanspruch über die ganze Welt begreifen oder je begriffen haben. Radhabinod Pal nimmt diesen Vorwurf gründlich auseinander: Jedes gesunde Volk sei in gewissem Maße von seiner Einzigartigkeit überzeugt, was an sich auch nicht problematisch sei, da es dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb entspreche. Problematisch werde es erst, wenn damit Politik gemacht würde. Pal erinnert daran, daß ausgerechnet Japan im Jahr 1919 als erstes einen Antrag auf die rassische Gleichwertigkeit der Völker beim Völkerbund in Paris eingereicht hatte – und daß der Antrag aufgrund eines Vetos Australiens und der USA abgelehnt worden war.
Pals Herkunft macht die Diskussion um rassische Überlegenheit besonders brisant. Ihm war das Herrenrasse-Denken der britischen Kolonialherren nur allzu vertraut: seine Heimatstadt Kalkutta war bis 1911 das Zentrum der britischen Herrschaftsausübung gewesen. Indiens Unabhängigkeit wurde 1947 ausgerufen, als Pal sich gerade in Japan aufhielt. Die Erinnerung an die große Hungersnot von 1943 in seiner Heimat, dem ostindischen Bundesstaat Bengalen, war ihm sicherlich noch lebendig vor Augen. Der auf das politische Versagen Churchills zurückgehende Bengal Famine kostete geschätzt 1,5–4 Millionen Menschen das Leben. Für viele Inder ist dies ein bis heute nicht verwundenes und nicht genügend anerkanntes Verbrechen der Briten an der indischen Bevölkerung, das die gefühlte Nichtachtung der Europäer gegenüber nichtweißen Völkern der Welt zu bestätigen scheint. Vom Holodomor weiß man in Indien natürlich noch weniger als vom Bengal Famine in Europa.
In seiner Verteidigung des gesteigerten japanischen Rassebewußtseins während des Zweiten Weltkriegs zitiert Pal Arnold Toynbee, dessen Ausführungen über den Herrschaftsanspruch der „englischsprachigen Protestanten“ (316) gegenüber nichteuropäischen Völkern die moralische Überlegenheit der Alliierten gegenüber den Japanern in ein äußerst fragwürdiges Licht rücken. Pal lenkt die Aufmerksamkeit hier auch auf die religiösen Grundlagen des europäischen Herrschaftsanspruchs und zitiert aus Toynbees Werk The Study of History:
Die europäisch-stämmigen bibeltreuen Christen, die unter Nicht-Europäern siedelten, identifizierten sich unweigerlich mit Israel, dem Willen Jahwes gehorchend und das Werk des Herrn ausführend, indem sie das verheißene Land („the promised land“) in Besitz nahmen, während sie die Nicht-Europäer, die ihre Wege kreuzten, als Kanaaniter identifizierten, die der Herr seinem AUSERWÄHLTEN VOLK zur Vernichtung oder Unterwerfung anheimgegeben hatte. (316)
Das, was Luther „das gelobte Land“ nannte, heißt im Englischen „the promised land“, im Französischen „la terre promise“: das versprochene Land. (Die bis heute gebräuchlichen Bibelübersetzungen beider Nationen gehen übrigens auf Übersetzungen zurück, die von Calvinisten angefertigt wurden – sogar die der französischen Katholiken). Hier wird unmißverständlich deutlich, daß die Vorstellung von überlegenen Rassen und deren Vormachtstellung in der Welt keine japanische Erfindung war, und daß vor allem die calvinistisch geprägten Völker mit ihrem Auserwähltheitsglauben in der Welt mehr Unheil angerichtet haben als die Japaner — Unheil, für das es bislang noch keinen internationalen Prozeß gegeben hat.
Pals Argumentation verdeutlicht, daß das ganze Verfahren auf einer eigentlich völlig inakzeptablen Doppelmoral fußte. Bei den Nürnberger Prozessen hatte der amerikanische Richter Jackson die Vorbereitung einer Nation, eine andere zu beherrschen, als „das schlimmste Verbrechen“ definiert. Pal nimmt darauf Bezug und argumentiert, wie immer gewandt und reichlich subtil:
Das mag heute so sein. Aber ich sehe nicht ein, wie man [solche Bestrebungen] vor dem zweiten Weltkrieg als Verbrechen bezeichnen kann, als kaum eine große Macht von diesem Makel frei war […]. Anstatt alle mächtigen Nationen vor dem zweiten Weltkrieg für kriminell zu erklären, würde ich vorziehen zu sagen, daß sich die internationale Gemeinschaft noch nicht genügend entwickelt hatte, um diesen Makel als Verbrechen zu werten. (66)
Wieso durften die Westmächte die ganze Welt kolonialisieren und ausbeuten, ohne dafür bestraft zu werden, während Japan für seine hegemonialen Bestrebungen in einem Kriegstribunal eines Verbrechens beschuldigt wurde?

Das Massaker von Nanking

Das sogenannte Massaker von Nanking, auch bekannt unter dem Namen „The Rape of Nanjing“, ging in die Geschichtsbücher ein als eines der Hauptkriegsverbrechen der japanischen Armee. Den Protokollen der Tokioter Prozesse zufolge wurden mindestens 200.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet sowie rund 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt. Die Massaker sollen am 13. Dezember 1937 nach der Besetzung der chinesischen Hauptstadt Nanking durch Truppen der Kaiserlich Japanischen Armee begonnen und sechs bis sieben Wochen angehalten haben. Japanische Revisionisten bezweifeln heute die Fakten, die dieser Geschichte zugrunde liegen, und meinen, sie seien stark übertrieben, verzerrt dargestellt und zum Teil sogar erfunden. Die Zweifel erscheinen berechtigt, da einige Autoren bereits zugaben, Berichte und Fotos gefälscht zu haben. Auch in einem der populärsten Bücher über das Massaker, The Rape of Nanjing (1997) der amerikanischen Chinesin Iris Chang, sollen zahlreiche Fotos gefälscht worden sein, wie Higashinakano Shudo, ein Geschichtsprofessor an der Asia University in Tokio, nachgewiesen hat. Auch die Aussagen der Zeitzeugen sind sehr dissonant. Neben den Opferberichten gibt es auch Aussagen von Journalisten und ehemaligen Soldaten, die damals in Nanking waren und nichts von einem Massaker mitbekommen haben. Stattdessen gibt es viele Zeitungsberichte und Fotos von japanischen Soldaten, die bei der Einnahme von Nanking mit der chinesischen Bevölkerung kooperierten. China besteht allerdings auf der Realität der Geschichte und errichtete eine Gedenkstätte für die Opfer, die auch von chinesischen Schulklassen gerne besucht wird. Der historische Streit um die Tatsachen des Massakers vergiftet die japanisch-chinesischen Beziehungen bis heute. Obwohl das herrschende Narrativ in Japan das sogenannte Massaker anerkennt, wirft man den Japanern vor, sie würden nicht genügend Reue zeigen. Laut einer Umfrage ist das erste, was man in China heute mit Japan assoziiert, das sogenannte Massaker von Nanking. Ähnlich wie der Deutsche in Hollywood-Filmen der Nachkriegszeit ausschließlich als „blonde Bestie“ dargestellt wurde, wurde auch dem Japaner in chinesischen Kung-Fu-Filmen nach 1945 die Rolle des Schurken zugewiesen — obwohl die Kriegskunst der japanischen Samurai auf eine sehr ausgefeilte, lange Tradition zurückgeht, in der Begriffe wie Ehre und „Ritterlichkeit“ — japanisch: bushido — keine Fremdwörter sind.
Radhabinod Pal äußerte ebenfalls Zweifel an der Geschichte und mahnte zur Vorsicht: Geschichten über Kriegsverbrechen eigneten sich dazu, starke Gefühle hervorzurufen und den Wunsch nach Rache zu entfachen. Es sei aber wichtig, Ressentiments zu vermeiden und objektiv zu bleiben. Dies sei um so schwieriger, da diese Handlungen im Krieg geschahen und viele der Augenzeugen selbst emotional involviert oder voreingenommen waren. Mit anderen Worten: Pal warnte vor emotionaler Manipulation durch Gräuelpropaganda seitens interessierter Parteien. Als Beispiel führt er die Unterstellungen an, die während des Ersten Weltkriegs dazu dienten, Deutschland in ein schlechtes Licht zu rücken. Als „klassische Kriegspropagandalüge“ (605) bezeichnet Pal die von den Briten frei erfundene Episode, Deutsche würden ihre eigenen toten Soldaten auskochen und den Schweinen zum Fraß vorwerfen. Die Geschichte sollte damals „in Ägypten, Indien und generell im Osten soweit wie möglich verbreitet werden“, so die Anweisung eines Ronald McNeil an die britische Regierung, obwohl man außer einem englischen Pressebericht keinerlei faktische Grundlagen für die Behauptung hatte. Pal zitiert außerdem den ehemaligen Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof John Basset Moore, der schon 1933 schrieb: „Ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, denen bekannt ist, in welchem Ausmaß Propaganda im Bereich internationale Beziehungen eingesetzt wurde.“ Ein weiteres Zitat stammt aus einer englischen Zeitschrift, die zugab, daß „der erstaunlich effiziente britische Propagandadienst während des (Ersten Welt-) Kriegs den Amerikanern die skurrilsten Märchen verkaufte, die man je ersonnen hatte. Die Bevölkerung hat sich bis heute nicht von diesen angeblichen Informationen erholt, die sie damals in vollem Umfang aufsog.“ (605) Obwohl Pal (vielleicht aus taktischen Gründen) davon ausgeht, daß in Nanking schreckliche Dinge stattgefunden haben, findet er keine Hinweise darauf, daß ein solches Massaker von der Regierung gezielt angeordnet wurde. Im Gegenteil: Die Regierung scheint über die Berichte überrascht gewesen zu sein, die über die Botschaft in Shanghai nach Tokio übermittelt wurden. Die Angeklagten könnten für diese Verbrechen deshalb nicht schuldig gesprochen werden. Pal führt außerdem alle gewaltsamen Vorfälle einzeln auf, die laut Zeugenberichten in den von Japanern besetzten Gebieten von 1942–1945 begangen wurden, darunter Borneo, Formosa, Sumatra, Java, China und Hongkong. Mit Ausnahme der Philippinen sind diese so geringfügig (jeweils unter 15 Opfer), daß ein plötzlicher Gewaltausbruch der japanischen Armee, der in einem Massenmord mit 300.000 Opfern gemündet hat, etwas unrealistisch erscheint. Im philippinischen Manila hingegen soll 1945 ein ähnliches Massaker wie in Nanking stattgefunden haben („The Rape of Manila“), wobei Pal auch hier immer wieder zweifelhafte Zeugen moniert. In Manila kämpften US-amerikanische Truppen gemeinsam mit der philippinischen Armee, die unter amerikanischer Führung stand, gegen die Japaner.

Die Atombombe

Die beiden Atombombenabwürfe erlitten zu haben, ist Japans größtes Trauma. Angesichts des ungeheuerlichen Vernichtungswillens, der in dieser Art der Kriegführung zum Ausdruck kommt, sieht sich Japan nicht ausschließlich in der Rolle des Täters, sondern auch als Opfer. Jedes Jahr finden Gedenkfeiern für den Frieden und die Toten von Hiroshima und Nagasaki statt. Bis heute haben sich die Amerikaner nicht für diese unverhältnismäßige Aggression entschuldigt. Bei seinem offiziellen Besuch in Hiroshima im Mai 2016 gedachte der US-Präsident Barack Obama zwar der Opfer der Bomben, seine ausbleibende Entschuldigung wurde jedoch mit Bitterkeit zur Kenntnis genommen und sorgte weltweit für Entrüstung. Unverhältnismäßig erschien diese Art der Kriegführung auch Radhabinod Pal, der den Zynismus und die Scheinheiligkeit der Alliierten vorführt. Nach dem Krieg behauptete man, die Bombe hätte auch ihr Gutes gehabt: sie hätte der Welt vor Augen geführt, welche Zerstörung der Rassenwahn und gesteigerte Nationalgefühle nach sich zogen, und die Menschheit ein für alle Mal gelehrt, daß wir „als Menschheit eine Einheit bilden, und mit unseren Mitmenschen egal welcher Rasse, Glaube oder Hautfarbe verbunden sind, durch ein Band, das in der diabolischen Hitze der Explosionen zusammengeschweißt und unzertrennbar wurde“. Pal meldet seine Zweifel an:
Ich bin mir nicht sicher ob die Atombomben wirklich dazu geführt haben, den Vorkriegs-Schwindel beiseitezuräumen; vielleicht träumen wir nur. […] Es besteht kein Zweifel daran, daß, wenn überhaupt irgend jemand, die internationale Gemeinschaft als ganze krank geworden ist. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, daß die dem internationalen Verbund zugehörigen Nationen sich in einer Phase des Übergangs zu einer geplanten Gesellschaft („planned society“) befinden. Aber das ist eine Frage für die Zukunft, und vielleicht ist es auch nur ein Traum. Der Traum all jener, die die Weltpolitik studieren, ist es, das komplexe Zusammenspiel der Kräfte auf ein paar wenige Grundkonstanten und Variablen herunterzubrechen, so daß die Vergangenheit und sogar die Zukunft in einfacher Schlichtheit leicht greifbar vor uns liegen. Hoffen wir, daß sich das in der Realität umsetzen läßt.
Die Atombombe als Mittel, um die unterschiedlichen Identitäten der Völker einzuschmelzen und den Übergang zu einer neuen Weltordnung einzuläuten? Oder was meint Pal hier mit „planned so­ciety“? Es ist nicht die einzige Stelle, bei der man den Eindruck gewinnt, daß Pal uns durch die Blume etwas über die Nürnberger und Tokio Prozesse sagen will, das an NWO-Verschwörungstheorien erinnert: nämlich daß die West-Alliierten und die Sowjetunion der Welt nach außen hin eine ideologische Feindschaft vorgaukelten, hinterrücks aber gemeinsame Sache machten, um eine zentralistisch organisierte, geplante Gesellschaftsordnung in der ganzen Welt vorzubereiten. Pal erschien die Teilnahme der Sowjetunion an diesem Tribunal äußerst fragwürdig, und es ist auffällig, wie häufig und wie kritisch er den sowjetischen Juristen Aron N. Trainin erwähnt.
Auf die Verteufelung des Nationalismus als angebliche Ursache für den Weltkrieg erwidert Pal: „So entwürdigt und verdreht der Nationalismus in seinen gegenwärtigen Manifestationen auch sein mag, er ist dennoch eine organische und nicht zwingend böse Entwicklung des politischen Lebens des Menschen.“ (338) Seine Kritik am Gedanken der Zentralisierung zielt in dieselbe Richtung: „Demokratie und Zentralisierung passen nicht zusammen. Sie sind im wesentlichen so unvereinbar wie Freiheit und Sklaverei“ (65). Und noch ein weiteres schlagendes Argument führt Pal zur Verteidigung des Nationalstaates an:
Die Unterteilung der Menschheit in Nationalstaaten stammt aus einer Zeit, in der die Idee vom Weltreich („World Empire“) aufgegeben worden war, und alle Staaten einander unabhängig begegneten, ohne übergeordnete Autorität.
Die Unterteilung war unerläßlich: ­IHRE RECHTFERTIGUNG war, daß die Mitglieder der verschiedenen Staaten so ihre besonderen Eigenschaften und Talente zur Entfaltung bringen konnten, ohne von den widersprüchlichen Ansichten und Bestrebungen anderer behindert zu werden, die vielleicht eine völlig andere Sicht auf die Welt hatten. Eine solche nationale Ausprägung ist von besonderem Wert, weil das der einzige Weg ist, der es einer nationalen Gruppe mit einer durchgehenden Begabung erlaubt, ihr Eigenleben, ihre ureigenen Talente und Fähigkeiten zur vollendeten Entfaltung zu bringen. Es ist die Aufgabe einer nationalen Gesellschaft, jede in einem Volk innewohnende Fähigkeit zu entwickeln, und sie wird dadurch gerechtfertigt, daß sich auf diese Weise jeder überall sinnvoll einbringen kann. (60)
Für Radhabinod Pal und viele seiner Zeitgenossen in den (ehemaligen) Kolonien galt der Nationalismus als Befreiung von der anmaßenden Fremdherrschaft der Westmächte, als Befreiung aus einer Situation der Unterdrückung hin zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung.

Verschwörung gegen den Frieden?

Der Anklagepunkt, Japan und Deutschland hätten sich gegen den Frieden verschworen („conspiracy“), erschien Pal besonders absurd. Er zeigt auf, daß die japanisch-deutsche Allianz ganz überlebenspraktische, nachvollziehbare Gründe hatte. Beide Länder hatten sich nach ihrem Austritt aus dem Völkerbund weltpolitisch zunehmend isoliert gefühlt und fürchteten denselben Feind: die Kommunistische Internationale. Der Antikomintern-Pakt, den das Deutsche Reich und das Japanische Kaiserreich 1936 gemeinsam unterzeichnet hatten, war nach Pal nicht als Verschwörung oder Geheimplan zu deuten. Es gab zwar ein geheimes Zusatzabkommen, das der Anklage als Beweis für eine „Verschwörung“ diente. Dieses bezog sich aber nur auf die gemeinsame Verteidigung gegen die Sowjetunion. Pal konnte im Wortlaut dieses Zusatzabkommens nichts Aggressives oder Verschwörerisches erkennen. Den Vorwurf, die japanische Regierung hätte vor und während der Zeit des Zweiten Weltkriegs einen geheimen Plan verfolgt, hatte schon der Verteidiger George Yamaoka als „eines der merkwürdigsten und unglaubhaftesten Dinge, die jemals in einem Gerichtsprozeß verhandelt worden sind“ (179) bezeichnet.
Als weitere Rechtfertigung für den Abwurf der Atombomben auf Zivilisten diente den Alliierten das vorgebliche Ziel, den Krieg zügig zu Ende führen zu wollen. Pal findet diese Aussage bemerkenswert, galt den Alliierten doch bis dahin Kaiser Wilhelm II. als Inbegriff deutscher Grausamkeit. Pal zitiert einen Brief an Kaiser Franz Joseph I., in dem der deutsche Kaiser vorgeschlagen hatte, den Krieg so rasch wie möglich, innerhalb von zwei Monaten, abzuwickeln, anstatt ihn über Jahre auszudehnen — dazu sei jedes Mittel und jedes Opfer recht, inklusive Frauen, Kinder und alte Männer. Pal wunderte sich: Wenn der Kaiser aufgrund dieser Aussage so ein Unmensch war, wie konnte man mit derselben Logik den Abwurf einer Atombombe auf japanische Frauen und Kinder rechtfertigen?
Pals Schrift schließt mit einem Zitat von Jefferson Davis, dem Führer der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65). Das englische Zitat ist auch auf dem Denkmal für Pal im Yasukuni-Schrein eingraviert:
Wenn die Zeit die Wogen geglättet und Vorurteile besänftigt hat,
wenn die Vernunft der Falschdarstellung die Maske vom Gesicht gerissen hat,
dann wird Justitia ihre Waagschalen ins rechte Lot bringen und verlangen,
daß der Tadel und das Lob von einst ihre Plätze tauschen.

Coda

Radhabinod Pal (1886–1967) war von 1952 bis 1966 Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen. Sein inzwischen verstorbener Sohn Prasanto verfügte in seinem Testament, daß in seinem Haus in Kalkutta eine Bibliothek zu Ehren seines Vaters eingerichtet werden soll. Oft ist behauptet worden, daß sich Pal mit den Japanern als Leidtragende westlicher Aggression identifizierte, und daß sein Sondervotum auch als Rache an den Briten zu verstehen ist. Es ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, daß Pal aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen in Indien weitaus kritischer eingestellt war als zum Beispiel ein Bert Röling aus Holland. Den Vorwurf der Parteinahme wies Pal jedoch vehement zurück: als Richter sei es ihm ausschließlich um Gerechtigkeit gegangen. Jahre später, bei einem Besuch in Japan, war er entsetzt darüber, daß die Japaner, die Opfer der Atombombe geworden waren, Schuldgefühle mit sich herumtrugen. Er soll gesagt haben: „Ich kann nicht untätig danebenstehen und dabei zusehen, wie künftige Generationen japanischer Kinder mit einem schiefen Schuldgefühl belastet werden, das sie mit Unterwürfigkeit und Verfall infiziert“ (https://www.youtube.com/watch?v=lVbMaJIyhKQ, 3:52). In den von Rachsucht und einer fragwürdigen Doppelmoral getragenen Urteilen der Tokioter Prozesse, die Japan anzunehmen gezwungen war, sah Pal die Ursache für einen ungesunden Schuldkomplex, der schon allein deshalb abzulehnen war, weil er auf verdrehten Tatsachen beruhte. Aus seiner Sicht hatten die Tokioter Prozesse Japan nachhaltiger geschadet als die Atombombe.
Shoichi Watanabe sieht das auch so und hofft, daß sich die ganze Welt mit Pals Schrift befaßt. Für ihn ist sie der Schlüssel zur Genesung Japans: „Wenn Japan nicht bei Pals Urteil anfängt, dann wird es sich geistig nie mehr erholen können“ (Watanabe, 119).

Quellen

Radhabhinod Pal. International Military Tribunal for the Far East: Dissentient Judgment of Justice Pal. Kokusho – Kankokai, Inc., 1999.
Shoichi Watanabe. The Tokyo Trials and the Truth of, Pal’s Judgment‘. Tokio: The Society for the Dissemination of Historical Fact, 2009.
Robert Cryer. Prosecuting International Crimes. Selectivity and the International Criminal Law Regime. Cambridge: Cambridge University Press, 2005.
Time Magazine. „War Crimes. Road Show“, 20. Mai 1946.
Society for the Dissemination of Historical Fact: www.sdh-fact.com.
Antijapanischer Propaganda-Film: www.youtube.com/watch=
F1Nxz7a7T5o.
Zitate von Pal über Schuld: www.youtube.com/watch.
Revisionistische Diskussion über Nanking zwischen Jin Matsubara (Politiker der demokratischen Partei Japans, DPJ) und Shoichi Watanabe: www.youtube.com/watch
Higashinakano Shudo. The Nanking Massacre. Fact versus Fiction. A Historian’s Quest for the Truth. Tokio: Sekai Shuppan Inc., 2005.
Iris Chang. The Rape of Nanking. New York: Basic Books, 1997. Übersetzungen liegen auf französisch, japanisch und chinesisch vor.
Anmerkung: Die englischsprachigen Quellen wurden von der Autorin für diesen Artikel ins Deutsche übersetzt.

 
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