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Walter Flex

Der Wanderer zwischen beiden Welten

Von Albrecht Jebens

„Ich lag als Kriegsfreiwilliger wie hundert Nächte zuvor auf der granatenzerpflügten Waldblöße als Horchposten und sah mit windheißen Augen in das flackernde Helldunkel der Sturmnacht, durch die ruhelose Scheinwerfer über deutsche und französische Schützengräben wanderten. Das Brausen des Nachtsturms schwoll anbrandend über mich hin. Fremde Stimmen füllten die zuckende Luft. Über Helmspitze und Gewehrlauf hin sang und pfiff es schneidend, schrill und klagend, und hoch über den feindflichen Heerhaufen, die sich lauernd im Dunkel gegenüberlagen, zogen mit messerscharfem Schrei wandernde Graugänse nach Norden. (...) Das wandernde Herr der wilden Gänse strich gespensterhaft über uns alle dahin. Ohne im Dunkel die ineinanderlaufenden Zeilen zu sehen, schrieb ich auf einen Fetzen Papier ein paar Verse. ‚Wildgänse rauschen durch die Nacht, mit schrillem Schrei nach Norden...“!
(...) Wir sind wie ihr ein graues Heer, und fahr’n in Kaisers Namen, und fahr’n wir ohne Wiederkehr, rauscht uns im Herbst ein Amen.“
Der Verfasser dieser äußerst bewegten Verse war der deutsche Kriegsfreiwillige Walter Flex, der im Frühjahr 1915 diese Zeilen als Soldat, sich an der Westfront befindend, niederschrieb, die zwei Jahre später in der Novelle „DerWanderer zwischen den beiden Welten“ der deutschen Jugend zugänglich gemacht wurden. In dieser Novelle hatte Walter Flex seine persönlichen Kriegserlebnisse aus dem Jahre 1915 zusammengetragen, eine Novelle, die später eine Auflage von über eine Million erzielen sollte und bis 1945 eines der meistgelesenen Werke im deutschen Kulturraum blieb.
Am 16. Oktober vor 100 Jahren fiel er, weshalb sein Werk und sein Leben eine Würdigung erfahren sollte.
Walter Flex wurde am 6. Juli 1887 als Sohn des nationalliberal eingestellten Gymnasialprofessor Dr. Rudolf Flex und dessen Ehefrau Margarete geboren. Er wuchs in Eisenach auf, wo er das Karl-Friedrich-Gymnasium besuchte und dort 1906 das Abitur ablegte. Anschließend begann er an der Universität Erlangen sein Studium der Germanistik und Geschichte und wurde Mitglied der Burschenschaft der Bubenreuther. 1908 setzte der junge Flex sein Studium im deutschen Straßburg fort und veröffentlichte seine ersten Erzählungen, Novellen und Gedichte, ehe er 1910 wieder nach Erlangen zurückkehrte und dort ein Jahr später seine Promotion ablegte. Aus dieser Zeit stammt auch die Bekanntschaft zwischen Walter Flex und der Familie des verstorbenen Reichskanzlers Bismarck, wo er zwischen 1910 und 1913 als Hauslehrer für Bismarcks Enkel tätig war. Hier wurde auch der geistige Boden für Flex’ Bismarck-Novellen sowie für das Drama „Klaus von Bismarck“ gelegt.
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich Flex als Kriegsfreiwilliger in Posen. Von dort verschlug es ihn mit seinem Regiment im Oktober 1914 nach Lothringen, wo er die eingangs zitierten Verse niederschrieb. Das Lied „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ wurde schon bald mehrfach vertont und avancierte zu einem der bekanntesten deutschen Lieder überhaupt, das nicht nur die damalige Jugend begeisterte. Auch heute ist dieses Lied immer noch sehr bekannt, weil es nicht nur bei Wandervögeln, sondern auch bei Soldaten und Verbindungsstudenten immer noch gerne gesungen wird. Doch was hat es mit diesen Versen auf sich ?
Im März 1915 wurde Flex zur Offiziersausbildung in das Warthelager bei Posen kommandiert und dort im Mai zum Leutnant befördert. Hier knüpfte er eine enge Freundschaft mit dem kriegsfreiwilligen Theologiestudenten Ernst Wurche, der als Führer des Nachbarzuges neben Flex in Nordost-Polen eingesetzt war. Beide verband gleiches soldatisches Denken und Fühlen. Wie sich nach etlichen gemeinsamen Gesprächen an der Front herausstellen sollte, konnte sich auch Leutnant Wurche noch an jene Nacht erinnern, in der einst im Frühjahr Wildgänse vorübergezogen waren. Doch der schnelle Tod, der den Leutnant Wurche bei einem Patrouillengang im August 1915 ereilte, wurde für Flex zum traumatischen Erlebnis, da er, in unmittelbarer Nähe auf Posten liegend, dem sterbenden Wurche nicht mehr zu Hilfe kommen konnte. Der Tod des Kameraden sowie seine eigenen Kriegserlebnisse fanden daher in der autobiographischen Erzählung „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ ihren literarischen Niederschlag. Gegen Ende dieser Novelle beschreibt Flex  seine zweite, emotionsgeladene Begegnung mit den Wildgänsen:
„Die Pulse flogen mir. Ich stand auf und ging hinaus. Freie und Frische wehten mich an. Das Herz wallte mir leichter als seit langem. Da – ein Rauschen in den Lüften, ein scharfes Schreien, ein Näherbrausen, ein wanderndes Gänseheer rauschte hoch über Winknobroscz nach Süden. Ihre Schatten flogen über mich hin. Eine Erinnerung drückte mich wie eine lastende Hand. Wie lange war es her, daß das Gänseheer wandernd nach Norden rauschte über die kriegswunden Wälder vor Verdun hin, über den Freund und mich? Aus Frühling und Sommer war Herbst geworden. Die Graugänse wanderten nach Süden. Fernhin rauschte ihre Fahrt über das einsame Grab auf den stillen Höhen über dem Simnosee.“
Flex spricht hier vom einsamen Grab des toten Kameraden Wurche, das er diesem einst persönlich gegraben hatte. Vor diesem Hintergrund und der herbstlichen Wiederkehr der Wildgänse werden nun auch die letzten Verse des Gedichtes verständlich: „Und fahr’n wir ohne Wiederkehr, singt uns im Herbst ein Amen.“ Zeilen, deren Tiefe eine ganze deutsche Generation nachempfinden konnte, waren deren Kriegserlebnisse zweifelsohne doch ebenso tragisch behaftet gewesen.
Diese erschienen erstmals im Oktober 1916. Die Novelle wurde anschließend das erfolgreichste Buch eines deutschen Schriftstellers im Ersten Weltkrieg und eines der sechs erfolgreichsten deutschen Bücher im 20. Jahrhundert überhaupt. Für mindestens zwei Generationen deutscher Jugendlicher wurde dieses Buch zum Kultbuch schlechthin und Walter Flex bis 1945 zum Klassiker.
Schließlich wurde Flex 1917 nach Berlin abkommandiert, um dort an der Publikation „Der Krieg in Einzeldarstellungen“ mitzuwirken. Aber der Berlin-Aufenthalt sollte nur eine kurze Episode bleiben. Auf eigenen Wunsch wieder an die Ostfront versetzt, wurde Flex im Herbst 1917 bei einer deutschen Offensive mit der Führung einer Infanteriekompanie betraut. Hier erhielt er kurz darauf auf der estnischen Insel Ösel eine tödliche Verwundung, die ihm tagsdarauf, am 16. Oktober 1917, den Heldentod für das Vaterland brachte.
„Der Stahl, den Mutters Mund geküßt, liegt still und blank zur Seite. Stromüber gleißt, waldüber grüßt, feldüber lockt die Weite.“ Verse, die einst Leutnant Wurche im Leben gedichtet und geliebt hatte und anschließend im Tode gelebt hatte, erlebte nun auch er. Dieses Schicksal der beiden gefallenen Kameraden und Freunde leuchtet uns heute aus der Vergangenheit entgegen als Sinnbild für die Treue und Kameradschaft einer ganzen Frontgeneration. Denn Treue, Freundschaft und Kameradschaft sind im heutigen Militär – sowohl in der Deutschen Bundeswehr wie im Österreichischen Bundesheer – so gut wie nicht mehr erhalten.

 
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