Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker
Blickt man ins östliche Europa, muß man erstaunt feststellen, daß es bezüglich des Stellenwertes der russischen Kultur Entwicklungen gibt, die einige Parallelen zur Zurückdrängung des deutschen Einflusses nach 1945 aufweisen.
Obwohl sich bereits in der Zeit Maria Theresias ein österreichisches Sonderbewußtsein herauszubilden begann, war die Zugehörigkeit zur deutschen Volks- und Kulturnation auch gegen Ende der Habsburgermonarchie für alle Deutschen in Österreich eine Selbstverständlichkeit. Heute wird gerne darauf verwiesen, daß die staatliche Eigenständigkeit seit 1806 bzw. 1866 und das Zusammenleben mit vielen anderen Völkern in der Donaumonarchie dazu geführt habe, daß „der Österreicher“ zu etwas Eigenständigem geworden sei, nicht vergleichbar mit anderen deutschen Stämmen. „Der richtige Österreicher ist eine Mischkulanz“, behauptete vor einigen Monaten ein bekannter Buchhändler auf einer Veranstaltung. Doch all dies trifft eigentlich nur auf Wien zu. Die Tatsache, Teil eines Vielvölkerreiches zu sein, hat das vor allem regional geprägte Bewußtsein der Tiroler, Salzburger oder Oberösterreicher nicht beeinflußt, wie auch die Vorfahren der Landbevölkerung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie aus derselben Region stammten. Und wo, wie in Kärnten oder der Steiermark, ein Kronland von zwei Völkern besiedelt wurde, war das deutsche Nationalbewußtsein der Bevölkerungsmehrheit nur umso deutlicher ausgeprägt.
Kein Wunder, daß sich nach dem Zerfall der k. u. k. Monarchie die junge Republik „Deutschösterreich“ nannte und im Artikel II ihres Grundgesetzes festschrieb: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“. Der Anschluß wurde freilich von den Alliierten verboten, und dabei blieb es auch, als 1921 in Salzburg und Tirol Volksabstimmungen mit rund 80 % Wahlbeteiligung 99 % bzw. 98,5 % für den Anschluß an Deutschland ergaben. Die Zugehörigkeit zur Deutschen Nation war in der Ersten Republik allen politischen Lagern selbstverständlich, das Anschlußstreben weit verbreitet. Im roten Wien wurde eine Verordnung erlassen, wonach alle Volksschüler außer der österreichischen Hymne auch das Deutschlandlied auswendig zu lernen hatten. Nur die Legitimisten traten in der Hoffnung auf eine Restauration der Habsburger für den Beibehalt der staatlichen Eigenständigkeit ein.
Durchgesetzt wurde der Anschluß dann von den Nationalsozialisten. Auch wenn er anfangs von einer deutlichen Mehrheit begrüßt wurde, haben ihm die konkreten Begleitumstände in den Augen von immer mehr Österreichern bald die frühere Attraktivität genommen. Daher wurde die nach 1945 wiederhergestellte staatliche Eigenständigkeit von diesen erstmals bejaht. Um sie zu zementieren und auch in der Zukunft keinen neuen Anschlußgedanken aufkommen zu lassen, wurde die Existenz einer eigenständigen „österreichischen Nation“ propagiert – ein Gedanke, dem vor 1938 allenfalls marginale Randgruppen angehangen hatten. Dabei war die Abgrenzung von allem Deutschen besonders wichtig. Gerade weil es in Wahrheit keine echten nationalen Unterschiede gab, mußten „die Deutschen“ zu einem verächtlichen Feindbild gemacht werden, vor dem sich dann die österreichische Nation umso glänzender abheben konnte.
Das blieb nicht ohne Folgen, von Jahr zu Jahr sank der Anteil der Österreicher, die sich der deutschen Nation zugehörig fühlten, bis die Verfechter einer eigenständigen österreichischen Nation in den 1960er Jahren langsam die Mehrheit erreichten. Während die mit dem ehemaligen Jugoslawien untergegangene Bezeichnung „Tschuschen“ medial als diskriminierend bekämpft wurde, setzte sich in Österreich, von den Medien eher gefördert als geduldet, die Bezeichnung „Piefke“ für die nördlichen Nachbarn durch, deren Charakter und Verhaltensweisen in negativer Weise bis zur Grenze der Karikatur verzeichnet wurden. Noch heute äffen Wiener gerne die angebliche bundesdeutsche Sprechweise in Form einer unsympathischen Parodie norddeutscher Klangfärbung nach, ohne auch nur ein Ohr dafür zu haben, daß man etwa in Württemberg oder Sachsen ganz anders spricht. Und auch im großteils vom deutschen Tourismus lebenden Tirol wird man, wenn die Einheimischen unter sich sind, nur von „Scheißdeutschen“ und „Saupreußen“ reden hören, wobei unter letztere großzügigerweise auch die Bayern subsumiert werden.
Die Lage in der Ukraine ist davon natürlich sehr verschieden. Insbesondere soll hier nicht bestritten werden, daß es sich bei den Ukrainern um ein eigenständiges Volk handelt. Aber der Übergang zur russischen Nation war fließend. Schönes, reines Ukrainisch wurde nur im Westen gesprochen, vor allem in den früheren österreichischen Kronländern Galizien und Bukowina. Schon in Kiew und insbesondere östlich davon war eine dem Russischen stark angenäherte Mischform verbreitet. Die Städte im Osten waren überwiegend russischsprachig, ebenso die erst vom Zarenreich eroberte Halbinsel Krim und die Hafenstadt Odessa, eine ebenfalls russische Gründung. Ob die jahrhundertelange Herrschaft Moskaus in diesen Gebieten die früher als „Kleinrussen“ bezeichneten Ukrainer langsam russifiziert oder nur die Ausbildung eines eigenen ukrainischen Nationalbewußtseins verhindert hat, darüber streiten die Historiker. Insgesamt ist das Ukrainische vom Russischen jedenfalls weniger weit entfernt als das Niederländische vom Deutschen, das doch aus diesem hervorgegangen ist. Der Abstand der beiden Sprachen ist eher dem zwischen Deutsch und Schwyzerdütsch zu vergleichen, alle Ukrainer verstehen problemlos Russisch.
Eine Volkszählung in der bereits unabhängigen Ukraine hat 2001 ergeben, daß in den östlichen und südlichen Landesteilen bis zu 40 % der Bevölkerung der russischen Volksgruppe angehörten. Doch auch viele, die sich als Ukrainer bezeichneten, gaben als Muttersprache Russisch an – je nach Region waren 30–75 % der Ostukrainer russischsprachig. Auf der Krim dominierten die ethnischen Russen sogar mit fast 60 % der Einwohner vor 24 % Ukrainern und 12 % Tataren.
Zwischen 70 % und 80 % der Bevölkerung in diesen Landesteilen unterstützten 2004 die Forderung, das Russische zur zweiten Amtssprache zu machen. Auf der Krim sprachen sich ganze 91 % dafür aus und sogar in der Hauptstadt Kiew lag der Anteil der Befürworter noch bei 30 %. Im Oktober 2018 wurde jedoch ein Gesetz erlassen, wonach offiziell nur mehr Ukrainisch gesprochen werden darf, womit nicht nur die Russen im Osten des Landes diskriminiert werden, sondern auch die rumänische und die ungarische Minderheit. Seither blockieren die Regierungen in Budapest und Bukarest eine stärkere Annäherung des Landes an die EU.
Die ukrainische Regierung hat sämtliche Verbindungen zu Rußland gekappt, im Land können keine russischen Fernsehsender mehr empfangen werden und wer von Kiew nach Moskau fliegen will, muß den Umweg über Minsk oder Warschau nehmen. Die staatliche Propaganda richtet sich nicht mehr nur gegen Putin, sondern gegen die russische Kultur als solche. In der Folge haben viele russischsprachige Ukrainer damit begonnen, Ukrainisch zu sprechen und mehr noch: Viele Städter, deren Vorfahren aus den verschiedensten Teilen des russischen Großreiches stammen, beginnen sich langsam ausschließlich als „Ukrainer“ zu verstehen.
Die zweite Beobachtung betrifft den Einfluß, den eine Sprache und Kultur ausübt. Ohne Frage kann man Mitteleuropa vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer als den von der Ausstrahlungskraft der deutschen Nation geprägten Teil Europas bezeichnen. Noch 1986 berichtete ein Althistoriker an der Universität Wien von einem Kongreß in Sofia, auf dem sogar der britische Referent auf Deutsch vorgetragen hatte, um von allen Anwesenden verstanden zu werden. Die deutsche Kultur besaß freilich auch in anderen europäischen Regionen einen hohen Stellenwert.
Die russische Nation hat ebenfalls einen großen Raum kulturell geprägt, vor allem natürlich, weil das zaristische Imperium sein Kolonialreich über den Landweg weit nach Asien hinein ausdehnte und die Sowjetunion ein noch größeres Gebiet dominierte. Damit ist es heute vorbei. Doch warum sollte in diesem Raum die russische Sprache nicht das verbindende Element bleiben? Englisch wurde in erster Linie durch die kolonialen Erfolge der Briten zur Weltsprache, und in Westafrika ist Französisch noch heute die lingua franca. Doch das Russische befindet sich auf dem Rückzug.
Die negativen Erfahrungen, die die meisten europäischen Völker mit der Machtpolitik des Deutschen Reiches in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hatten, wurden als Hebel zur Diskreditierung der deutschen Kultur als solcher benutzt. In Osteuropa funktionierte das lange nicht, da dessen Völker unter der Gewaltherrschaft der Sowjets viel unmittelbarere Probleme hatten. Doch der immense Ansehensverlust der deutschen Kultur etwa in Skandinavien spricht Bände und war nicht bloß das Ergebnis einer von selbst ablaufenden Entwicklung. Vergleichbares spielt sich heute im Osten ab.
Den kleinen Völkern des Baltikums wird man angesichts ihrer überaus negativen Erfahrungen in der Sowjetunion und der Tatsache, daß die zahlenstarke russische Minderheit in diesen Ländern erst durch gezielte Ansiedlungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, nicht verübeln können, wenn sie ihre Unabhängigkeit vom großen Nachbarn unter allen Umständen absichern wollen. Ob sie sich hingegen als antirussischer Rammbock benutzen lassen, ist eine ganz andere Frage. Lange waren politische Kräfte an der Macht, die dabei mitspielten. Doch der neue Premier Litauens strebt eine Annäherung an Rußland an, und auch in Estlands Regierungskoalition ist eine russenfreundliche Partei die stärkste Kraft.
Anders ist die Lage in Georgien. Geographisch zu Asien gehörig, ist das Land kulturell eindeutig Teil Europas. Das kleine, im Süden des Kaukasus siedelnde christliche Volk hat jahrhundertelang unter persischen, arabischen und türkischen Einfällen gelitten und sich ihrer nur unter einem gewaltigen Blutzoll erwehren können. Vergeblich hatte es mehrmals Rußland zu Hilfe gerufen, und als dieses stark genug geworden war, einem solchen Hilferuf nachzukommen, gliederte es bald ganz Georgien in den Reichsverband ein. Die georgische Nation verlor damit zwar ihre Eigenständigkeit, kulturell konnte sie sich unter russischer Herrschaft jedoch frei entfalten und wirtschaftlich sogar profitieren. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft wurde Georgien gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wieder unabhängig, doch verweigerte es dieses Selbstbestimmungsrecht den Abchasen und Osseten, die in den von ihnen besiedelten Randgebieten Georgiens die deutliche Mehrheit stellen.
Südossetien wurde erst in sowjetischer Zeit Georgien angegliedert und hat mehrere Versuche unternommen, die Unabhängigkeit zu erreichen, was stets von 90 % der Bevölkerung unterstützt wurde. Versuche der Regierung in Tiflis, den Landesteil wieder unter Kontrolle zu bringen und ethnische Georgier anzusiedeln, haben zu blutigen Auseinandersetzungen geführt. 2008 kam es, provoziert von dem aus den USA nach Georgien zurückgekehrten Präsidenten Saakaschwili, zu einem Krieg, in dem die Osseten von Rußland unterstützt wurden und sich endgültig für unabhängig erklärten. Obwohl auch die EU offiziell Saakaschwili als Hauptschuldigen an diesem Konflikt bezeichnet, wird die Unabhängigkeit Südossetien mit Ausnahme Rußlands von fast keinem Staat anerkannt.
Ganz ähnlich verlief die Entwicklung in Abchasien, das sich ebenfalls als eigenständiger, von Georgien unabhängiger Staat betrachtet. Georgien will diese Abtrennung seiner Landesteile jedoch nicht akzeptieren. Die Öffentlichkeit ist mittlerweile so antirussisch fanatisiert, daß auch die georgische Regierung, deren Ziel eigentlich eine Annäherung an den Nachbarn war, dagegen nichts ausrichten kann.
Natürlich ist klar, daß große Unterschiede zwischen den in diesem Artikel verglichenen Entwicklungen bestehen. Dennoch gibt es Parallelen, die ins Auge fallen: