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Kunstgeschichte als Schicksalsdeutung

Von Wolfgang Saur

Hans Sedlmayr zwischen Abendland und Moderne

Der Rückblick auf Hans Sedlmayr anläßlich seines 25. Todestages gibt Gelegenheit, einen großen Ästhetiker und konservativen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zu würdigen. Einst gefeiert und viel beachtet, liegt er quer zu den heutigen Trägern von Kunst, Kultur und Wissenschaft. So wird die Konfrontation mit seinem Weltbild für uns auch zu einem kritischen Spiegel der Gegenwart.

Hans Sedlmayr wurde am 18. Jänner 1896 in Hornstein im Burgenland als Sohn eines fürstlichen Gutsverwalters geboren. Wie sehr ihn diese idyllische Kindheit, in einem ländlich-feudalen Umfeld, noch diesseits moderner Technik und Ökonomie, prägte, hat er rückblickend in poetischen Meditationen1 bildkräftig beschworen. 1907 erhielt der Vater eine Professur für Volkswirtschaftslehre in der Hauptstadt. So wurde Hans Sedlmayr Wiener und ist dies, überzeugt und leidenschaftlich, bis zur Berufung auf das Münchner Ordinariat (1951) geblieben. Nicht nur biographische Station, gewann Wien eine prinzipielle Bedeutung für ihn.
1915 wurde er eingezogen und 1917 zur österreichischen Orientarmee versetzt. „Im Schützengraben“, wie er sagt2, verschlang er Wilhelm Pinders „Deutschen Barock“ (1911), der ihn zur Kunstgeschichte führte. Ein direktes Studium östlicher Bauformen ermöglichte ihm 1917/18 seine Stationierung in Kleinasien, Syrien und Palästina, zumal ein längerer Aufenthalt in Damaskus. Heimgekehrt, nahm er sein Studium in Wien auf: zwei Jahre der Architektur an der TH, dann ab 1920 Kunstgeschichte an der Universität. Sein Interesse fesselte zunächst Max Dvorák, ein wichtiger neoidealistischer Exponent des Fachs – freilich in unfruchtbaren Streit verwickelt mit dem 1. Kunsthistorischen Institut Josef Strzygowskis. Als Dvorák 1921 starb, übernahm die Nachfolge Julius von Schlosser, der nun Sedlmayrs Lehrer wurde und dessen Orientierung nachhaltig bestimmte. Dieser promovierte bei Schlosser 1923 mit einer Arbeit über Johann Bernhard Fischer von Erlach, der ihn ein Leben lang beschäftigen sollte. In den nächsten Jahren lebte der junge Privatgelehrte zurückgezogen als Publizist. Erwähnenswert: seine Bücher über Franceso Borromini (1930) und zum österreichischen Barock (1930), mit denen Sedlmayr seine Kompetenz als Architekturfachmann ausbaute.
1933 habilitierte er sich mit einer weiteren Schrift zu Fischer an der TH, im Jahr darauf dann mit der bedeutenden Analyse des „ersten mittelalterlichen Architektursystems“3 an der Uni bei Schlosser, dessen Assistent er nun wurde. Nach dessen Emeritierung 1936 übernahm er Lehrstuhl und Institut, dem er nun bis 1945 (unterbrochen nur vom Kriegsdienst, Febr. 1942 – Nov. 1943) vorstand, nachdem schon 1933 das 1. Institut erloschen war. In die späten 30er Jahre fallen wichtige Kleinschriften zur österreichischen Kunst, zur Reichssemantik des Barock und zur Stadtplanung Wiens.4 Als konsequenter Großdeutscher bejahte er den Anschluß 1938, nicht zuletzt durch seinen Wiedereintritt in die Partei. Sein politisches Verhalten in den nächsten Jahren ist umstritten und hat in letzter Zeit Interesse auf sich gezogen.5 Er erscheint als Mitläufer, dessen Bekenntnis zum Regime zwar peinlich berührt, aber für sein Werk wenig bedeutet. Zerstreuen die Textbefunde doch nicht nur den Vorwurf deutschnationaler Gesinnung. Im Gegenteil, es wird eine sonderbare Distanz zu Deutschland in Sedlmayrs ganzem Werk deutlich.

Verlust der Mitte

1945 zwangsemeritiert und mit Publikationsverbot belegt, galt Sedlmayr fortan in Wien als persona non grata. Nichtsdestotrotz verfaßte er in der Folgezeit eine Reihe von Beiträgen pseudonym in Wort und Wahrheit, Die Furche und Neues Abendland – Zeitschriften also, die den europäischen Wiederaufbau im Zeichen katholischer Besinnung und einem geistigen Traditionsbegriff anstrebten. In diesen Jahren entwickelte der Intellektuelle (neben seiner Fachkompetenz) als zweites Projekt eine geschichtsphilosophisch ambitionierte Kulturkritik. Hier faßte er zusammen und spitzte zu, was ihn seit vielen Jahren beschäftigt hatte. Das schlug sich in einer Reihe von Büchern nieder, deren wichtigstes 1948 posaunengleich auftrat als „Verlust der Mitte“. In erstaunlicher Abkehr von zentralen methodischen Prinzipien seiner wissenschaftlichen Arbeit etablierte er sich im Feld pessimistischer Modernitätsanalyse. Ist sonst seine Kunstwissenschaft nur an den kleinen Kreis der Fachleute adressiert, wollten diese Schriften nun ins Weite wirken. Sie verfehlten ihr Publikum nicht. Sedlmayr avancierte in den 1950er Jahren zum wohl populärsten Kulturpessimisten nach Spengler. Vor allem die TB-Ausgabe vom „Verlust“ und seine „Revolution der modernen Kunst“, beide 1955, wurden breit rezipiert, mit Zustimmung oder aber vehementer Abwehr bedacht. Zum ersten Eklat kam es auf dem Darmstädter Gespräch 1950. Seitdem gingen die Modernisten in Kultur, Gesellschaft und Kunst gegen ihn in Stellung. Doch wie zeitgebunden seine damalige Auffassung sein mochte, ihr analytischer Kern bleibt unverändert aktuell. Kann er doch als klassisches Dokument einer ästhetisch fundierten Modernitätstheorie gelten.
Wie das Positiv zum Negativ verhielt sich dazu das große Werk über die gotische Kathedralkunst. Parallel zum „Verlust“ geschrieben, kam es im Jahr 1950 heraus. „Auf die Höllenfahrt folgt nun der Aufstieg in das Himmlische Jerusalem, auf die Schmähschrift das Loblied.“6 Sedlmayr selbst hielt es für sein Hauptwerk. In der Tat kann es, inhaltlich und geistig, als Summe seines Denkens gelten, nicht bloße Rekonstruktion der gotischen Stilform, vielmehr eine Quintessenz seiner Werte und seines Menschenbilds. Nach dem Zerfall der gotischen Idee gehe es heute um deren Wiedergewinnung als gemeinschaftliche Aufgabe. So exponierte seine gewaltige Vision nichts Geringeres als das mythische Modell einer spirituellen Europaidee. Das Buch fand auch Widerspruch, zumal von Positivisten. Sedlmayr hat hier Massen ikonografischen Materials verarbeitet, Musik, Liturgie und Dichtung einbezogen und seine Darstellung mit einem theologischen Triumphgedanken bekrönt.
Nach Jahren der Kaltstellung hatte er sich erneut als gewichtiger Fachmann ausgewiesen. So erstaunt es nicht, daß ihn 1951 ein Ruf an die prominente Münchner Lehrkanzel erreichte. Hier unterrichtete er bis 1964, um dann als Gast- und Honorarprofessor in Salzburg das dortige kunsthistorische Institut aufzubauen. Die elegante Barockstadt mochte ihm gemäßer sein als das zerbombte München und die bayerischen Kunstlandschaften, für die er merkwürdig wenig Interesse gezeigt hat. Aus Anlaß des 400. Geburtstags Fischer von Erlachs (1956) hat er seine alte Barockforschung erneuert und zu einem großen Standardwerk über den österreichischen Meister ausgebaut. Die späten Jahre zeichneten sich weniger durch Kulturkritik als durch die Diskussion und Verbreitung seiner „Strukturanalyse“ aus, die er in meisterhaften Aufsätzen exemplifizierte. Stieß auch deren Spiritualismus bisweilen auf Widerspruch, lag in seinen Ideen bis zuletzt doch unbestreitbar, „was kunsthistorischen Veröffentlichungen nicht oft eignet: geistige Sprengkraft“.7 Hans Sedlmayr verstarb am 9. Juli 1984, mehr als 88 Jahre alt, in Salzburg.

Die Wiener kunsthistorische Schule

Die in ihren Fernwirkungen bis heute fühlbare Wiener Schule weist eine Reihe fachlicher Gemeinsamkeiten auf. Sie zeigt aber auch zwischen 1909–33 eine starke Zerklüftung zweier feindlicher Lager, deren produktive Ideen sich auseinander entwickelten. In diesem Streit mußte auch Sedlmayr sich positionieren.
Die Wiener Kunstgeschichte ging hervor aus dem Österreichischen Institut für Geschichtsforschung. Dieser Ursprung qualifizierte sie hervorragend für Quellenstudien und Denkmälerkritik, waren ihre Vertreter doch in Denkmalpflege, Museumsarbeit oder Archivdienst tätig. Waren die legendären Altvorderen Rudolf von Eitelberger (1817–85) der Kunsttopografie verbunden und Moritz Thausing (1835–84) als Direktor der Albertina der Museumsarbeit, so gilt ihr Zögling Franz Wickhoff (1853–1909) als eigentlicher Schulgründer. Dessen Berufung zum ordentlichen Professor (1891) führte dann zur Institutsgründung. Von da aus erklären sich Autonomiestreben und die intensive Theorie- und Methodenreflexion der Wiener Kunstgeschichte. Wickhoff weist schon zweipolare Wiener Eigenschaften auf: Mit der Rangfrage privilegiert er originäre, innovative Künstler, die eine neue Kultur schaffen. Nachahmer hingegen bedienen bloß die stilistische „Gemeinsprache“ der Zeit, verwalten ihr konventionelles Umfeld. Gleichzeitig aber drängt Wickhoff auf Ausweitung des historischen Kanons in unbekannte Perioden oder bislang verachtete „Verfallszeiten“. Sein Interesse wendet sich erstmals der außereuropäischen Kunst und auch der Gegenwart zu. Sein heute noch berühmter Kollege Alois Riegl (1858–1905) befaßte sich in diesem Sinn mit Kleinkunst, dem Kunstgewerbe (so in seiner „Spätrömischen Kunstindustrie“ 1901). Entgegen dem Funktionalismus Gottfried Sempers, der das Kunstwerk konstruiert aus Zweck-Material-Technik, stellt er die Formschönheit und das „Kunstwollen“ einer Zeit als wesentliches Movens heraus, betont also geistige Faktoren. Unter Kunstwollen versteht er inneren Antrieb, den objektiven Impuls in allen Äußerungen eines Stils oder einer Epoche. Unterscheiden sich ästhetische Fakten nach Funktion und Erscheinungsbild, so verweist ihre gemeinsame Signatur auf eine innere Einheit. Die deutet Sedlmayr später als „Zentralphänomen“ und entwickelt von da aus seine „Strukturanalyse“.
Bei der anstehenden Neubesetzung 1909 brach ein Grundsatzstreit über die Kandidaten los, der zu keiner Einigung führte. So kam es zu einer bizarren Doppelberufung und der Teilung des Instituts. Beide Kontrahenten, Leuchten des Fachs, spalteten fortan die Lehre und zwangen die Studierenden zur Entscheidung. Josef Strzygowski (1862–1941), seit 1892 erster Fachvertreter in Graz, trat auf als monumentale Persönlichkeit, die genial die Kunstwissenschaft zu revolutionieren unternahm. Als junger Mann im Orient weit gereist, machte er mit dem genial-wahnwitzigen Anspruch ernst, die westliche Perspektive zur Weltkunst auszuweiten. Der Mann, der einem „Attila der Kunstgeschichte“ (B. Berenson) gleich, riesige Materialmassen durchdrang, entwickelte eine komparative Sicht, die erlaubte, östliche mit westlichen Formen und Motiven zu verknüpfen. Seine fast planetarische Begriffsbildung, die selbst zeitgenössische Kunst einbezog8, nahm eine eigenwillige Zielrichtung auf die Polarität von Ost und West („Orient oder Rom“ 1901), die er später mit der von Nord-Süd überblendete. Strzygowskis Leidenschaft für den Orient und Norden propagierte eine indoeuropäische Lehre der Kultureinheit dieser Völker. Diesen indoiranischen Kulturbogen sah er dominiert von den südlich-romanischen Kräften, die er mit Staat, Kirche und Humanismus identifizierte. Trotz rastloser Tätigkeit und internationaler Anerkennung verschärften sich persönliche Schroffheiten und die skurrilen Züge seines Weltbilds, das schließlich in einem extremen Nordismus gipfelte.9 Längst war jede Kommunikation zwischen beiden Instituten abgerissen. Sedlmayr, sozialisiert von Strzygowskis Gegnern, hat sich zu diesem nie explizit geäußert. Seinen Schriften entnehmen wir nur diskrete Anspielungen. Der aufmerksame Leser freilich erkennt den durchlaufenden Subtext beständiger Auseinandersetzung mit dem allgewaltigen Exzentriker. Sedlmayrs Werk versteht sich markant als Gegenentwurf.
Als solcher opponiert es aber auch seinen direkten Lehrer, Max Dvorák (1874–1921). Dies wird in seiner schärfsten Polemik, „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte“ (1949) offenkundig.10 Sie nachzuvollziehen fällt schwer, gehört doch eben Dvorák zu jenen, die schon vor 1914 zur Umkehr mahnten: „Heute steht diese materialistische Kultur vor ihrem Ende. Ich denke […] weniger an den äußeren Zusammensturz […] als an den inneren,[…] der auf allen Gebieten […] beobachtet werden kann: im philosophischen und wissenschaftlichen Denken, wo die Geisteswissenschaften die Führung übernommen haben […], in der Literatur und Kunst, die sich wie im Mittelalter und in der Zeit des Manierismus dem geistig Absoluten, von der Naturtreue Unabhängigen zugewandt haben […] In dem ewigen Ringen zwischen Materie und Geist neigt sich die Waage zum Siege des Geistes […]“, so schreibt er in seinem Essay über El Greco.11 Tatsächlich war er der Entdecker des Manierismus als antisensualistischer, spiritueller Bildform: „Alles, was die Kunst an realistischer Schilderung, an formalen Lösungen und farbiger Wirkung als Vermächtnis […] übernommen hat, erhält einen neuen Sinn: ist kein selbstständiger Inhalt mehr, sondern nur der Wirkungskreis einer höheren Geistigkeit und Ausdruck übermaterieller Ereignisse, die diesen Kreis mit […] ihrem Zauber erfüllen.“12 Sein expressionistisches Interesse an Krisenzeiten und der mittelalterlichen Kunst wurde zum Schlüssel für nichtklassische Kunstformen. In Vergangenheit und Gegenwart dünkten ihm „Andacht, Meditation, Gefühlserhebung“ als „Voraussetzungen für einen neuen Spiritualismus“13 Dieser Impuls führte Dvorák auf das mystische Problem und den Neuplatonismus – so wie später auch Sedlmayr und mit ihm eine Reihe von Kunstforschern.
Früh verstarb der geniale Mann 1921. Nur um Strzygowski zu widerstehen, dessen Orientalismus und Nordismus abzuwehren, übernahm daraufhin Julius Ritter von Schlosser (1866–1938) Dvoráks Nachfolge – als Halbitaliener, ganz der Romania zugetan und mittelmeerischer Kultur verbunden, eine echte Kontrastfigur. Dessen konzeptionelle Züge präfigurieren direkte Positionen Sedlmayrs. Schlosser rühmte den Glanz der Renaissance, die schon im vorigen Jahrhundert als Gipfel und Inbegriff aller Ästhetik galt, wertete indes Stilformen wie den Manierismus schroff ab und verwarf die zeitgenössische Kunst. Er nahm also die kühne Ausweitung des Kanons seit Wickhoff zurück, verwestlichte und romanisierte die Kunstgeschichte wieder gegen Strzygowski und propagierte mit seinen Freunden Benedetto Croce und Karl Vossler einen elitären, geschichtslosen Kunstbegriff, der das geniale Individuum betonte. Als dessen Ausdruck erschienen die Kunstwerke, die „monadenhaft keiner Entwicklung angehörten, vielmehr gemeinsam die ars una bildeten, die nur erlebt, nicht begrifflich erklärt werden könne“. Die „geläufige Kunstproduktion“ dagegen sei „nur ‚Sprache‘, nicht aber ‚Poesie‘“.14 Deshalb seien sog. „Zeitstile“, also Epochenfiguren, eine „Fiktion“ und die „angebliche Entwicklung der Kunst“ nicht beschreibbar.

Zum Kunstbegriff Hans Sedlmayrs

Den Stichworten Schlossers: Vorrang des Klassischen, Abwehr des Orients, Geniekult, ästhetischer Elitismus und Verachtung der Masse, solitäre Kunstmonaden schließt Sedlmayr sich an. Dessen Haltung ist zunächst typisch für den (geistes-) wissenschaftlichen Nachwuchs der 1920er Jahre. Zeichnet diesen doch ein Antiaffekt gegen die (bürgerliche) Vorkriegsgeneration und ihre Methoden aus. Prototypisch dafür Nietzsche mit seiner frühen Historismus-Kritik.15 Solche Anschauungen werden jetzt adaptiert. Bei Sedlmayr führen sie zu einer lebenslangen Polemik gegen Positivismus (Kult der Tatsachen und Auflösung des Kunstwerks), Historismus (Betonung des Entwicklungsbegriffs, Zeitlichkeit), Stilismus (formal- und gattungsästhetische Analyse), Harmonismus (Behauptung von Epochen- und Stileinheiten), schließlich Wertrelativismus (Nivellierung durch Pluralität) – kurz, gegen die Suspendierung des Normativen. Dabei wird freilich nicht nur der Wissenschaftsbetrieb von 1900 attackiert, sondern das Grundverständnis historischer Wissenschaften fragwürdig. Hatten sich diese im 18. Jahrhundert doch gegen die universalistische Zumutung der Aufklärung formiert: Erfassen des konkret Besonderen und seiner Wesensform, dessen genetische Entfaltung, Verknüpfung des Verschiedenen in der Entwicklung, Aufzeigen des Reichtums von Mensch und Weltgeist – das war die Devise. Dieser Optimismus schwindet im 20. Jahrhundert. Erfahrung und Wissen sind überkomplex, so pluralisiert und entgrenzt, daß Wahrheitsfrage und Faktum zerfallen. Darauf reagieren Denker wie Kierkegaard, die Argumentation durch irrationale Entscheidung ersetzen.16 Dieser Dezisionismus begünstigt im Denken Sedlmayrs ein dualistisches Moment zweier feindlicher Anthropologien (1) und zwischen wahrer/falscher und guter/schlechter Kunst (2). Jenes (1) zielt auf die grundlegende Wert-Entscheidung, dies (2) auf die rechte Rang-Unterscheidung. Die Wertlehre postuliert also eine normative Voraussetzung vor dem Diskurs. Letztlich ist sie theologisch gemeint: Das Gottverhältnis des Menschen fundiere auch die Methode! Den Sinn der Kunstgeschichte finde nur der, der die absolute Wahrheit der Offenbarung glaubt! So verstanden wird die Kunstgeschichte zur „Religionsgeschichte“. Es kommt dahin, von der Kunstwissenschaft den Wandel zur „Pneumatologie“ und „Dämonologie“ zu fordern – alles andere sei eine bloß „totalitäre Auffassung der Geschichte“.17 Auch die Geistesgeschichte Dvoráks habe nur Begriffe „mittlerer Allgemeinheit“ geliebt, die lau waren. Zu erkennen gelte: Das Thema der Geschichte laute „Abfall“ und „Wiedergeburt“, sei ein „Kampf der Geister“. Dieser Entscheidung für den wahren Wert verbindet sich ein Verdikt über „Scheinkunst“ und Verfallszeiten und setzt die Klassische Idee wieder oben an.
Dieses wuchtige Programm beleuchtet dramatisch eine Hauptintention Sedlmayrs, zeigt Größe und Grenzen seines normativen Denkens. So liegt eine Tragik darin, daß ein schroffer Kopf sich einer empirischen, deskriptiven, historischen Wissenschaft verschrieb, die ein Absolutheitsanspruch schnell überfordert.
Der Herausfall des „Mittleren“ hat den Kunsthistoriker zu einem selektivem Gebrauch des Materials geführt, zu vielfacher Ausblendung. Verlaufsgeschichten können nun nicht mehr erzählt werden. Dagegen setzt er große, universale Paradigmen, anthropologisch vollsinnige und ästhetische Modelle, die er kunstgeschichtlich konkret bezeugt und darstellt. Von zeitloser Bedeutung, fallen sie indes aus dem historischen Geschehen heraus. Genese, Umfeld, Wirkung verschwinden fast ganz. Denn: nicht nur formaler Stilismus ist zu vermeiden, sondern auch „banale“ Kulturgeschichte und sinnlose Linearität. Dagegen bilden die großen „Gesamtkunstwerke“ überragende Monumente, kosmische Potenzen: Sie veralten, vergehen nicht, erneuern das Leben. Nur wenige solche Systeme treten geschichtlich auf. Zwar verschieden, sind sie einander doch nah; sie bilden eine zeitlose Gemeinschaft, die ars una. Nun: Solch eine Gipfelkunde tendiert zum mythischen Denken. Tatsächlich ist ein Mythograph in Sedlmayr verborgen; das macht das Tiefgründig-Rätselhafte seiner Erscheinung aus.
Freilich waren auf dieser Linie Konflikte mit seinen historischen Themen vorprogrammiert.18 Einen gewissen Ausgleich erfährt sein Dualismus von absoluter Wahrheit und ephemeren Fakten durch Stufenmodelle von Welt-Werk-Wissen, die Gradualität, Annäherung und eine positiv qualifizierte, relative Erfahrung zulassen. So scheint der eklektische Sedlmayr zu alternieren: Einmal tritt er auf als radikaler Thomist, der strikt scheidet nach wahrem Glauben und „Häresie“, der mit diffamierenden Vorwürfen schnell bei der Hand ist. Dann wieder bewegt er sich monistisch im Schema mystischer Reintegration und pendelt zwischen Franz von Baader19 einer- und einem wahren Sonnenkult20 andererseits.
Fundamental bleibt seine statische Auffassung von Welt, Mensch und Kunst, der sein räumliches Gestaltdenken entspricht.

Kunstgeschichte als „strenge Wissenschaft“?

Damit kommen wir zu Sedlmayrs Kunstdeutung. Mit großem Aplomb hat der junge Kunsthistoriker die Form-, Stil-, Kultur- und Ideengeschichte und auch Biographik verworfen und statt dessen eine Wahrnehmung des Werks als konkretes, als ganzheitliche Gestalt gefordert. Was er will, sind Einzelinterpretationen, die die formale Logik der Werks und seine Sinnschichten freilegen und das ästhetische Symbol als Medium historischer Verdichtung erweisen, als eine Welt im Kleinen. Dem entspricht die Idee der geschlossenen Form. Entwickelt wird das im Kontext der phänomenologischen Strömung der Zeit21; später gewinnt seine Mentalität eher existenzphilosophische Färbung. Der Organismus des Kunstwerks wird nun als „Struktur“ gedeutet, was durchaus im Rahmen des organologischen Zeitdiskurses verbleibt. Zunächst denkt er noch wahrnehmungspsychologisch und argumentiert extrem formalistisch.22 Mit der Zeit wird sein Deutungsschema gehaltvoller und zielgenauer. Er generiert die sog. „Strukturanalyse“, die bis heute als klassisches Konzept gilt. Sie versucht nun: (1) die phänomenologische Wahrnehmung und dichte Beschreibung als „Wesensschau“ eines gestalthaft aufgefaßten „Gebildes“, sodann (2) die ikonographische Klärung seiner Bildmotive vorzunehmen und im hermeneutischen Sinnverstehen (3) über mehrere Stufen zu einer komplexen Auslegungsform (4) zu integrieren. Dem mehrfachen „Bildsinn“ des Kunstwerks entspricht so ein mehrfaches Verständnis des Interpreten. Dies Schema hat Sedlmayr variiert. In „Zwei Kunstwissenschaften“23 differenziert er zwischen einer Ebene der Denkmälerkritik (a) durch die Hilfsdisziplinen, während das ästhetische Phänomen dem wahren Verstehen (b) vorbehalten ist. Bei diesem kommt es auf die rechte innere „Einstellung“ an, die erst die adäquate Wesensschau ermöglicht. Unterschiedliche Wahrnehmung zeitigt verschiedene Aspekte am Objekt.
Von da aus wäre ein Methodenpluralismus begründbar, den Sedlmayr jedoch ausschließt; vielmehr polarisiert er richtiges und falsches Verhalten. Wichtig bleibt, daß sich in der Strukturdeutung Analyse und Synthese ergänzen. Der Interpret vollzieht den Aufbau des Werkes nach; dessen Komplexität erweist sich mit ihren Unter-, Über, und Beiordnungen als Hierarchie. Ist Sedlmayr anfangs noch vom Wiener Szientismus infiziert („observative Grundhaltung“, „Ausscheidung alles Überflüssigen“, „Stellen nur sinnvoller und exakt formulierter Fragen“, „Vereinheitlichte Terminologien“, „Überprüfbarkeit der Verfahren und Ergebnisse“), betont er später konsequent die ontologische Dimension der Kunst. Es geht um die Beschwörung „wahrer Gegenwart“24, die aus dem Aufbau beider „Zeiten“ resultiert, der geschichtlichen zur ewigen. Nur der „reine Augenblick“ (kairos) stellt das volle Sein im Ursprung wieder her, während im vorfindlichen Dasein die „gemischte Zeit“ ihr Unwesen treibt. Seine Überlegungen münden in die kulturellen Erstbegriffe Mythos und Kult. Vorsichtig hat er sich dem symbolkundlichen Strukturalismus der Religionswissenschaft genähert25, der überzeitliche Strukturformen ideell synchronisiert.

Meisterbilder der Kunst

Sedlmayr hat diesen Weg nicht weiter verfolgt, seine Auffassung dafür in einer Reihe meisterhafter Interpretationen exemplifiziert. Die bekanntesten würdigen Pieter Brueghel26, Jan Vermeer27 und die Wiener Karlskirche28. Im Text zu Brueghels „Blindensturz“ (1568) deutet schon die Kapitelfolge seine Tiefenschau an: „Das physiognomische Verstehen des Bildes“, „Das formale Verstehen“, „Das noetische Verstehen“ und das „Integrale Verstehen“. Zunächst gibt der Betrachter das Dingliche des Bildes wieder. Erst danach setzt der Vorgang „gestalteten Sehens“ ein. Er bildet den formalen Aufbau und die subtilen Farbwerte der sorgfältigen Komposition nach. Erst das erkennende Verstehen erschließt das Einzelne inhaltlich, identifiziert die Motive nach Zeitbezug und Malereigeschichte, erklärt die Anspielungen aus kulturellem Umfeld und literarischem Hintergrund, Emblematik, Brauchtum oder Spruchweisheit. Solche Anreicherung hebt Sedlmayr auf die Ebene allegorischer Bedeutung. Der „Blindensturz“ wird lesbar als moralisches Genrestück von der „verkehrten Welt“ oder als mahnendes Sinnbild religiösen Irrtums. Schließlich postuliert er gar eschatologischen Sinn. So dürfen wir urteilen, der „Sturz der Blinden“ sei „nicht nur ein Exempel der Torheit […] sondern auch ein Exemplum der allgemeinen Blindheit der Welt, des Schicksals, des Menschen schlechthin.“ (EuW I, 345). Weiter geht es mit der „tropologischen“ Bedeutung, „die das Bild als Gleichnis für den Status des Betrachters, für uns selbst nimmt.“ (ibd. 347) Am Ende bilden indes alle „vier Bildbedeutungen […] eine Einheit“. (ibd. 349) Diese Einheit sagt erst das „integrale Verstehen“ aus: „Von dem ersten anmutungshaften Verstehen […] über das artikulierende Verstehen der formalen Bildstrukturen und der sich überlagernden Bildbedeutungen führt der Weg gleichsam auf einer Spiralwindung […] zu einem […] Bildverständnis höherer Ordnung, das nun alle […] Erfahrungen in sich aufnimmt, integriert und belebt. […] Zwischen anschaulicher Gestalt und […] Bedeutung besteht das Verhältnis gegenseitiger Erfüllung.“ (ibd. 355)
Ähnlich geht der Kunsthistoriker vor bei Vermeers herrlicher Darstellung der Malkunst (1672), die man sein „geistiges Vermächtnis“ genannt hat. Die subtile Komposition eröffnet dem Betrachter einen gestaffelten Tiefenraum, dessen gegenläufige Diagonalen vom linkerhand prächtigen Proszenium zum bildmittigen Rückenstück des Malers führen; von ihm dann nach links in die Tiefe zu seinem ätherischen Modell, angetan mit blauem Mantel, Trompete und Lorbeerkranz: Klio, die Muse der Geschichte personifizierend. Die Darstellung ist in warmen, schimmernden Brauntönen gehalten, die mit der kontemplativen Bildstruktur eine Atmosphäre tiefer Schönheit und Stille erzeugen. Zurecht sagt deshalb Sedlmayr: „Dieses Licht ist […] der eigentliche ‚Gegenstand‘ des Bildes. Ohne den Charakter des natürlichen Sonnenlichtes aufzuheben, hat es doch zugleich den Charakter eines überwirklichen Lichts, das alle Dinge in geheimnisvoller Klarheit erscheinen läßt […] Es zeigt das reine Dasein der Dinge und verklärt die Welt, den Mikrokosmos des lichterfüllten Gemaches.“ (EuW II, 115) Ob freilich dies Lichterlebnis als „lichtmystische Erfahrung“ pointierbar ist? Mißverstanden hat er die weibliche Allegorie als fama, Ruhm; freilich kommt er zu einem überraschend barocken Fazit. Wird der Wandbehang niederländisch gedeutet und auf die fama bezogen, ergibt sich ein allegorischer Gesamtsinn: die Malkunst – der Ruhm – der Niederlande. (ibd. 113)
Diese Wendung von privater Innerlichkeit zum barocken Sinnbild führt uns auf die Karlskirche in Wien. Als ein Hauptwerk des deutschen Barock wird sie für Sedlmayr zum Schlüsselwerk schlechthin. Ihrer Schauseite widmet er eine legendäre Analyse. Die gilt als klassischer Text, ein gutes Beispiel der Architekturikonologie, der semantische Bauanalyse. So wird die Strukturdeutung gerade dem Gruppenbau der Karlskirche, einem sorgfältig aus vielen Baugliedern komponierten Ensemble gerecht. Es besteht aus der ovalen Rotunde des Zentralraums, seinen Kreuzarmen und dem Chorbau. Ihm ist in breiter Längsausdehnung eine Vorhalle als Querriegel vorgelagert mit seitlichen Glockentürmen samt Tordurchfahrten. Zentraler Zugang erfolgt festlich über den sechssäuligen Giebelportikus mit Freitreppe, über dem sich die gewaltige Kuppel erhebt, während diese wuchtige Zentralachse seitlich flankiert wird von zwei monumentalen Säulen, deren spiralförmiger Reliefdekor die Taten des hlg. Borromäus, des Patrons, szenisch verherrlicht. Auf dieser formalen Grundstruktur bauen sich nun die Bedeutungsschichten auf, denen Sedlmayr mit subtilem Auge nachgegangen ist. So hat er allein in bezug auf die Baumitte: also Säulenpaar, Tempelrisalit und Kuppel, mehrere Sinnebenen freigelegt. Sie verweisen auf den Schutzpatron, den kaiserlichen Auftraggeber (Karl VI.), auf Rom, den Universalanspruch Habsburgs, ja sogar auf den Tempel Salomonis. Und doch fallen sie nicht auseinander, sondern verweben sich zu einem dichten symbolischen Netz und kühnen Gesamtkunstwerk des Barock.

Barockes Wien und österreichische Sendung

ie Karlskirche (1716–37) ist das Meisterwerk Johann Bernhard Fischer von Erlachs (1656–1723), dem unter allen Künstlern Sedlmayrs größte Aufmerksamkeit und Wertschätzung galt. Der Grazer Baumeister des österreichischen Hochbarock begleitet ihn sein Leben lang, von der Dissertation 1923 bis hin zu Schriften der späten 70er Jahren; die umfassendste Darstellung bietet er im Jubeljahr 1956. Hier wurzeln die zentralen Vorstellungen Sedlmayrs von abendländischer Kunst an sich. Über Fischer hat er sich in erstaunlichen Superlativen geäußert. Er nennt ihn den „Schicksalsmann der deutschen Architektur“ und die Karlskirche eine „wahre Summe europäischer Architektur im 17. Jahrhundert“29. Sie erscheint der Zeit enthoben und Fischers übriges Werk zu dominieren, gelingen ihm hier doch gewaltige Synthesen, die den Bau zum Universalsymbol machen: Der Baumeister verschmilzt in der Karlskirche das sakrale Prinzip mit dem imperialen, vereint Kaiser und Kirche. Als „Reichskirche“ überwölbt sie die Konfessionen. Formal synthetisiert sie die beiden Architektursysteme der Zeit: italienischen Barock und französische Klassik zum österreichischen „Kaiser“- oder „Reichsstil“. Als ikonologisches „Gesamtkunstwerk“ überbietet die Karlskirche auch beide Traditionsfeinde des Kaisers, Frankreich und den 1683 niedergerungenen Sultan. Indem Österreich die Führung übernehme beim deutschen Barock, Fischers System das Reich „erobere“, erneuere sich der hegemoniale Anspruch des Hauses Österreich über Mitteleuropa. Das erhellt die Triumphbogenmotivik in den Arbeiten Fischers, die Verherrlichung von Glauben, Reich und Herrschaft. Diese Überlegungen finden sich in wichtigen Aufsätzen der späten 30er Jahre, so vor allem in „Die politische Bedeutung des deutschen Barock“ (1938)30 und „Österreichs bildende Kunst“ (1937)31 – in größter Nähe zu Ritter von Srbik und Josef Nadler, also Großdeutschen wie Sedlmayr selbst.
Mit ihnen begrüßt er den Anschluß 1938. Die Barockkunst vor Augen, deutet er die Gegenwart „reichisch“ und bietet als Historiker symbolische Modelle an, die Ereignisse ideell zu durchdringen. Von einer Nationalsozialisierung kann indes keine Rede. Vielmehr stellt sich gerade umgekehrt heraus, daß – weit entfernt von innerer Unterwerfung unter das 3. Reich – Sedlmayr den Anschluß als Chance auffaßt, metapolitisch die Wiener Dominanz übers Reich diskret zu erneuern, den deutschen Raum der österreichischen Idee zu unterwerfen. Diese Ambitionen waren freilich so phantastisch wie die gewaltigen Umbaupläne für die Donaustadt, die Sedlmayr in jenen Jahren diskutierte – doch am Ende verständlich für einen Architekturfachmann, dem das Bauen als ursprüngliche Kulturtat des Menschen galt. Bauen war ihm das symbolische System, das Welt und Geschichte erschloß, alles Menschliche ausdrückt. Nur die Architektur war universell. Sedlmayr lehnte die Gleichwertigkeit der Künste ab. Vorrang besaß die Architektur, sie war „Ordnungsmacht“ für die anderen Künste, die „übergreifende Form“, die Malerei, Plastik und Dekor integriert. Freilich galt das nur für die wahre Architektur. So werden das Architektonische vom (nur) Tektonischen unterschieden, die echte Baukunst von der bloßen Konstruktion und das „sakrale vom profanen Bauen“.32 Dieser Primat hat nicht nur ästhetische Bedeutung, er erweist sich als reales Strukturprinzip, als kosmische Funktion. So erschaffen die Kultbauten und alten Stadtgründungen „Wirklichkeit“, indem sie himmlische Urbilder irdisch kopieren.33 Das nennt Sedlmayr ihren „Abbild-Charakter“. So erstaunt es kaum, daß „die große abbildende Architektur immer zugleich Gesamtkunstwerk ist“. Sie schließt alles ein und bezieht es „auf einen kultischen Mittelpunkt“. (EuW II, 234)
Der menschliche Schicksalsgang kann also am architektonischen Gestaltwandel festgemacht werden. 1944 hat er das in eine welthistorische Skizze gefaßt: Zum architektonischen Primat gehören wesentlich Dauer, Erdung des Menschen, seine Orientierung auf Oben und Unten. Dieser Vorrang wird in Spätzeiten „angefochten, das Wesen des Architektonischen vergessen oder verkannt, in Frage gestellt, zuletzt ausdrücklich geleugnet. Spätzeit […] unserer Kultur. Ersatz der Architektur durch ‚Konstruktion‘“ (EuW II, 208) Kurz danach (1948) stellt sich der Kunsthistoriker seine Aufgabe so: „Die Kunstgeschichte aller Künste zu schreiben als die Geschichte ursprünglicher großer sakral gebundener Gesamtkunstwerke, ihrer Auflösung und der Säkularisation des Erbes. Und zugleich die Geschichte dieser Gesamtkunstwerke […] zu schreiben als Geschichte der ‚bildenden‘ Künste.“ (EuW II, 234)

Dekadenz und Verlust der Mitte

Er zeigte das an vier Bausystemen, die er als europäisch wesentlich erkannt hat. Das justinianische Byzanz mit der Hagia Sophia34, dann die gotische Kathedrale, der „solare“ Palast von Versailles, der barocke Kirchenbau, gegenreformatorisch im Petersdom35, bevorzugt jedoch im Wiener Hochbarock, der als Vereinigung des Katholischen mit dem Kaiserlichen eine theokratische Superform aufgipfelt.
Das Modell ist schon in Sedlmayrs Analyse antiker und mittelalterlicher Wandsysteme angelegt, aus deren Vergleich er die „übergreifende Form“ entwickelt. (EuW I, 81ff.) Diese bezeichnet wiederkehrende Kompartimente, aus denen die Wand sich gestalterisch und funktionell aufbaut, so Fenster, Galerien, Arkaden. Es gibt einfache Formen, die mechanische Reihen bilden. Ihnen kontrastieren hierarchische Komplexformen. „Das Neue der Struktur […] ist das Zerlegen in Bestandteile erster und zweiter Ordnung, in übergreifende und übergriffene Elemente.“ (EuW I, 85) Diese Figur gibt das systematische Grundmuster als Keimzelle des Gesamtkunstwerks. Die Betrachtung des Kunsthistorikers nun soll die geistige Hierarchie eines Baus nachvollziehen und nicht Details auffädeln. Übergreifende Form, Gesamtkunstwerk, Architektur als Ordnungsmacht, Strukturanalyse meinen also im Grund dasselbe: sie beschreiben ein Schichtmodell als Selbsterschließung von Mensch und Welt. Ästhetischen Kern bildet das Klassische, das sich geschichtlich auf je neuer Stufe darstellt. Für den Wiener deckt es sich mit dem Wesen der Heimat, dem österreichischen Genius. Der Zwiespalt, das gebrochene Lebensgefühl seien dem Österreicher fremd, er lehne extreme Seelenlagen ebenso ab wie alles Einseitige, Partikulare – sein Land sei der Ort rechten Maßes.36
Dagegen stehen: das Ekstatische, das Unendliche, das Dynamische, das Bizarre. Ihnen hat Sedlmayr kritisch nachgeforscht. Schon früh entdeckt er in Borromini (1930) einen barocken Vertreter des antiklassischen Prinzips. Dann wendet er sein Mißtrauen analogen Stilbildungen zu: der Spätgotik37, dem Manierismus, dem Rokoko38, bis er entdeckt, daß das Antiklassische in der Moderne dominant wird. Diese wird nun zum Krisensymptom schlechthin.
So beginnt Sedlmayr 1948 eine „zweite Karriere“ als geschichtsphilosophischer Antimodernist. Es geht ihm nicht um Geschmacksprobleme, sondern ein tieferes Schicksal, in dem das Gottesverhältnis in Frage steht. Dieses ist dreifach denkbar: mit Gott zu sein, ohne ihn, gegen ihn. Diesen drei Möglichkeiten entspricht eine historische Stilfolge der „religiösen“, der „naturservilen“, dann der „egoistischen“ Kunstform.39 Das Antiklassisch-Gebrochene, Irrationale, die Symptome des Krankhaften gehen in der Moderne also in eine umfassende Dekadenz über. Ablesbar wird sie am Entwicklungsschicksal der Künste seit 1750. So wird Sedlmayrs Diagnose zu einem Krankenbericht der modernen Kunst. Das wollen die Bücher vom „Verlust“ (19. Jahrhundert) und der „Revolution“ (klassische Avantgarde) leisten. Technik- oder Wirtschaftskritik berühren nur Ephemeres. Tiefer gesehen, handelt es sich um eine „kosmische Störung“. (VdM, 160) Sie, eine ungeheure innere Katastrophe explodiert in den Revolutionen, von denen die französische nur ein Detail gibt. Künstlerisch bedeutet die Krise Aufstand gegen die Architektur, Zerstörung des Tektonischen (VdM, 95ff.), Entbindung der Elemente und Verlust der Zentralperspektive. Es ist dies ein gewaltiger Dissoziationsprozeß, in dem die Einheit der Künste und echte Stilbildung zerfallen. In drei Teilen: Symptome, Diagnose und Verlauf, Prognose und Entscheidung, hat Sedlmayr versucht, das Debakel zu schildern. Die Haupttendenzen faßt er im 7. Kapitel zusammen (VdM, 143):

-Aussonderung „reiner“ Sphären (Purismus, Isolation)
-Auseinandertreiben der Gegensätze (Polarisation)
-Neigung zum Anorganischen
-Loslösung vom Boden
-Zug zum Unteren
-Herabsetzung des Menschen
-Aufhebung des Unterschieds von „Oben“ und „Unten“

Die Schwäche dieser Kulturtheorie liegt in der unklaren Systematik und den vagen Begriffen. Trotzdem wird evident, daß der Autor die Grundzüge moderner Kulturbildung erfaßt. Die lassen sich in vier Worten umreißen: Autonomisierung, Entgrenzung, Politisierung, Kommerzialisierung. Den ersten Punkt hat Sedlmayr massiv herausgestellt. Er betrifft das moderne Systemgesetz: Organische Einheiten zerlegen sich in Komponenten, differenzieren sich aus und verselbstständigen funktionell. Diese Partialisierung und Spezialisierung entwickelt das Einzelne nach internen Gesetzen fort. Universelle Zielursache ist stets die Optimierung, die permanente Effizienzsteigerung. Der Rückgang auf die Elemente und deren willkürliche Rekombination eröffnet unendliche Spielräume.
Dieser Vorgang ist auch an der Kunstentwicklung ablesbar. Malerisch beginnt sie mit der Autonomie von Farbe und Form, unter Ausscheidung des Inhalts. Zunehmend werden Einzelaspekte: Produktionsweisen, Material, Rezeption etc. zum alleinigen Thema des kreativen Akts – er „implodiert“ also. Zugleich „explodiert“ die Kunst, sie wird allseitig entgrenzt: thematisch, medial, technisch und verliert ihren Werkcharakter. So kann jetzt alles Kunst werden – was eben Autor oder Kritik dafür halten. Politisierung bedeutet die Auflösung alles transzendenten oder innerlichen Gehalts ins Gesellschaftliche. Dreht sich alles um Emanzipation und Macht, wird Menschsein profan und die Kunst „horizontal“. „Autonome“ Kunst trennt sich zwar von vermeintlich „heteronomer“ Bindung, wird aber – wie Sedlmayr erkennt – neuen Abhängigkeiten unterworfen, so dem Markt. Er beurteilt das moderne Autonomieexperiment abschließend so: Es zeige sich, „daß es den autonomen Menschen nicht gibt und nicht geben kann. So wenig wie die autonome Kunst, Architektur usw. Es gehört zum Wesen des Menschen, Natur und Übernatur zu sein. Menschliches und Göttliches in ihm lassen sich nicht ohne Schaden für das Menschliche trennen. Der Mensch ist Vollmensch nur als Träger des göttlichen Geistes. So gesehen wäre die Störung, die wir ‚Verlust der Mitte‘ [nennen], eben […] in dem Auseinanderreißen von Gott und Mensch und im Verlust des Mittlers […], dem Gottmenschen“ zu suchen. „Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis.“ (VdM, 170)
Das wird verdeutlicht an Zeugnissen der Kunst. Oft zieht er abseitige heran, wie die dämonische Welt Goyas oder die stereometrischen Utopien der Revolutionsarchitekten oder das Wahrnehmungschaos der Surrealisten. Sedlmayr verteidigt sein Verfahren als „Methode der kritischen Formen“ (ibd. 9) Sie bedeuten ihm dasselbe wie der „Ausnahmezustand“ für Carl Schmitt. Die Regel beweist nichts, die Ausnahme alles. So soll man nicht von der Normalität ausgehen, sondern das Politische vom Ausnahmezustand her denken. Das eben meinen Sedlmayrs „kritischen Formen“. In vielen Richtungen erkennt er ein Wahrheitsmoment, so bei den Surrealisten die Sehnsucht nach dem Wunderbaren. Doch die bloß irrationale Reaktion auf eine entfremdete Lebensordnung verändert diese nicht, erschöpft sich nur in steriler Opposition, verfehlt also den dialektischen Wandel. Hier liegt das Problem vieler Rationalitätskritiker. Auch der Surrealismus berauscht sich nur an seiner Willkür, dem Wahnsinn, der Gewalt und fällt hinter die Vernunft zurück – statt sie zu überschreiten. So müßte er eigentlich „Sousrealismus“ heißen!40 Im Gegensatz zum wahren Surrealismus etwa der altchristlichen Kunst! Gegenüber dem (immanenten) Widerstreit rational-irrational glaubt Sedlmayr also an eine real transzendente Dimension. Sie garantiert die Natur des Menschen, denn „wie das Wesen des Menschen zu allen Zeiten eines ist“, so auch „das Wesen der Kunst zu allen Zeiten dasselbe“ (VdM, 209)

Die Auseinandersetzung mit Adorno und Mitscherlich

Diese anthropologisch-ästhetische Universalnorm samt Modernitätskritik wurde zum Stein des Anstoßes 1950 auf dem Darmstädter Gespräch. Dort kamen Wissenschaftler und Philosophen zusammen, sahen aktuelle Kunst und diskutierten über „Das Menschenbild in unserer Zeit“.
Sedlmayr hielt den Eröffnungsvortrag „Über die Gefahren der modernen Kunst“. Der Protokollant notierte: „Die Vertauschung von Oben und Unten ist Programm. (Pfeifen) Oben und Unten sind eben nicht nur räumlich, [sie] sind Symbole geistiger Beziehungen. (Zuruf: Nein! – Beifall) Jawohl! Der Mensch ist eben nicht zwischen zwei Chaos hingestellt, sondern zwischen Kosmos und ein Chaos. Es geht nicht an, das Obere das Untere zu nennen. Sie werden nie das Triebleben das Obere nennen und den Intellekt das Untere (Widerspruch – Beifall)! Das sind vollkommen objektive Feststellungen. Fühlen Sie sich doch nicht immer angegriffen! Ich glaube, daß ich die moderne Kunst ernster nehme als die ganzen Schönfärber, von denen sie verteidigt wird. (Beifall – Trampeln. Zuruf: Heil Hitler! Zuruf: Pfui!)“41 Sein wilder Kontrahent, der abstrakte Maler Will Baumeister schrie oft dazwischen: ‚Spengler-Schulze-Naumburg-Rosenberg-Sedlmayr!‘
Die polarisierende Frage der Abstraktion erscheint heute nebensächlich. Gewichtiger sind die Beiträge Alexander Mitscherlichs, der Sedlmayrs symbolische Kosmologie von Oben und Unten aufs Korn nahm, und die Thesen Adornos. Sedlmayrs Ideal vom geschlossenen Kunstwerk setzte er die Offenheit entgegen, der Harmonie die Dissonanz. Er greift den Vorwurf der Negativität auf: „So sehr ich dem Kulturkonservativismus widerspreche, den Sedlmayr zum Ausdruck bringt, an dieser Stelle sieht er etwas Richtiges […] Ich würde dialektisch sagen, daß die Harmonie des modernen Kunstwerks darin besteht, daß es das Zerrissene selber unversöhnt, unversetzt zum Ausdruck bringt und ihm standhält“, daß hier „das einzig Versöhnende liegt, während jeder Versuch, etwa unter Bezugnahme auf die Idee des Kosmischen, nun diese Harmonie […] durchzusetzen“, bedeutet, „daß wir uns der eigenen Exponiertheit schämen und so genau jene Brücke zur Vergangenheit“ suchen, „die es abzubrechen gilt.“42 Mitscherlich und Adorno sind erwähnenswert, haben sich ihre Vorstellungen doch effektiv durchgesetzt. Die heutigen Künste und Kulturwissenschaften, jenseits der Unterhaltungsindustrie, teilen das Programm der „negativen Dialektik“ und „Nicht-Identität“ – deren kryptischer Atheismus in Verweigerung von Heil und Versöhnung, also geschlossenen Sinnfiguren, deutlich wird. Sie gelten als „undemokratisch“.
Trotz der Theorieüberlegenheit Adornos hat Sedlmayr doch zutiefst eindrucksvolle Schlußworte gefunden. Gegen Werner Haftmann mit seiner Vorstellung vom modernen, ins Chaos geworfenen Menschen (bedrängt von oben und unten), betonte er, „daß ich diese Menschenansicht nie annehmen kann, da ich in einer solchen Polarität überhaupt keine Möglichkeit zu einer wirklichen Freiheit mehr sehe, sondern daß ich daran glaube, daß der Mensch hineingestellt ist zwischen Chaos und Kosmos zur freien sittlichen Entscheidung“. (DG, 207) Weiter lehnte er den modernen Geschichtsfetischismus ab, der die „historische Situation“ verabsolutiert. Dann erläuterte er nochmals den ‚Verlust der Mitte‘, welcher (subjektiv) einen Verlust des Herzens im Sinne Augustins und Pascals meine, der Herzkraft als „versöhnender und vermittelnder Kraft des Menschen“, und (objektiv) der Offenbarung des Logos (im Fleisch). „Wenn diese Mitte des Menschen nun wirklich ernstlich gefährdet ist und verlorengehen sollte, dann wäre etwas Unwiederbringliches verloren, und im letzten und tiefsten Sinne wäre mit dem Menschen auch die Kunst erloschen.“ (ibd. 208) Damit reiste er ab.

Die Entstehung der Kathedrale

Parallel zum Verlust hatte Sedlmayr die „Entstehung der Kathedrale“ verfaßt, die 1950 erschien. Die riesige Systematik zu Bau, Geschichte, Sinn und Wirkung des Kirchenbaus zieht nicht nur die Summe der Gotik, sondern auch seines eigenen Denkens. Die reinen Bauforscher machte sie ratlos. Da wurde kapitellang gehandelt von Liturgie, Musik und Theologie; nach Ansicht des Autors waren sie alle ins Wunder der Kathedrale verwoben. Die Kathedrale verkörpert eine Summe christlichen Abendlands im positiven Sinn wie im negativen der Abgrenzung; sie machte sein Nein zur Moderne verständlich, seine Abgrenzung zum Orient noch einmal deutlich.
Voraussetzung bildet seine Theorie vom Baldachinsystem43. Dessen Begriff und Genese hatte er früh entwickelt. Im „ersten mittelalterlichen Architektursystem“ erscheint es byzantinisch bei Justinian (Hagia Sophia). Hier genügt festzustellen, daß die These auf eine Verselbstständigung der gewölbten Decke gegenüber den tragenden Wänden abzielt. „Erst hier ist die ‚Umkehrung‘ der hochantiken Auffassung ganz erreicht: nicht die Wände sind das primäre, den Raum konstituierende Element, den ein ‚Deckel‘ […] nur nachträglich nach oben schließt, sondern das primäre, raumschaffende Element ist der Baldachin, der nachträglich nach den offenen Seiten hin durch Füllwände zu einem allseitig geschlossenen Raum wird.“ (ibd. 93) Diese Metamorphose vollendet sich im gotischem Transparenzcharakter des Baus und seinem theologischen Spiel von Licht und Dunkel.
Rekonstruktion und Deutung der Kathedrale als anonymes Gemeinschaftswerk verbinden sich einer Sicht, die uns verloren ging. Ging es dieser doch um die Einheit aus Konstruktion, Kunst und mystischer Bedeutung. „Erst so gesehen erscheint die Kathedrale als das, was sie einst war: als Inbegriff und Quellpunkt aller Künste, nicht nur von Architektur, Skulptur und Malerei, sondern auch von Schauspiel, Tanz und Musik, von geistlichen und weltlichen Elementen, von Mysterienspiel und Posse.“ (EdK, 45) Dies „ursprüngliche Gesamterlebnis“ sei wiederzugewinnen (ibd. 46), nur so die „Auferweckung im Geiste“ vollendbar (ibd. 9). Kapitel 24 exponiert die berühmte Definition: „Die Kathedrale stellt mit Mitteln aller Künste den Himmel, das Himmlische Jerusalem dar […] Das ‚Transzendente‘ der Kathedrale erhält erst von dieser Erkenntnis her seinen präzisen Sinn.“ (ibd. 95) In diesem Zusammenhang entwickelt Sedlmayr seinen starken Symbolbegriff (jenseits von Zeichen und Allegorie) mit den fünf hierarchisch gestuften Arten des Bildes. Es verknüpft „die diesseitige, objektive Welt mit der transzendenten Welt der Ideen“. (ibd. 102) Hier gründet auch die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, dessen Hermeneutik sich Sedlmayr als „Bildsinn“ einer „integralen Symbolik“ aneignet. Wie für M. Eliade C. G. Jung oder J. Campbell bedeutet für ihn das „echte Symbol […], daß es bereits in sich enthält, worauf es hinweisen soll. Das echte Symbol ist nicht bloß hinweisend […], sondern wirklichkeitserfüllt.“ (ibd. 103) Die langen Kapitel zur Himmelsbedeutung der Kathedrale verdeutlichen diese als „himmlische Stadt“ und „himmlischen Thronsaal“. So vereinigen das sakrale und imperiale Motiv sich im System der „Königskirche“. Christologisch favorisiert Sedlmayr den Herrschertypus (majestas domini), der als Kosmokrator im Bildprogramm der Ostkirche habitualisiert ist.
Das „Wesen der Kathedrale“ schließt mit einem Abriß des symbolischen Weltbilds: „Der Symbolismus schuf ein Weltbild, dessen Zusammenhang inniger war, als das kausal-wissenschaftliche Denken es zu geben vermag. Er ergriff mit seinen starken Armen das ganze Reich der Natur und die ganze Geschichte. Er schaffte sich darin eine unlösliche Rangordnung, eine architektonische Gliederung, eine hierarchische Subordination. Denn in jedem symbolischen Zusammenhang muß eines tiefer und eines höher stehen: gleichwertige Dinge können nicht einander als Symbol dienen, sondern es können nur beide zusammen auf ein Drittes hinweisen, das höher ist als sie. In dem symbolischen Denken ist Raum genug für eine unermeßliche Vielfältigkeit von Beziehungen der Dinge zueinander. […] Kein Ding ist zu niedrig, das Höchste zu bedeuten und darauf hinzuweisen zu seiner Verherrlichung. Alle Dinge bieten dem Emporsteigen des Gedankens zum Ewigen hinauf Stütze und Halt; alle heben sich gegenseitig von Stufe zu Stufe in die Höhe.“ (ibd. 163)
Zur Synthese des Kathedralbaus gehört auch, so erfahren wir im baugeschichtlichen Teil, daß er drei Wurzeln hat: die nördlich-normannische gibt das konstruktive, die südlich-romanische das plastisch-menschliche und die westlich-keltische das poetische Element. So ist die klassische Kathedrale also eine großartige Verschmelzung dreier ‚Volkscharaktere‘. „Sie schafft in der Kunst das ‚Französische‘ und ist gerade in dieser Verschmelzung europäisch in höchstem Sinn.“ (ibd. 347) Gerade der letzte Aspekt mit seinem Ursprung aus dem Keltischen hat Sedlmayr stark beschäftigt (328 ff.) Sie hat auch für Sedlmayrs lebenslange Meditation über französisches Wesen und Kunst große Bedeutung. Schon 193844 hatte er den Kern der französischen Kunst bestimmt als Vision des Paradieses.45 Dessen Ursprung erkennt er nun in der „Insel der Seligen“, dem ersten eschatologischem Motiv als Grundlage aller weiteren Kunstentwicklung. (339)
Weil aber das Klassische, so auch in der gotischen Kathedrale, stets nur „einen Augenblick“ währt (507), setzt der Verfall schon mit der Ausbreitung ein: „Auf unendliche Weise zersplittert die Kathedrale und übersät ganz Europa mit ihren Splittern und mit kleinen Teilspiegelungen ihrer Formenwelt.“ (398) Auch religionsgeschichtlich führt das Spätmittelalter vom gotischen Universalsymbol weg, das „mehr und mehr subjektive Verhalten der Gläubigen zum Sakrament, das sie vom Objektiven des Kultmysteriums […] entfernt.“ (508) Der entscheidende Schritt aber vollzieht sich im Schritt vom eschatologischen Paradiessyndrom zur modernen Utopie, ein irdisches Paradies sozial und politisch zu schaffen. Hier wurzelt Sedlmayrs Neugier für die revolutionären Architekturvisionen der Boullée und Ledoux.

Sedlmayrs Bedeutung

Vor dem Hintergrund der Verramschung unseres Hochkulturerbes, seiner globalen Einebnung und individualistischen Zerbröselung haben wir allen Grund, eine Persönlichkeit wie Hans Sedlmayr zu ehren und seine intellektuellen, moralischen und ästhetischen Werte dankbar aufzugreifen. Wo sonst wollte man einen solch emphatischen Begriff von Kunst und eine so tiefgründige Sicht auf den Menschen finden? Gleichzeitig liegen Stärke und Schwächen dieser stolzen Position auf der Hand. Seine kühne Gewichtung konterkarieren charakteristische Abwertungen und Verzeichnungen. Denn: Sedlmayrs „Gipfel der Zeit“ überstrahlen alles und tauchen vieles in Schatten, so die (mittel-) deutschen Kunstlandschaften. Verzerrt wird das Bild der Geschichte auch durch die gewaltsame Konstruktion, mit der der Autor um den großen Schicksalsblick rang. Doch selten war ein Forscherwille größer, bloße Information und Betrieb abzustreifen und echte Sinnorientierung zu gewinnen.

 

Anmerkungen
1  Hans Sedlmayr: Das goldene Zeitalter. Eine Kindheit. München 1986
2  Vgl. „Zeichen der Sonne“; in: EuW II, S. 249–257
3  „Das erste mittelalterliche Architektursystem“; wiederabgedruckt in: EuW I, S. 80–140
4  So etwa „Das Werden des Wiener Stadtbildes“; wiederabgedruckt in: EuW II, S. 257–265
5  Vgl. den Aufsatz von: www.albert-ottenbacher.de/sedlmayr
6  So Werner Hofmann: „Im Banne des Abgrunds“; in: Breuer: Die Zähmung der Avantgarde, S. 43–55
7  So Werner Hofmann; zit. in: Metzler Kunsthistoriker Lexikon, S. 380
8  Josef Strzygowski: Die bildende Kunst der Gegenwart. Wien 1923
9  Europas Machtkunst im Rahmen des Erdkreises. Wien 1941
10  Wiederabgedruckt in: Kunst und Wahrheit, S. 71–87
11  „Über Greco und den Manierismus“ (1920). Wiederabgedruckt in: Studien zur Kunstgeschichte, S. 59–75
12  So in „Tintoretto“. Abgedruckt in: Studien zur Kunstgeschichte, S. 137–159
13  So Irma Emmrich: „Max Dvorák und die Wiener Schule der Kunstgeschichte“; in: Studien zur Kunstgeschichte, S. 311–359
14  Metzler Kunsthistoriker Lexikon, S. 351
15  Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Leipzig 1874
16  Sedlmayrs überraschendes Bekenntnis zu Kierkegaard: „Kierkegaard über Picasso“; in: Der Tod des Lichtes, S. 63–86
17  Diese Bestimmungen alle in: „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte“ (1949); wiederabgedruckt in: Kunst und Wahrheit, S. 71–87
18  Extrem verdeutlicht das sein Rokokobuch: H. Sedlmayr/H. Bauer: Rokoko. Struktur und Wesen einer europäischen Epoche. Köln 1991
19  Baader war Sedlmayrs Hausphilosoph; in zahlreichen Schriften hat er sich auf ihn bezogen. Vgl. auch explizit: „Baaders Gedanken zur Kunst“, in: Festschrift A. Dempf; S. 361–369
20  Auch die tiefe Faszination des solaren Prinzips, teil mystisch aufgefaßt, teils voluntaristisch-imperial zieht sich als Leitmotiv durch und prägt nachhaltig seine Sicht des Gesamtkunstwerks. Vgl. „Zeichen der Sonne“, in: EuW II; S. 249–256
21  Sedlmayrs Schlachtruf nach einer „strengen Kunstwissenschaft“ (1931) spielt offenbar an auf Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. Tübingen 1910/11
22  So in seiner österreichischen Barockarchitektur 1930
23  „Zu einer strengen Kunstwissenschaft“ (1931); wiederabgedruckt in: Kunst und Wahrheit, S. 35–71
24  So Sedlmayr in: Salzburgs Aufgabe in der Kunstgeschichte (= Salzburger Universitätsreden, Heft 8). Salzburg 1966. S. 11 und dann vor allem: „Das Problem der Zeit“ (1955); in: Kunst und Wahrheit, S. 140–159
25  Vor allem in „Architektur als abbildende Kunst“ (1948); abgedruckt in: EuW II, S. 211–34. Auf diesem Weg weiter ging (im Sinne Sedlmayrs) Tilo Schabert: Die Architektur der Welt. München 1997
26  „Die ‚Macchia‘ Bruegels“ und „Pieter Bruegel: Der Sturz der Blinden“; in: EuW I, S. 274–318 und S. 319–357
27  „Jan Vermeer: Der Ruhm der Malkunst“; in: EuW II, S. 107–120
28  „Die Schauseite der Karlskirche in Wien“ ibd., S. 174–187
29  „Johann Bernhard Fischer von Erlach“; in: EuW II, S. 157–173
30  Zuerst erschienen in der Festschrift für Heinrich von Srbik; wiederabgedruckt in EuW II, S. 140–56
31  Wiederabgedruckt in EuW II, S. 266–86
32  „Zum Wesen des Architektonischen“; in: EuW II, S. 203–210
33  Religionswissenschaftlichen Erwägungen am nächsten kommt Sedlmayrs komparatistische Studie: „Architektur als abbildende Kunst“; in: EuW II, S. 211–234
34  „Das erste mittelalterliche Architektursystem“ (1933); EuW I, S. 80–140
35  „Der Bilderkreis von Neu St. Peter in Rom“ (1955); in: EuW II, S. 7–45
36  Siehe dazu „Österreichs bildende Kunst“
37  Im Sinne Gerstenbergs: Kurt Gerstenberg: Deutsche Sondergotik. Eine Untersuchung über das Wesen der deutschen Baukunst im späten Mittelalter. (1913) NA: Darmstadt 1969
38  Vgl. seine Mißdeutung im Rokokobuch von 1963 (NA 1991)
39  Hans Sedlmayr: „Franz von Baaders Gedanken zur Kunst“; in: Festschrift Alois Dempf, S. 361–369
40 „Über Sous- und Surrealismus oder Breton und Plotin“; in: Der Tod des Lichtes, S. 40–63
41 „Über die Gefahren der modernen Kunst“; in: H. W. Sabais (Hrsg.): Die Herausforderung. Darmstädter Gespräche. München 1963. S. 9–49; S. 20
42  Abgedruckt in: Evers. Das Menschenbild; S. 215 f.
43  Erstmals in „Das erste mittelalterliche Architektursystem“ (1933); abgedruckt in: EuW I, S. 80–139
44  Für die Festschrift Wilhelm Pinder. Leipzig 1938
45  Ebenda: „Vermutungen und Fragen zur Bestimmung der altfranzösischen Kunst“; wiederabgedruckt in: EuW II, S. 322–341

 

 
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