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Abstoßende Lügen

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Es ist die übelste Geschichte, die ich gehört habe: Am Palmsonntag 1945, kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, habe Gräfin Margit Batthyány im burgenländischen Rechnitz ein Fest veranstaltet, bei dem die Gäste – als Mitternachtseinlage – 180 jüdische Zwangsarbeiter erschossen hätten. So schildert dies zumindest Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Stück „Der Würge­engel“, das bei den Wiener Festwochen 2010 uraufgeführt wurde und nun – in gekürzter Fassung – wieder in der „Josefstadt“ inszeniert wird. Jelinek beschreibt, wie die Gräfin selbst die Waffen austeilt und Menschen erschießt: „[…] den Fuß stemmt sie in seine Rippen, das darf sie, schließlich hat sie ihn ja auch geschossen […]“. Kein Wort ist wahr. Es hat zwar tatsächlich am 24. März 1945 auf Schloß Rechnitz ein Fest gegeben, allerdings nur in einem Wirtschaftsgebäude des von der SS beschlagnahmten Schlosses, an dem Gräfin Batthyány selbst nicht teilgenommen hat. Und selbst der linke Historiker Walter Manoschek stellt fest, daß Franz Podezin, der damalige Ortsgruppenführer der NSDAP, in dieser Nacht einen Anruf bekam, mittels dessen er den Befehl erhielt, die am Bahnhof befindlichen arbeitsunfähigen Juden zu erschießen. Podezin soll daraufhin zehn bis 13 Teilnehmer des NS-Gefolgschaftsfestes ausgewählt und mit Waffen ausgestattet haben, um das befohlene Massaker durchzuführen.

Doch das Massengrab der 180 ermordeten Juden wurde nie gefunden, obwohl die österreichischen Behörden in den Jahren 1966–1969, 1993, 2017, 2019 und 2021 intensive Suchaktionen durchführten und 20?% des zum Schloß gehörenden Grundes umgraben ließen. Podezin und der angeblich mitverantwortliche Gutsverwalter Oldenburg konnten nach dem Krieg mit Hilfe der Gräfin Batthyány fliehen, Podezin soll erst in den 1990er Jahren in Südafrika verstorben sein. Mehrere Prozesse nach 1945 haben keine weiteren Schuldigen finden können und niemanden wegen der Beteiligung an dem Massaker verurteilt. Daher ist als Faktum festzuhalten: Es gibt kein Massengrab, es gibt keine verurteilten Täter. Hat das Massaker überhaupt stattgefunden? Freilich wurden auf dem Grund des Schlosses die Überreste von acht unglücklichen jüdischen Zwangsarbeitern entdeckt, die offenbar erschossen worden waren.

Daß es einen Befehl zum Mord an den Unglücklichen gegeben hat, ist wohl unbestritten. Der Holocaustforscher Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands betonte schon 2007 im „Spiegel“, daß zu Kriegsende überall Marschunfähige umgebracht wurden. Garscha schrieb: „Es war unbestritten ein Massenmord, aber nicht aus einer Partylaune heraus.“ Nur der britische Sensationsjournalist David Lichtfield behauptete 2007, nachweislich lügenhaft, daß die Zwangsarbeiter als „Mit­ter­nachts­einlage“ von den Partygästen erschossen worden seien.

Dem hat sich Frau Jelinek angeschlossen. Ganz bewußt läßt sie in ihrem Stück Wahrheit und Dichtung verschwimmen. Wenn es den Mord an diesen Unglücklichen gegeben hat, ganz egal ob er 180 oder weniger Menschen betroffen hat, war es ohne Frage ein Verbrechen. Das muß festgehalten werden. Doch Frau Jelinek schlägt aus diesem Verbrechen Kapital. Dominik und Ladislaus Batthyány schrieben ihr 2010: „Warum haben wir das Gefühl, daß Ihr Stück genau das tut: Dem Leser oder Zuschauer die Wahrheit vom Leibe zu halten? Es macht uns nachdenklich, daß die Art und Weise, wie Sie hier ein geschichtliches Ereignis verarbeiten, Menschen, die sich ernsthaft mit diesem Massenmord auseinandersetzen möchten, womöglich auf eine falsche Fährte führen kann. […] Das Eintreten gegen Rassismus und für Menschenwürde hat doch auch zu tun mit dem Kampf gegen Mittel der Vereinfachung, der Vorurteile und der Klischeebilder. Sollten wir nicht bei Aufarbeitung der Geschichte ebensolche Mittel vermeiden? Das Verschwimmen von tatsächlichem Realitätsbezug, von Wahrheit und Dichtung ist ein gefährliches Spiel, das womöglich verführerisch eher zu mehr Nebel als zu mehr Klarheit führt. Ihr Stück macht gewiß auf etwas aufmerksam, es lenkt den Blick auf etwas Reales, Schreckliches. Das Wichtige aber – und die Fakten – verschwimmen vor den Augen. Das aber ist traurig und gefährlich.“

Frau Jelinek hat diesen offenen Brief unbeantwortet gelassen. Es reicht ihr, Kapital aus dem Blut der toten Juden zu schlagen.

 
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