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Die deutsche Kolonialherrschaft und der „Völkermord“ an den Herero

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Nach Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck wurden in Deutschland Straßen, Schulen und Kasernen benannt. Mit 245 deutschen Offizieren und Unteroffizieren und 4600 einheimischen, schwarzen „Askaris“ gelang es ihm, den um ein Vielfaches überlegenen englischen Truppen jahrelang die Stirn zu bieten und den Ersten Weltkrieg tief in die englischen Kolonialgebiete zu tragen, bis er zwei Wochen nach der deutschen Kapitulation von dieser erfuhr und die Waffen streckte. Als er mit seinen Offizieren und einer Reihe deutscher Zivilisten im Jahr 1919 nach Berlin zurückkehrte, wurden diese bei ihrem Einzug durch das Brandenburger Tor am 2. März als Helden gefeiert. Erst 1925 hatte Deutschland jedoch genug Geld, um den treu gebliebenen Askaris ihren ausständigen Sold auszahlen zu können. In Ostafrika beförderte dieses rechtskonforme Verhalten das Ansehen der Deutschen in immenser Weise. Heute aber werden die nach Lettow-Vorbeck benannten Straßen, Schulen und Kasernen umbenannt, die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, China und der Südsee gilt generell als dunkles Kapitel der Geschichte.

2019 wurde dem Kameruner Martin Dibobe von antikolonialen Aktivisten eine Gedenktafel vor dem ehemaligen Reichskolonialamt in Berlin errichtet, doch Martin Dibobe – der im deutschen Kaiserreich zum Zugführer erster Klasse wurde – war alles andere als ein ­antikolonialer Aktivist: Gemeinsam mit anderen Afrikanern schrieb er 1919 18 Briefe an die deutsche Regierung, um für den Erhalt der deutschen Kolonien in Afrika einzutreten.

In Kamerun flohen 6000 einheimische Soldaten, 12.000 andere Einheimische und ganze 117 Häuptlinge mit den Deutschen nach Spanisch-Guinea (das heutige Äquatorialguinea), die an den spanischen König ein Bittschreiben schickten, auch nach dem Krieg unter deutscher Herrschaft bleiben zu dürfen. 20.000 weitere Kameruner wurden von den spanischen Behörden an der Landesgrenze abgewiesen.

In Togo wurde nach der Übernahme durch die Briten der Bund der „Deutschen Togoländer“ ins Leben gerufen, der sich mit Petitionen an den Völkerbund wandte, um eine Rückkehr zur deutschen Kolonialherrschaft zu fordern. Die Behauptung der Westmächte, Deutschland habe als Kolonialmacht versagt, ist schlicht und einfach nicht wahr. Die deutsche Hafenstadt Qingdao wuchs binnen 15 Jahren von 1500 auf 56.000 Einwohner, das gesamte deutsche Kolonialgebiet in China von 12.000 auf 200.000 Bewohner, weil die Chinesen bewußt in die deutsche Kolonie zuwanderten, da sie dort zumindest Rechtssicherheit fanden. Ähnliches kann man auch für die afrikanischen Kolonien konstatieren: Die einheimische Bevölkerung migrierte freiwillig zu den Kolonialzentren, bezahlte dort freiwillig ihre Steuern, erstattete Anzeigen bei den Kolonialbeamten, kämpfte in den Kolonialarmeen, arbeitete in der Kolonialverwaltung mit. Ohne die freiwillige Mitwirkung großer Teile der Kolonialvölker wäre der Kolonialismus unmöglich gewesen. In Ostafrika wurden fast acht Millionen Menschen von 280 deutschen und 50 eingeborenen Beamten regiert, 1913 standen 68 deutsche Offiziere und 134 deutsche und andere europäische Soldaten sowie 2472 einheimische Soldaten unter Waffen – jeder einzelne deutsche Soldat in Afrika war für 4000 Menschen verantwortlich, während auf einen französischen oder englischen Soldaten in Afrika 3600–3700 Menschen kamen – und ungefähr 180 deutsche Zivilisten auf einen Soldaten im Reich!

Die Erfolge sprachen für sich: Als der erste Präsident des modernen China, Sun Yat-sen, Qingdao besuchte, sagte er: „In 3000 Jahren hat China nicht geschafft, was die Deutschen in 15 Jahren geschafft haben!“, und bezüglich der Bildungsanstrengungen der deutschen Kolonialverwaltung in Ostafrika schrieben sogar die Briten in einem Bericht: „Die Deutschen haben Wunder vollbracht“.

Fakten wie diese hat der britische Historiker Bruce Gilley in seinem Buch „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“ (Manuscriptum Verlag, 2021) zusammengetragen. Unter Bezug auf den Historiker Hermann Hiery betont er sogar, daß die deutsche Verwaltung der Kolonien im Südpazifik nicht nur viel besser gewesen sei als die vorkoloniale Geschichte der Inseln, sondern auch besser im Vergleich zur britischen, französischen und holländischen Verwaltung, ganz zu schweigen von der Völkerbund-Verwaltung!

Den Kolonialhistorikern wirft Bruce Gilley die „völlige Abkehr von der geschichtlichen Realität“ vor und konstatiert, daß diese selbst den „Bau von Krankenhäusern und die Entsendung von Ärzten“ als „teuflischen Plan“ diskreditieren würden. „Fortschrittliche“ Anthropologen protestieren heutzutage sogar gegen die europäische Ausrottung des Kannibalismus in Afrika und Asien als Form der westlichen Unterdrückung.

Dieser Wahnsinn hat Methode: „Die radikalen Gutmenschen und Antikolonialisten werden nicht eher ruhen, bis Deutschland und die anderen Länder des postkolonialen Westens in Schutt und Asche gelegt sind. Deshalb ist die Diskussion um die europäische Kolonialzeit kein abstraktes, akademisches Gerede ohne Bezug auf die Gegenwart. Es handelt sich vielmehr um einen Angriff auf die Zukunft aller Länder des Westens, nicht nur Deutschlands […]“, schreibt Gilley und stellt die bittere Ironie der Tatsache fest, „dass den größten Antikolonialisten der Dritten Welt lieber ist, in den Ländern des Westens zu leben statt in ihren nun befreiten Heimatländern“. Robert Kochs Heilung der Schlafkrankheit allein würde, so Gilley, das deutsche Kolonialprojekt rechtfertigen!

Natürlich kam es immer wieder zu Aufständen gegen die deutsche Herrschaft, so zum Maji-Maji-Aufstand in Ostafrika, der im Zentrum des Interesses der Kolonialismuskritiker steht. Doch die angebliche „Popularität“ des Maji-Maji-Aufstands ist ein bloßer Mythos, den der kommunistische Diktator Tansanias, Julius Nyerere, ins Leben gerufen hat. In Wirklichkeit handelte es sich bei diesem Aufstand um eine Zusammenrottung von Kriegsherren und Sklavenhändlern, die ganz sicher niemanden „befreien“, sondern im Gegenteil die Sklaverei wiedereinführen wollten. Aus diesem Grund waren die Maji-Maji auch bei den meisten Stämmen Tansanias verhaßt und keineswegs als Freiheitshelden angesehen.

Die Niederschlagung dieses Aufstands von 1905–1907 durch die deutschen Kolonialherren war nach Gilley nicht bloß gerechtfertigt, sondern in ihren Mitteln auch angemessen. Genau dies bestreitet Gilley aber hinsichtlich der Niederschlagung des Aufstands der Herero, wo durch Lothar von Trotha Mittel zur Anwendung gebracht wurden, die eben nicht mehr der Bedrohungslage angemessen waren.

Dabei hatte die Frühphase der deutschen Kolonie zu einer objektiven Verbesserung der Lebensumstände der Herero und Nama geführt. Vor dem Eintreffen der Deutschen hatten diese einen gegenseitigen Ausrottungsfeldzug geführt, in dessen Rahmen etwa am 23. August 1850 die Nama ein Fünftel aller Herero töteten. Dieser Konflikt wurde von den neuen deutschen Herren rasch unterbunden und ebenso die 1896 ausgebrochene Rinderpest, die die Hälfte der Kühe der Herero dahinraffte, durch die entschiedenen Maßnahmen der Kolonialverwaltung rasch unter Kontrolle gebracht. Ohne diese wäre ein Großteil der Herero aufgrund der Rinderpest sicher verhungert, wie Bruce Gilley betont. Dann jedoch beging die deutsche Regierung einen fatalen Fehler und hob die Besiedelungsbegrenzung Südwestafrikas auf, wodurch zahlreiche Deutsche in das Land strömten und sich die Lebensbedingungen der Herero und Nama verschlechterten. Als der Aufstand losbrach, beging die Reichsregierung einen weiteren Fehler und sandte Lothar von Trotha, der bereits bei der Niederschlagung des Boxeraufstands in China Erfahrung gesammelt hatte und als dementsprechend „hart“ galt, nach Südwestafrika. Dieser befahl den Herero, die Kolonie in Richtung des benachbarten britischen Betschuanalandes (des heutigen Botswana) zu verlassen, dessen Herrscher ihnen die Niederlassung erlaubt hatte. Drei Viertel der Herero starben auf dem Marsch durch die wasserlose Region Omaheke. Von 80.000 Herero in Deutsch-Südwestafrika überlebten gerade 20.000. Auch die ebenfalls aufständischen Nama wurden von 20.000 auf 10.000 dezimiert. Berlin reagierte sofort: Trotha wurde abberufen und seine Politik beendet. Sein Handeln war weder offiziell genehmigt, noch zielte es auf einen Völkermord, was Bruce Gilley unter Berufung auf die Dozentin Susanne Kuss deutlich macht.

Nur mehr Spott hat Gilley für die Behauptung übrig, Trotha wäre „nach heutigen Kriterien ein Kriegsverbrecher“. Keine Frage, doch „nach heutigen Kriterien“ wären fast alle afrikanischen Herrscher vor und unmittelbar nach der Kolonialzeit Kriegsverbrecher. Dennoch hat der deutsche Außenminister Heiko Maas nun aber nach jahrelangen Verhandlungen mit der namibischen Regierung erklärt, daß die zur Kolonialzeit verübten deutschen „Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden“.

Rechtliche Folgen soll diese Erklärung aber nicht haben, die 1,1 Milliarden Euro Aufbauhilfe, die Deutschland Namibia für die nächsten 30 Jahre (!) zugesichert hat, sollen gerade nicht unter dem Titel „Entschädigungszahlungen“ geführt werden. Hier setzt jedoch die Kritik der Vertreter der Herero und der Nama an: Namibias Regierung wird ausschließlich vom bevölkerungsreichsten Stamm der Ovambo gestellt, die wiederum geschworene Feinde der Herero und Nama sind. Die Sorge ist begründet, daß die deutschen Hilfsgelder nie in den von diesen Stämmen bewohnten Territorien ankommen könnten.

Gerade die Herero waren überdies nie antideutsch. Ihr Führer Samuel Maharero, dem aufgrund des Aufstands die Rückkehr in die deutsche Kolonie zu Lebzeiten verwehrt wurde, ließ sich nach seinem Tod 1923 im südwestafrikanischen Okahandja in deutscher Uniform im Rahmen eines von den Herero durchgeführten deutschen Militärbegräbnisses bestatten und zeigte sich dadurch als deutscher Reichsbürger. Sein Nachfolger wurde Hosea Kutako, der von 1925 bis zu seinem Tod 1970 Führer der in Namibia lebenden Herero war. Auch dieser wurde in Okahandja von den Herero im Rahmen einer deutschen Militärzeremonie begraben, ebenso wie sein Nachfolger Clemens Kapuuo, der 1978 von der (Ovambo-dominierten) SWAPO ermordet wurde. Hosea Kutako, nach dem auch der Flughafen in Namibias Hauptstadt Windhuk benannt ist, und Clemens Kapuuo bewahrten enge, ja freundschaftliche Verbindungen zu den 30.000 in Namibia lebenden Deutschen. Sogar das jährliche Gedenken an die Schlacht am Waterberg, die so schreckliche Folgen für die Herero in Namibia gehabt hatte, wurde von diesen bis 1987 gemeinsam mit den Deutschen begangen.

Erst nach Clemens Kapuuos Tod und inspiriert durch vergleichbare Forderungen anderer afrikanischer Völker gegen ihre ehemaligen Kolonialherren entdeckten Politiker wie der 2014 verstorbene Herero-Führer Kuaima Riruako die lukrative Möglichkeit, Entschädigungszahlungen für die mehr als ein Jahrhundert zurückliegenden Ereignisse zu fordern, und 2003 verbot Namibias kommunistischer Präsident Sam Nujomas selbst das Waterberg-Gedenken. Maas’ Einigung mit der namibischen Regierung wird daher sicher nicht den Schlußstrich darstellen und nur neue, berechtigte und unberechtigte Forderungen und Ansprüche inspirieren. Die Gesamtbewertung des deutschen Kolonialismus sollte jedoch, schreibt Bruce Gilley, genausowenig Geisel der Herero und Nama sein, „wie der britische Kolonialismus in Indien nur anhand der tragischen und kriminellen Handlungen eines einzigen britischen Offiziers bewertet werden sollte, der seinen Truppen 1919 befohlen hat, auf Demonstranten […] das Feuer zu eröffnen und 400 zu töten. Dieser Offizier wurde ähnlich wie von Trotha gerügt, abberufen, bestraft und sogar ermordet. Die Tragödie der Herero und Nama war aber weder systembedingt noch unvermeidbares Ergebnis der deutschen Kolonialpolitik“.

 
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