Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker
Der Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung und der Heldenmut ihrer Soldaten sind unbestritten. Doch nur die riesige Unterstützung durch Europa und die USA hat dem Land die Mittel gegeben, dem russischen Angriff nicht nur lange standzuhalten, sondern die Invasionstruppen sogar zurückzudrängen. Nun aber scheint diese Unterstützung durch die Politik Kiews mehr und mehr gefährdet.
Im November berichteten US-Medien, hochrangige Vertreter der eigenen Regierung würden die Ukraine zunehmend drängen, Verhandlungen mit Rußland einzugehen, was von Kiew prompt zurückgewiesen wurde. Doch warum hat die US-Regierung diese Informationen überhaupt an die Medien gespielt? Offenbar nur, weil diplomatischer Druck nicht gefruchtet hat.
Washington ist insbesondere besorgt, daß die EU-Staaten Kiew bald nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß unterstützen könnten. Schon jetzt haben viele EU-Staaten so viel Munition und Waffen in die Ukraine geschickt, daß ihre eigene Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist. Deutschland hat, wie „Die Presse“ am 6. Dezember 2022 berichtete, im Ernstfall nur noch Munition für „2 Tage“. Deutschland wollte auch den ausgemusterten Flugabwehrpanzer „Gepard“ in die Ukraine liefern, dessen Munition jedoch in der Schweiz hergestellt wird. Und die dortigen Gesetze lassen nicht zu, Kriegsgerät für den Export freizugeben, wenn es bei kriegführenden Parteien landet.
Am 24. November berichtete die wichtige Washingtoner Tageszeitung „Politico“, daß die EU den USA sogar vorwerfe, vom Krieg zu profitieren. „Tatsache ist, wenn man es nüchtern betrachtet, daß die USA das Land sind, das am meisten von diesem Krieg profitiert, weil sie mehr Gas zu höheren Preisen verkaufen und weil sie mehr Waffen verkaufen“, zitiert „Politico“ einen hochrangigen Repräsentanten der EU. Immerhin zahlt Europa für das amerikanische Gas viermal mehr, als der gleiche Brennstoff in Amerika kostet.
Vor diesem Hintergrund muß man auch den Sprengstoffanschlag auf die „Nord-Stream“-Pipelines im September 2022 sehen, für den in unseren Medien Rußland verantwortlich gemacht wurde. Doch warum sollte sich Rußland derartig ins eigene Fleisch schneiden und sich sowohl einer sprudelnden Einnahmequelle begeben wie auch der Möglichkeit, durch Drosselung der Gaslieferungen Druck auf die EU auszuüben?
Die öffentliche Meinung in vielen EU-Ländern ändert sich. Insbesondere französische Politiker monieren nach dem Bericht von „Politico“, daß die USA den Krieg in der Ukraine zu einer entscheidenden Schwächung der europäischen Industrie benutzten. Europa ist in ihren Augen kein Verbündeter der USA, sondern nur ein Vasall.
Die britische Zeitung „The Economist“ prognostizierte am 26. November sogar 75.000 bis 185.000 zusätzliche Kältetote in Europa in diesem Winter aufgrund der Energiekrise. In Ungarn, das nach wie vor auf langfristige Lieferverträge für russisches Gas setzt, sind die Strompreise sogar leicht gesunken. In den anderen Ländern der EU, allen voran in Italien, aber auch in Großbritannien haben sie sich vervielfacht. Wie viele zusätzliche Kältetote es in der EU in diesem Winter geben wird, hängt zum größten Teil von der Witterung ab. Geht man, so „The Economist“, von einem besonders milden Winter aus, muß Europa „nur“ mit 79.000 zusätzlichen Toten rechnen; wird der Winter hingegen besonders kalt, kann die Zahl auf 185.000 Tote steigen.
Doch nicht nur Europa wird seine Hilfe für die Ukraine in den nächsten Monaten drastisch reduzieren, auch der Biden-Regierung sind durch die seit den Midterm-Wahlen geänderten Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus zunehmend die Hände gebunden, zumal die Republikaner bereits ankündigten, weitere Hilfsprogramme für die Ukraine zu blockieren.
Abgesehen von den internen Problemen der westlichen Allianz ist es aber auch die Politik von Kiew selbst, die seine Unterstützer zunehmend verprellt.
Als das Nobelpreiskomitee den Friedenspreis nicht nur einer ukrainischen, sondern auch einer russischen Menschenrechtsorganisation zuerkannte, kritisierte dies der Berater des ukrainischen Präsidenten, Mykhailo Podolyak, als „interesting understanding of the word peace“. Einmal mehr hat Kiew damit deutlich gemacht, daß es in allen Russen den Feind sieht, ganz unabhängig von der politischen Haltung. Nicht einmal Russen, die unter großen persönlichen Risiken gegen den Krieg auftreten, verdienen nach dem Verständnis Kiews den Friedensnobelpreis.
Auch der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat Kiew die Akkreditierung entzogen, weil Amnesty dem ukrainischen Militär vorwarf, bei der Verteidigung von Städten gegen russische Angriffe nicht ausreichend auf den Schutz der Zivilbevölkerung zu achten. Amnesty hatte dokumentiert, daß in verschiedenen von der Organisation besuchten Städten und Dörfern ukrainische Streitkräfte in unmittelbarer Nähe der Zivilbevölkerung stationiert waren und diese damit potentiell durch russischen Beschuß gefährdet haben. Amnesty stellte fest, daß dieses dokumentierte Verhalten in keiner Weise die russischen Angriffe und schon gar nicht russische Kriegsverbrechen rechtfertige. Dennoch hat die Menschenrechtsorganisation die ukrainische Regierung schriftlich über ihre Erkenntnisse informiert, wonach die Streitkräfte des Landes in unmittelbarer Nähe von Wohnhäusern, Schulen und Krankhäusern stationiert wurden.
In den ersten Monaten des Krieges fielen Berichte über ukrainische Kriegsverbrechen generell der Zensur zum Opfer. So berichtete „Die Presse“ am 8. Oktober unter Bezug auf die amerikanische Nachrichtenagentur Reuters, daß ukrainische Streitkräfte einen Konvoi ukrainischer Zivilfahrzeugen im Süden des Landes beschossen und zahlreiche Menschen getötet hätten. Kurze Zeit später war diese Meldung vom Portal der „Presse“ ebenso verschwunden wie von den Internetseiten anderer Zeitungen, die sie gebracht hatten. Bemerkenswerterweise wurde die Meldung nicht als „falsch“ widerrufen, sondern einfach gelöscht.
Doch in der zweiten Novemberhälfte berichtete die UNO selbst, daß nicht nur Rußland, sondern auch die Ukraine Kriegsgefangene foltere und ermorde. Entsprechende Videos, die in sozialen Medien aufgetaucht waren, hat die UNO als „mit hoher Wahrscheinlichkeit authentisch“ bezeichnet. Erstmals wurden auch von westlichen Medien in diesem Zusammenhang russische Quellen ohne Einschränkung zitiert. Selenskyj hat zu diesen Vorwürfen nicht Stellung genommen.
Die Aktionen des ukrainischen Geheimdienstes stoßen in letzter Zeit sogar in den USA auf Kritik. So wurden den Medien Informationen zugespielt, wonach US-Geheimdienste davon ausgehen, daß die ukrainische Regierung den Mordanschlag auf die russische Publizistin Daria Dugina in Moskau genehmigt hat. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba fiel (wie der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig) sogar auf einen Anruf kremlnaher Journalisten herein und bekannte freimütig, daß seine Regierung hinter Bombenanschlägen auf der Krim und im russischen Hinterland stecke. Die USA zeigen sich über derlei Aktivitäten der Ukraine „not amused“, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates John Kirby warnte daher die Ukraine vor Alleingängen und brachte die Besorgnis der USA über eine Eskalation „konsequent zum Ausdruck“.
Der Beschuß des Atomkraftwerks Saporischschja war auch Thema für den ORF. Armin Wolf befragte in der „ZiB 2“ den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba, warum denn Rußland selbst seine eigenen Soldaten bei dem von ihm kontrollierten Atomkraftwerk beschießen solle, wie es Kiew darstellt. Kuleba reagierte im Interview zunehmend aggressiv, insbesondere, als Wolf fragte, ob die Ukraine wirklich glaube, die Krim zurückerobern zu können.
Die Frage der Zugehörigkeit der Krim, die jahrhundertelang Teil Rußlands war und nur für wenige Jahrzehnte innerhalb der Sowjetunion von Chruschtschow der Ukraine zugeschlagen wurde, wird nun zunehmend zum Konfliktfall zwischen der Ukraine und den westlichen Unterstützern. Es ist auf der einen Seite natürlich verständlich, daß die Ukraine einen Kompromißfrieden ablehnt, der Rußland nur eine Atempause verschafft, bis es sich wieder in der Lage sieht, sein kleineres Nachbarland anzugreifen. Auf der anderen Seite ist die Krim eben tatsächlich alles andere als „ukrainisches Territorium“, und die Bevölkerung dürfte mit überwiegender Mehrheit prorussisch eingestellt sein.
Das weiß auch Elon Musk, der einen Friedensplan vorgeschlagen hat, wonach die Krim russisch bleiben und ihre Wasserversorgung von Kiew garantiert werden solle. In den vier vom Kreml beanspruchten (bzw. „annektierten“) Gebieten Cherson, Luhansk, Donezk und Saporischschja sollten unter Aufsicht der Vereinigten Nationen Volksabstimmungen stattfinden, die den Willen der Einwohner feststellen; die Ukraine selbst solle neutral werden. Ein Friedensplan, der in ähnlicher Form auch schon in unserer Zeitschrift abgedruckt wurde und den viele Politiker und Publizisten im Westen unterstützen könnten. Mykhailo Podolyak konterte auf Twitter allerdings, daß es einen „besseren Vorschlag“ gebe, wonach die Ukraine ihr Territorium einschließlich der „annektierten Krim“ komplett befreie und Rußland nach seiner Niederlage (wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg) komplett demilitarisiert werde. Kiews Botschafter in Deutschland, Andriy Melnyk, reagierte auf Elon Musks Plan in der ihm eigenen diplomatischen Sprechweise: „F... off is my very diplomatic reply to you. The only outcome is that now no Ukrainian will ever buy your f…ing tesla crap.“
Elon Musk hat jedoch der Ukraine seine SpaceX-Starlink-Satelliten kostenfrei zur Verfügung gestellt und damit dem Land ganz entscheidend bei der Verteidigung gegen Rußlands Angriff geholfen. Nicht umsonst wird Starlink als „Kiews wichtigste Waffe im Krieg“ bezeichnet, ohne dessen Unterstützung wäre der Krieg für die Ukraine rasch verloren gewesen. Mehr als 100 Millionen Dollar hat Musk bisher aus eigener Tasche für die Unterstützung der Ukraine gezahlt und muß sich nun Verhöhnung und Beschimpfung gefallen lassen, weil er die Politik Kiews nicht zu 100 Prozent unterstützt.
Nur wer sich den Vorgaben Selenskyjs bedingungslos unterordnet, darf überhaupt in der Ukraine arbeiten. Mehreren westlichen Journalisten, unter anderem von CNN und Sky News, wurde wegen nicht genehmigter Berichterstattung aus dem Gebiet Cherson nach dessen Wiedereroberung durch Kiew die Akkreditierung entzogen.
All diese Dinge wirken aber wie Petitessen gegenüber zwei Aktionen Selenskyjs, die tatsächlich die westliche Unterstützung zum Erliegen bringen könnten.
Am 7. November hat der ukrainische Präsident einen „Präventivschlag“ der NATO gegen Rußland gefordert. Nachträgliche Erklärungen, daß damit nur weitere Sanktionen gemeint gewesen seien, überzeugen nicht. Selenskyj, dem die bis dato sechs Sanktionspakete gegen Rußland wohlbekannt waren, muß von einem Atomangriff der NATO gesprochen haben, wie nicht zuletzt der russische Außenminister Sergei Lawrow feststellte.
Und am 15. November tötete eine angeblich fehlgesteuerte ukrainische Abwehrrakete in Polen zwei Zivilisten. Selenskyj behauptete, daß es sich dabei um eine russische Rakete gehandelt haben müsse, und hielt an dieser Behauptung auch fest, als die NATO nach der Untersuchung des Vorfalls klarmachte, daß es sich um eine ukrainische Rakete gehandelt habe. Die wichtigste Tageszeitung Deutschlands, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, titelte daher am 19. November 2022 „Kiew will die NATO in den Krieg ziehen“. Die einzig mögliche „freundlichere“ Erklärung ist, daß Selenskyj auch in der Vergangenheit mehrfach wissentlich Rußland für Todesopfer verantwortlich machte, die in Wahrheit auf fehlgeleitete ukrainische Raketen zurückzuführen waren. Das rechtfertigt den Angriff des großen Nachbarn nicht, und es delegitimiert auch nicht die Verteidigungsbemühungen der Ukraine. Aber es differenziert das Bild. Ob man davon ausgeht, daß Selenskyj des öfteren wissentlich die Unwahrheit gesagt hat, oder ob man, wie die „FAZ“, annimmt, daß es sich um eine gezielte Aktion der Kiewer Regierung (und mitnichten um eine „fehlgeleitete“ Rakete) handelte, ist in der Folge einerlei. Der Westen hat begonnen, Selenskyj zu mißtrauen. Wenn nun sogar der SPD-Fraktionschef verkündet, daß ihn die ukrainische Regierung auf eine Terrorliste gesetzt habe, weil er sich für einen Waffenstillstand einsetze, verstärkt das nur den Eindruck, den die EU von der ukrainischen Regierung in zunehmendem Maße gewinnt.
Die westliche Unterstützung der Ukraine wird aus allen diesen Gründen in den nächsten Monaten zurückgehen. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob die Schwächung der russischen Wirtschaft und der russischen Kampfkraft durch die westlichen Sanktionen nicht noch rascher Wirkung zeigen wird. Schon jetzt muß Putin im Iran und in Nordkorea Waffen einkaufen und Flugabwehrraketen als Boden-Boden-Waffen einsetzen. Wie immer der Krieg ausgeht, Rußland und Europa haben ihn schon jetzt verloren.