Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker
Wir Europäer haben gelernt, zwischen dem Ius ad bellum, dem Recht, einen Krieg zu führen, und dem Ius in bello, dem rechtlichen Verhalten in einem Krieg, mag er gerechtfertigt sein oder nicht, zu unterschieden.
Rußland hat bei seinem Angriff auf die Ukraine immer betont, ein solches Ius ad bellum zu haben, und auch hierzulande wurde immer wieder auf die starke US-Infiltration der Ukraine hingewiesen, auf die Gefahr, die ein NATO-Beitritt der Ukraine und damit womöglich amerikanische Atomraketen wenige Hundert Kilometer vor Moskau für Rußland bedeuteten. Doch hat Rainer Thesen in seinem Buch „Tatort Ukraine“ klargemacht, daß es ein echtes Ius ad bellum für Rußland trotzdem nicht gab (vgl. Rezension in „Abendland“ IV/2022). Unabhängig davon haben amerikanische Publizisten mehrfach darauf hingewiesen, daß sicherheitspolitische Entscheidungen wie Aufrüstung oder Bündnisbeitritt immer auch die Sicherheitsinteressen der Nachbarn berühren. Es ist zwar richtig, zu sagen: „Wir sind eine Demokratie, unser Volk entscheidet selbst, ob es der NATO beitreten will, und das geht keinen Nachbarn etwas an!“, aber es ist auch unrealistisch und steht daher im Widerspruch zur Politik als „Kunst des Möglichen“. Außerdem würden mögliche Atomraketen in der Ukraine die Reaktionszeit in Moskau auf einen vermeintlichen westlichen Angriff von einigen Stunden auf wenige Minuten verkürzen, was das Erkennen eines Irrtums unmöglich machte. Die Welt stand in den letzten Jahrzehnten aber mindestens zweimal wegen eines solchen Irrtums knapp vor dem Atomkrieg, der jeweils buchstäblich erst in der letzten Minute abgewendet werden konnte. NATO-Atomraketen in der Ukraine können daher auch nicht im Interesse der Europäischen Union sein.
Außerdem hat sich die Ukraine bei der Abgabe ihrer Atomwaffen an Rußland zur Neutralität verpflichtet, worauf im Gegenzug Rußland ihre territoriale Integrität zusicherte. Als die Ukraine den angestrebten NATO-Beitritt in ihrer Verfassung festschrieb, verließ sie den Pfad dieser zugesicherten Neutralität. Trotzdem gibt es fast keine westlichen und ganz sicher keine ukrainischen Rechtsgelehrten, die Moskau ein Ius ad bellum zugestehen.
Wie dem auch sei: Das Ius in bello bleibt davon unberührt, und das betrifft sowohl das Verhalten der Soldaten einer Invasionsarmee gegenüber ihren Gegnern und der Zivilbevölkerung wie vice versa das Verhalten dieser gegen jene. Schon mit der Herausbildung des Kriegsrechts im 18. und 19. Jahrhundert, spätestens aber mit der Haager Landkriegsordnung von 1907 ist dieser Grundsatz in den westeuropäischen Ländern und deren Bevölkerungen tief verankert. Nicht so im Osten. Die Greueltaten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung, insbesondere gegenüber den Frauen, beim siegreichen Vorrücken in Deutschland (und Österreich), aber auch die entsetzlichen Mißhandlungen gefangener deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkriegs haben mich immer erschaudern lassen. Meine russischen Freunde haben bei diesen Geschichten stets die Schultern gezuckt: Ja, schon schlimm; ja, nicht in Ordnung; aber ich sollte nicht vergessen, wer wen angegriffen und wer sich nur verteidigt hat. Jetzt höre ich das Gleiche von meinen ukrainischen Freunden: Die Russen haben uns angegriffen, wir sind im Recht und müssen uns an keine Regeln halten. Wir können russische Kriegsgefangene und ukrainische Verräter nach Belieben töten, who cares, sie haben angefangen. Nein, schreit da der Europäer: Man muß immer noch zwischen dem Ius ad bellum und dem Ius in bello unterscheiden. Auch wenn ein Krieg noch so ungerechtfertigt ist, der einzelne Soldat trägt keine Schuld daran, er darf nicht gefoltert und nicht getötet werden, auch wenn er in der Armee eines Lands dient, das einen ungerechtfertigten Angriffskrieg führt.
Leider gehen meine ukrainischen Freunde sogar noch einen Schritt weiter: Rußland ist der Feind, nicht nur das Regime Putins. Sie lehnen leidenschaftlich und haßerfüllt alles Russische ab, Ukrainer in Deutschland und Österreich fordern eine Cancel culture gegen die russische Kultur schlechthin, gegen Puschkin und Tolstoi, gegen Rachmaninow und Tschaikowsky. Das russische Volk ist ihr Feind, selbst diejenigen, die ihre Leben riskieren, um gegen den Krieg zu protestieren, sind nicht ihre Freunde. Als 2022 nicht nur eine ukrainische, sondern auch die russische Antikriegsorganisation „Memorial“ mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, waren aus der Ukraine nur Proteste zu vernehmen.
Als nun am 20. März weit mehr als 100 Moskauer bei einem Anschlag radikaler Islamisten starben, meinten meine ukrainischen Freunde nur kaltherzig, sie würden sich über die russischen Toten freuen, müßten sie nicht die Befürchtung hegen, daß der Anschlag nur eine Inszenierung des Regimes Putins sei, weil er wenige Tage nach den russischen Wahlen erfolgte und dem Kremlherrn Gelegenheit zur weiteren Eskalation bot. Ich bin, ehrlich gesagt, innerlich erstarrt bei solchen Aussagen. Natürlich kann ich nicht nach einem mehr als zwei Jahre währenden Angriffskrieg des weit größeren Nachbarn den Ukrainern ihre Gefühle vorschreiben. Nur: „Europäisch“ ist so ein Haß keinesfalls. Er mag verständlich sein, wenn man selbst Angehörige in diesem Krieg verloren hat, er mag auch verständlich sein, wenn man kein Opfer persönlich gekannt hat, aber Menschen aus der eigenen Gegend, der eigenen Siedlung, der eigenen Straße gestorben sind. Was viele Ukrainer verständlicherweise am meisten aufbringt, ist die in Europa mittlerweile weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern in der ukrainischen Zivilbevölkerung. In der Nacht auf den 9. Februar 2024 verbrannte bei einem russischen Drohnenangriff auf ein Treibstofflager in Charkow eine fünfköpfige Familie in ihrem Haus bei lebendigem Leib. Die drei Kinder im Alter von wenigen Monaten, vier und sieben Jahren wurden in den Armen ihrer Eltern, die sie noch zu schützen versucht hatten, gefunden. Im westlichen Europa wurde diese Nachricht ignoriert oder mit Schulterzucken hingenommen: Es ist halt Krieg, was regen sich die Ukrainer so auf? Über die Moskauer Terrortoten spricht aber die ganze Welt, ist entsetzt über die getöteten Kinder. Diese sind natürlich unschuldig, die toten ukrainischen Kinder, die bei uns auf kein gesteigertes Interesse mehr stoßen, sind es allerdings auch. Und zwar in gleicher Weise.
Doch schon die Schriftstellerin Margarete Boie (1880–1946) schrieb in ihrem Roman „Moiken Peter Ohm“ 1926 davon, „daß die Teilnahme der Glücklicheren abnimmt, je länger die Unglücklichen vom Schicksal gedrückt werden“. Dabei bezog sie sich auf die Zustände im Sylter Dorf Rantum, das Ende des 18. Jahrhunderts von einer schweren Sturmflut heimgesucht worden war, und die schwindende Hilfsbereitschaft in Keitum und anderen umliegenden Sylter Dörfern. Doch es ist ganz allgemein so. Der Satz hebt eine menschliche Konstante hervor, die leider auch in bezug auf die Ukraine ihre Gültigkeit hat.
Während nun Privatleute im persönlichen Gespräch „aus ihren Herzen keine Mördergrube machen“ müssen, jedes Recht haben, ihrer Verzweiflung und Trauer Ausdruck zu geben, ist dies bei Politikern und Diplomaten nicht der Fall. Sie müssen ihre Worte auf die Goldwaage legen. Wenn auch sie nur haßerfüllt vom großen Nachbarn sprechen, wie dies die ukrainischen Politiker und Diplomaten fast durch die Bank tun, verspielen sie Sympathie, Verständnis und schließlich auch Unterstützung für ihr Land. Selenskyj betont immer wieder, daß die Ukraine ihren Krieg auch für die „europäischen Werte“ führe, und erkennt nicht, wie oft er und seine Entourage durch ihr Auftreten das gerade Gegenteil beweisen.
Ich will damit nicht sagen, daß die Russen besser wären. Im Gegenteil: Ihnen wurden immer wieder Kriegsverbrechen in der Ukraine vorgeworfen, und es hat keinen einzigen Kriegsverbrecherprozeß in Rußland gegeben. Das ist unglaubwürdig, denn in jeder Gesellschaft neigt ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung zum Verbrechen. In Kriegen steigt dieser Prozentsatz sogar, weil Menschen, die grundsätzlich auf Raub, Mord, Vergewaltigung oder Ähnliches aus sind, Gelegenheiten erkennen, ihrem Trieb ungestraft nachzugehen. Will ein Land die Zivilbevölkerung eines angegriffenen Gebiets wirklich schützen, muß es die dort ganz logischerweise begangenen Verbrechen genauso verfolgen und sühnen wie die Verbrechen von Kriminellen im eigenen Land. Die deutsche Wehrmachtgerichtsbarkeit bietet ein gutes Beispiel dafür. Freilich kann solches Handeln Verbrechen nicht gänzlich verhindern, aber es kann deutlich machen, ob Verbrechen in einer bestimmten Konstellation streng verfolgt werden – oder vielmehr ungesühnt bleiben. Letzteres war und ist ganz offensichtlich bei Vergehen russischer Soldaten in der Ukraine der Fall. Auch wenn Mord, Folter und Vergewaltigung dort vorgekommen sein müssen – und ungesühnt blieben –, zahlenmäßig bedeutsamer sind in jedem Fall Diebstahl und Raub. Es gibt Beweise dafür, daß russische Frauen ihren Männern und Söhnen schrieben, welche Kühlschränke und sonstige Elektrogeräte sie als Beute aus dem Krieg mitzubringen hätten; es gibt sogar Hinweise darauf, daß die sich im Herbst 2022 überstürzt aus der Ostukraine zurückziehenden russischen Truppen die eigenen toten Soldaten zurückließen, um genügend Beutegut mitführen zu können. Es existiert keine Aussage Putins oder anderer russischer Politiker, wonach Rußland nicht der Feind des ukrainischen Volks sei und Rußland die ukrainische Identität und Kultur respektiere. Es gibt nur Aussagen führender russischer Journalisten, daß alle ukrainischen Kinder in Brunnen ertränkt werden sollten, weil ihre Eltern antirussisch seien; es gibt nur Aussagen russischer Politiker, daß es keine eigenständige ukrainische Identität gebe und die Ukraine als solche von der Landkarte verschwinden müsse.
Auch von russischer Seite ist ein Haß, eine Verachtung gegenüber den Ukrainern und allem Ukrainischen feststellbar, was dem Haß der Ukrainer gegenüber allem Russischen entspricht. Wie da ein Friede zwischen diesen beiden Völkern, die doch Brüdervölker sind, gefunden werden soll, ist kaum mehr vorstellbar. Die Russen unterscheiden jedenfalls nicht zwischen dem Ius ad bellum und dem Ius in bello. Die Ukrainer leider ebensowenig. Europäisch ist das nicht, und in diesem östlichen Haß der Ukrainer auf ihre „Feinde“ – und gerade nicht „Gegner“ – liegt auch ein wichtiger Grund, warum die Ukraine weniger und weniger Unterstützung aus dem westlichen Europa und den USA bekommen und schließlich den Krieg verlieren wird.