Nicht nur die Turnbewegung hat „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) ins Leben gerufen, auch einen Sprachverein hat er gegründet, und selbst die burschenschaftliche Bewegung wurde von ihm maßgeblich beeinflußt. Jahns ganzheitliche Sicht kommt in historischen, sprachlichen Bezügen immer wieder zum Ausdruck und verbindet die drei Bewegungen zwingend miteinander.
Der Turnbewegung war seine lebenslange Arbeit gewidmet. Sein Werk „Die Deutsche Turnkunst“ (1816) enthält eine völlig fremdwortfreie, auch heute noch verwendete Fachsprache für die Turnübungen.
Die lederne Marke – heute würden wir Mitgliedausweis sagen – als Kennzeichen der Mitgliedschaft in der Turngemeinschaft schuf Jahn ab 1811 für die Turner des ersten Turnplatzes der Welt auf der Hasenheide bei (heute in) Berlin:
„Die lederne Marke habe ich darum gewählt, weil die Sache auf Leder geht, und die Zahlen [9, 919, 1519] geben die Zeiträume der deutschen Turnkunst an
1. von Hermann bis auf Heinrich den Städtebauer,
2. von Heinrich bis auf Maximilian I. Tod,
3. bis auf unsere Zeit.“
„Die deutsche Turnkunst“ mit der „Erfindung“ der Turngeräte, wie Reck, Barren und Pferd, die Einrichtung des ersten Turnplatzes der Welt auf der Hasenheide bei Berlin 1811 sowie das staatspolitische Werk „Deutsches Volkstum“ enthalten unvergänglich auch heute noch gültige Werte und Maßstäbe. Dessen ist sich die Turnbewegung trotz zeitgeistiger Abweichungen im Kern bewußt.3, 6
Auch die Burschenschaften beeinflußten Jahn mit der revolutionären Schrift „Ordnung und Einrichtung der deutschen Burschenschaft“ (1810), in der er über die landsmannschaftlichen Grenzen und Händel hinweg zur Einheit aufrief.
Letztlich sind es die Sprachvereine, denen er als Sprachgelehrter, Spracherzieher und Sprachschöpfer neue und wesentliche Anstöße gab, die bis heute wirken. Jahn war mit bekannten Gelehrten wie Ludwig Uhland auch an der Gründung der „Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache“ (1815) beteiligt.
Jahre als Wortschöpfer und Sprachreiniger
Seine Habilitationsschrift lautete „Bereicherung des hochdeutschen Sprachschatzes“ (1806).1 Als Jahn anläßlich des Wiener Kongresses im März 1815 in Wien weilte, wollte er hier einen Zweigverein der eben in Berlin gegründeten „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ gründen.
Seine sprachlichen Neuschöpfungen, wie „turnen“ und überhaupt die „Turnsprache“ sowie der Begriff „Volkstum“, seien hier als Beleg für seine sprachliche Schöpferkraft angeführt.
Allein aus dem Wortstamm turn- wurden zu Jahns Zeiten 157 Zusammensetzungen gebildet,1 und heute sind es deutlich mehr.
Jahn war demnach nicht nur ein mitreißender Redner, sondern, wie erwähnt, auch sprachschöpferisch ungewöhnlich begabt.
Selbst sein erklärter Gegner, der berühmte Historiker Treitschke, mußte zugeben: „… aber da er, wie Luther, den Bauern und den Kindern aufs Maul sah, so gelang ihm auch mancher glückliche Griff: das gute Wort Volkstum wurde von ihm erfunden.“7
Zur Wortschöpfung „Volkstum“ schreibt Jahn:
„Was Einzelne sammelt, sie zur Menge häuft, diese zum Ganzen verknüpft, solche steigernd zu immer größeren verbindet, zu Sonnenreichen und Welten eint, bis alle sämtliche das große All bilden – diese Einigungskraft kann in der höchsten und größten und umfassendsten Menschengesellschaft, im Volke, nicht anders genannt werden als Volkstum. Es ist das Gemeinsame des Volkes, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiederzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit. Das bringt alle die einzelnen Menschen des Volkes, ohne daß ihre Freiheit und Selbständigkeit untergeht, sondern gerade dadurch noch mehr gestärkt wird, in der vielseitigen Verbindung mit den übrigen zu einer schönverbundenen Gemeinde“.
Als Sprachwahrer erkannte Jahn in der unverfälschten fremdwortfreien Sprache einen hohen Wert:
„Jede Sprache ist das vollständigste und genaueste Abbild des Volkes, das sie spricht.“4
Darin schon wird die Erkenntnis des kulturelle Identität stiftenden Wertes der Sprache deutlich: „Nur in einer Sprache wird man groß.“.2 Die tiefe Erkenntnis, daß Vielsprachigkeit erst nach dem vollgültigen Erlernen der eigenen Muttersprache bereichernd wirkt, wird von Jahn hier angesprochen.
Wie bedroht – damals durch das Überborden des Französischen, heute durch die Überflutung mit Anglizismen – die Muttersprache war und ist, und daß Jahn diese Bedrohung erkannt hat, zeigt sein Ausspruch: „Ein Volk lebt, webt, steht und vergeht mit seiner Sprache.“ (4). Die europäische Geschichte kennt viele Beispiele dafür, aber auch dafür, daß das Bewußtmachen der Bedeutung der Sprache für die Identität eine Umkehr möglich macht: das Bretonische, das Okzidanische in Frankreich, das Baskische und Katalanische in Spanien, das Walisische und Schottische in Großbritannien werden erfolgreich wiederbelebt oder aus dem Schattendasein gerissen. Voraussetzung ist immer kulturelles Bewußtsein und das Erkennen der Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit des eigenen Volkstums.
Jahn setzte sich für Sprachreinigung ein, ohne allerdings puristisch oder gar sektiererisch zu sein. „Fremde Kunstausdrücke müssen in Benennung von Personen, Würden, Ämtern, Handlungen und volkstümlichen Gegenständen gänzlich abgeschafft und in Gesetzen, Verordnungen und im Geschäftsgange, wo es nur irgend die Verständlichkeit erlaubt, vermieden werden.“2
Also nicht zwanghaft, sondern nur dort, wo es die Verständlichkeit zuläßt, sollen Fremdworte ersetzt werden.
Wo es um das Volksrecht geht, da ist Jahn deutlich: „Es ist ein unbestrittenes Recht, eine deutsche Sache in deutscher Sprache, ein deutsches Werk mit deutschem Wort zu benennen. Warum bei fremden Sprachen auf Leih und Borg nehmen, was man im Vaterlande reichlich und besser hat?“2
Noch Ende des 19. Jahrhunderts gelang es Sprachwahrern, die Österreichische Post- und Telegraphenverwaltung zu einer „Übersetzung“ von damals nur französischen Begriffen zu bewegen. Von Amts wegen wurden Worte wie z.B. Rezipisse durch Gegenschein, Recommandiert durch Einschreiben oder Kouvert durch Umschlag ersetzt. Sprachwahrer „erfanden“ Gehsteig statt Trottoir, Lenkrad statt Volant und führten diese heute nahezu alleine verwendeten Begriffe ein.
Die Forderung an öffentliche Stellen, dafür zu sorgen, scheint heute ins Leere zu gehen. ÖBB mit „City Shuttle“, ORF mit „Prime time“ sind nur zwei Beispiele für viele. Jahn schreibt diesen Sprachpanschern ins Stammbuch: „Es ist merkwürdig, daß die Deutschen an ein Kunstwort, das aus einer fremden Sprache (eingeführt wurde), nicht den kleinsten Teil der Forderung machen, wie an ein einheimisches. Dort gilt ein leerer Schall als genug zur Bezeichnung; hier kann es nie genug und nicht genug ausdrücken.“
Der Grundsatz „Kein Fremdwort für das, was auch gut deutsch ausgedrückt werden kann“ gilt immer noch. Er fordert uns gleichzeitig heraus, zu überlegen, mit unserer deutschen Muttersprache spielerisch und zugleich schöpferisch umzugehen. Jahn sagt dazu: „Ihr großer Reichtum an Urwörtern gibt ihr ein entscheidendes Übergewicht. Sie ist aus einem Guß und Fluß.“5
Nützen wir dieses Gewicht als Gegengewicht gegen Zeitgeist, Sprachdummheit und Liebdienerei. Nützen wir die Kraft, den Guß und Fluß unserer deutschen Muttersprache, um den Kräften, die sie aushöhlen und damit unser Denken und Sein untergraben, Widerstand entgegenzusetzen.
Die Jahreszahlen haben sich von Jahn bis heute geändert, nicht die Bedrohungen und die Grundfragen unseres Volkes. Fremde Bevormundung in Politik, Sprache und Kultur haben nur andere Namen als vor 200 Jahren, die Bedrohungsbilder sind einander sehr ähnlich.
Freiheit, Selbstbestimmung und wahre Demokratie, wörtlich als Herrschaft des Volkes verstanden („Wir sind das Volk“ riefen die „DDR“-Bürger den diktatorischen Machthabern zu und die Mauer brach), müssen von jeder Generation aufs neue erkämpft werden.
(1) Erwin Mehl, „Jahn als Spracherzieher, Wissenschaftliche Schriftenreihe „Muttersprache“, Heft 9, Sonderdruck aus „Wiener Sprachblätter“, Wien 1978, aus Anlaß des 200. Geburtstages F. L. Jahns.
(2) Friedrich Ludwig Jahn, „Deutsches Volkstum“, C. Naumanns Druckerei, Frankfurt a. M., 1808, Faksimileausgabe, Faksimile Verlag Bremen 1982.
(3) Erwin Mehl, „Grundriß des deutschen Turnens“, 4. Auflage 1929, Verlag Deutscher Turnerbund Wien.
(4) F. L. Jahn, „Merke zum Deutschen Volkstum“, 1833 J. C. H. Knopf; Hildburghausen, (Werke, 3. Band), herausgegeben von Karl Euler, Hof 1884, 1885, 1887, zitiert nach (1).
(5) Friedrich Ludwig Jahn, „Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze“, Berlin 1916.
(6) Werner Pfannhauser, „Unser Turnen“, Eckartschrift Nr. 58, 2. Auflage 1981.
(7) Herbert Polesny, „Friedrich Ludwig Jahn – Mensch und Werk“, Eckartschrift Nr. 78, 1981.