Die deutsche Romantik war von Anbeginn umstritten und wurde viel gescholten. Zuletzt meinte ideologiekritischer Nachkriegseifer gar, hier einen Obskurantenklub aufzudecken. Die polemische Sonderwegthese ward unerbittlich auf die Romantiker angewandt. Nun fühlten sich all jene bestätigt, die von Heines jungdeutschen Pamphleten bis zu Thomas Manns Dämonologie in der Romantik Wirklichkeitsflucht, Machtanbetung, Verantwortungslosigkeit und Gewaltkult witterten. Noch Gordon Craigs einflußreiches Buch „Über die Deutschen“ (1982) zieht eine direkte Linie zu Hitler. Sein geschichtsklitternder Blick unterstellt den Romantikern Geistverachtung, Naivität, Todesbesessenheit, Ignoranz der Praxis, kurz „Irrationalismus“.
Viel mehr als sonst hat sich der Romantik die immense Wirkungsgeschichte zentnerschwer angeheftet, ja diese überlagert. So sind gar Romantikdiskurse entstanden, die sich von ihrem Gegenstand ganz abgelöst haben.1 Der Interpret soll die Auffassungen kennen und sich von ihrer Suggestion doch freimachen. Authentische Anschauung können die Texte nur selbst gewähren.
Leicht machen sie es ihm nicht. Exotisch wirkt der spekulative Elan romantischen Denkens in einer säkularen und vollständig durchrationalisierten Gegenwart, die Metaphysisches marginalisiert hat. So beeindruckt das Gewicht ihrer Gedanken auf jedem Schritt. Freilich hat dies Pathos der Überkomplexität die Rezeption von Beginn an erschwert. Zudem haben die Romantiker ihre Erkenntnisse in wechselnden Zusammenhängen vorgetragen, immer aus der konkreten Situation entwickelt und selten ins definitive System gebracht. Zur Vielschichtigkeit fügt sich die Weitläufigkeit ihrer Positionen und Dokumente. Sprachlich wurzelt die Romantik in der durch Klopstock, Lessing, den Sturm und Drang, dann Goethe und Schiller erneuerten deutschen Literatur. Religiös ist sie vorbereitet durch Pietismus und heterodoxe Bewegungen der christlichen Tradition, so der Theosophie Böhmes. Philosophisch hat sie teil am neuen Problemverständnis seit Kant und an der weitverzweigten, nachkantischen Theoriedebatte. In größter Nähe zu Fichte und Schelling vollziehen die Romantiker deren Wendung vom Kritizismus zu den Konzepten des subjektiven, objektiven oder absoluten Idealismus mit. Die Bearbeitung der Defizite, Widersprüche, Dualismen Kants (und der vulgären Aufklärung erst recht) fassen sie emphatisch als Wiederkehr „positiven“ Denkens auf: eine Erneuerung des metaphysischen Projekts. Auf dieser Linie liegen, neben anderen Weisheitslehrern, vor allem Plato; überhaupt wertet man die Gegenwart als „platonische Renaissance“. „So sammelt die Philosophie der Romantik wie in einem Brennspiegel maßgebliche metaphysische, ästhetische und geschichtsphilosophische Strömungen der neuzeitlichen Geistesgeschichte und verarbeitet sie zu einem eigenen Paradigma idealistischer Philosophie […]“2
Die der Romantik unterstellte Naivität und Realitätsferne ist schlichter Unsinn, hatte sie das Schicksal doch in eine Periode weltgeschichtlicher Ereignisse geworfen. Eine absolute Kulturschwelle, bezeichnet durch die Doppelrevolution: die industrielle Englands und die politische der Franzosen, trifft zusammen mit der höchsten Ausprägung deutschen Geistes. Der revolutionäre Ereignisschub betrifft auch Deutschland und Österreich, die in einen irren Strudel gerissen werden. Diese Beschleunigung erzeugt bei den Beteiligten das Bewußtsein einer umfassenden Krise, die Überkommenes vernichtet, doch dessen Chaos auch Keime des Neuen streut. So nehmen die Romantiker die Herausforderung der Revolution an. Die politische Engführung jedoch lehnen sie ab. Nicht nur die revolutionäre Politik bleibt fraglich, vielmehr ihr Prinzip des Politischen überhaupt, ihr innerweltlicher Heilsanspruch und die zerstörerische Methode. Schon Kant vermutet skeptisch eine bloße Verlagerung der tyrannischen Funktion. Statt dessen ruft er auf zu „wahrer Reform der Denkungsart“. Der Berliner Theologe Richard Schröder hat dies pointiert mit dem Hinweis, Kants Formulierung transportiere nur das altchristliche Motiv der Bekehrung.3 So sahen es auch die Romantiker. Zunächst nur ohnmächtiger Spielball der Revolutionskriege, sollte Deutschland sich seiner Subjekt- und Produktivkraft bewußt werden. So sollte von der politisch nicht mehr vorhandenen Mitte Europas etwas qualitativ Neues ausgehen: eine „wahre“, eine spirituelle Revolution. Die sollte die aktuelle Krisis umkehren und die driftenden Kräfte auf Gott reorientieren.
„Als Grundstreben romantischen Lebensgefühls ergibt sich aus alldem ein Streben nach Überwindung der Gegensätze in einem höheren Dritten, das Streben nach der Synthese […] im Denken, Dichten und Handeln der Romantiker auf vielen Gebieten“, so Paul Kluckhohn. „Das Reich des Verstandes und die Welt der Gefühle, Bewußtheit und Unbewußtheit, Erfahrung und Idee, Natur und Geist, Sinnenleben und Seelensehnsucht, Persönlichkeit und Gemeinschaft, Nationale Eigentümlichkeit und universale Blickweite, das Besondere und das Allgemeine, Endliches und Unendliches, diesseitige und jenseitige Welt, all diese Gegensatzpaare, von der Aufklärung […] als Antinomien angesehen, werden von den Romantikern als Polaritäten, […] deren Spannung den Kraftstrom des Lebens ergibt, die in ihrer Zweiheit eine ursprüngliche Einheit darstellen, und als in höherer Einheit wieder zu vereinen, erlebt und aufgefaßt.“4
Die Romantik als literarisch-künstlerisch-wissenschaftliche Bewegung umfaßt im engen Sinn die Jahre 1795–1830; mit ihren Ausläufern reicht sie bis in die 1850er Jahre. Sie tritt auf in Metropolen: Berlin, Dresden, München und Wien, verweilt in Universitätsstädten: Göttingen, Jena, Halle, Marburg, Heidelberg, Tübingen, Landshut und greift zeitweilig aus nach Paris und Rom, auch zum Genfer See, dem Landsitz der Madame de Stael.5 Was ihre verschiedenen Perioden anlangt, ist es zweckmäßig, das Schema der drei Phasen aufzugreifen und zunächst die frühromantische Zeit der 1790er Jahre bis 1802 abzustecken; sodann die Jahre bis zum Befreiungskrieg 1813–15 und schließlich die Spätromantik nach dem Wiener Kongreß.
Die Romantik erhob sich in Berlin, wo Ludwig Tieck als Schriftsteller debütierte in der Literaturfabrik Friedrich Nicolais, wo schöngeistige Salons die Geselligkeit intellektuell beförderten und der Kampf zwischen Spätaufklärern und jungen Neuerern entbrannte.6 Hier wurden wichtige Freundschaften geknüpft, so zwischen Friedrich Schlegel und Schleiermacher im Zeichen Platons, und eine fulminante Aufklärungskritik in Gang gesetzt. Durch August Wilhelm Schlegels Mitarbeit an Schillers Horen verlagert sich der Kreis nach Jena, damals die wichtigste Universität. Dort lehrten Fichte, dann Schelling, zeitweilig Hegel und die beiden Schlegels. Durch Fichtes persönliches Charisma und seine Transformation von Kants System werden zahlreiche Romantiker seine Schüler; fast alle rezipieren seine legendäre „Wissenschaftslehre“ (1794). Vollständig versammelt ist der frühromantische Kreis Herbst und Winter 1799/1800 im Hause August Wilhelms und Carolines: Friedrich Schlegel, Dorothea, Tieck, Novalis, Ritter, Schelling. Nach August Wilhelms und Carolines Trennung und dem Tod von Novalis 1801 zerstreut sich der Kreis, wendet sich Friedrich der bildendenden Kunst in Dresden zu und August dem Berliner Publikum. Seine Vorlesungen 1802–04 entwerfen ein vollständiges Weltbild der Romantik, entwickeln eine differenzierte Aufklärungskritik und vor allem ein Urteilsystem des Bildungshumanismus. Genau hier wurden moderne Kunstkritik, Literaturkunde, Hermeneutik begründet.
Mit Friedrichs und Dorotheas Wendung nach Paris (1802–04) setzt eine neue Phase ein, die auch durch politische Ereignisse bestimmt ist: die Säkularisation (1803), Napoleons Kaiserkrönung (1804), Ende des alten Reichs, Erlöschen der Kaiserwürde, Gründung des Rheinbunds und Zusammenbruch des preußischen Staates (1806). Generell wendet sich die mittlere Romantik ab von den subjektiv-anarchischen Anfängen, bemüht sich um Selbstobjektivierung, erschließt die geschichtliche Vergangenheit, philologisch, volks- und mythenkundlich, und gewinnt ein politisches Bewußtsein. Friedrich in Paris integriert die bildenden Kunst und die orientalischen Sprachen der romantischen Mentalität. Als er mit den Brüdern Boisserée 1804 die Rheinlande durchfährt, werden überall Kirchengut und sakrale Kunstschätze verschleudert. Das regt diese zu ihrer genialen Sammlung altdeutscher Kunst an, die sich heute in München befindet. Entscheidend: die gegenwärtige Zerstörung provoziert den Impuls der Bewahrung, des Erinnerns und Erschließung des geistigen Erbes.
Das zeigt besonders Heidelberg und sein illustrer Kreis: Clemens Brentano, Achim von Arnim, die Brüder Eichendorff, Graf Loeben. Einem Leuchtfeuer gleich wirken hier Joseph Görres und Friedrich Creuzer, befehdet vom Homer-Übersetzer Heinrich Voß. Die neue Volkskunde dringt ins Weite mit der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805/08), die auch Görres den alten Volksbüchern zuwendet; monumental, doch esoterisch wirkten dagegen seine und Creuzers Mythen- und Symbolforschung. In Köln intensiviert Friedrich, nach Indienforschung und Konversion (1808), seine christliche Ausrichtung, zumal dann auf die katholische Kirche. Sein Bruder, der 1804 Madame de Stael kennengelernt hat7 , um sich für 14 Jahre ihr anzuschließen, lebt nun auf Schloß Coppet in der Schweiz, wo sich in der Folgezeit ein europäischer Romantikerkreis bildet. August geht hier seinen Studien nach, übersetzt Shakespeare, Dante und Calderon: Er durchdringt die Literatur in universalgeschichtlicher Absicht. Ihre Reisen führen beide 1808 auch nach Wien, wo Augusts Vorlesungen „Über dramatische Kunst und Literatur“ Epoche machen.
Prominent sind auch die Vortragsreihen, die Gotthilf Heinrich Schubert zu Dresden über die „Ansichten von der Nachtseite der Natur“ und gleichzeitig Adam Müller8 1806–09 hält über: „Deutsche Wissenschaft und Literatur“ (1806) und die „Elemente der Staatskunst“ (1809).9 Ein großer Teil romantischer Quellen entfällt auf solch gelehrte Tätigkeit. In Dresden gibt Müller mit Heinrich von Kleist, den er entdeckt hat, den Phöbus heraus. Die gemeinsame Arbeit geht 1809–10 fort in Berlin mit der Herausgabe der Berliner Abendblätter und der Gründung der patriotischen Christlich-deutschen Tischgesellschaft.
Die Vorkriegszeit schließt mit der Übersiedelung Friedrichs und Dorothens nach Wien (1808), wo Schlegel 1810 „Über die neuere Geschichte“ und 1812 „Über die Geschichte der alten und neuen Literatur“ spricht; 1811 folgt Adam Müller, der in der Donaustadt seine berühmte Rhetorikreihe hält („Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland“10). In diesen Zyklen vollendet sich das von Herder grundgelegte individualisierende Sinnverstehen, das Urteil über Kunst und Geschichte aus inneren Prinzipien.
Nach dem Wiener Kongreß bilden das protestantische Berlin und die katholischen Städte München und Wien die Zentren spätromantischer Kultur. In Berlin leben die Poeten Fouqué, Chamisso und E. T. A. Hoffmann, Bettina und bisweilen Achim von Arnim, eröffnet Rahel Varnhagen ihren 2. Salon, wirken die Brüder Humboldt und vor allem Schleiermacher als romantischer Theologe und Savigny, der Protagonist der historischen Rechtskunde, als Vertreter des „positiven Rechts“. Ludwig Tieck residiert als „König der Romantik“ 1819–42 in Dresden, wo sein Haus am Altmarkt zum deutschen Zentrum der europäischen Literatur wird, eine Institution, die Goethe (†1832) beerbt.11 Tiecks Genie der Geselligkeit hat seine Erfüllung gefunden im Dramenvortrag. Erfolgreich inszeniert er sich als Interpret der Weltliteratur. So avanciert der Zauberer zum meist gefeierten Vorleser seiner Zeit. In der Kunststadt Dresden schaffen auch die beiden großen Einsamen der romantischen Malerei: Philipp Otto Runge (1777–1810) mit seiner arabeskenreichen Hieroglyphenkunst und Caspar David Friedrich (1774–1840), der tiefsinnige Parabeln über die Entfremdung des Menschen und die Sehnsucht nach dem Ewigen findet. München und Wien werden zu eigentlichen Zentren katholischer Spätromantik, zumal die Landesuniversität 1826 nach München umzieht. Die herausragenden Persönlichkeiten sind hier vor allem Schelling, Joseph Görres und Franz von Baader. Schelling entwickelt seine Spätphilosophie über Mythologie und Offenbarung, Görres seine riesige christliche Mystik. Alle drei wollen den Zwiespalt der Zeit überwinden und zum Glauben zurückführen.
So wichtig wie Bischof Sailer für Bayern wird Pater Clemens Maria Hofbauer in Wien, wo 1808 sich als akademische Sezession die christliche Malerschule des Lukas-Bundes konstituiert (als Nazarener seit 1810 in Rom). Friedrich Schlegel bildet das Zentrum eines Kreises, dessen Weltbild seine Zeitschrift Concordia (1820–23) vorträgt, zumal Schlegels geschichtsphilosophische „Signatur des Zeitalters“.
Literarisch werden die Romantiker publik mit ästhetischen Schriften und ersten Romanen in den Jahren 1794–98. Es erscheinen A. W. Schlegels „Charakteristiken“ und Friedrichs Aufsätze zur antiken Poesie. Schillers Entwurf einer humanistischen Versöhnung von Vernunft und Sinnlichkeit im ästhetischen Zustand wird von Friedrich historisiert: Hellas als Modell vollkommenen Lebens ergibt ein Bildungsmuster für den zerrissen modernen Menschen, dessen Sinnbild Hamlet ist. Ein anderes Konzept entwerfen Tieck und Wilhelm Wackenroder in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797). 1793 zum Studium in Erlangen, entdecken sie die spätmittelalterliche Welt Nürnbergs12 und den katholischen Kult Bambergs. An Raffel und Dürer entwickeln sie ihre Kunstandacht, in der sich Liebe zur Vergangenheit, das Altdeutsche, Musik, Frömmigkeit und italienische Renaissance verbinden. Wackenroders Schrift wirkt außerordentlich und beeinflußt die Nazarener. Als Tieck die Motive in seinem Künstlerroman „Franz Sternbalds Wanderungen“ (1798) zusammenführt, kontert Goethe mit seiner klassizistischen Kulturpolitk: seinen Propyläen (1798–1800) und den Weimarer Preisausschreiben zu Themen antiker Mythologie (1799–1805).
Ins Jahr 1799 fallen die beiden wichtigsten Dokumente religiöser Neubesinnung: Schleiermachers Reden „Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“ und Novalis „Christenheit oder Europa“. Letzteres, der wohl wichtigste geschichtsphilosophische Traktat der Romantik, wird in Jena unter den Freunden kontrovers diskutiert: Die religiöse Umorientierung beginnt erst. So erbittet man Goethes Votum, der abrät zu publizieren. Novalis‘ Text erscheint erst 1826. Er verknüpft hier das Christentum universalistisch mit dem Mittelalter und zeigt den Glauben als zentrales, theonomes Prinzip, das alles soziale Leben durchdringt, keine kulturelle Facette, sondern Grund und Ziel. Anders sucht Schleiermacher den Glauben zu befreien von systematischer Vereinnahmung durch die Aufklärung. Dort wird er vom Nützlichkeitsgebot okkupiert oder (bei Kant) in Moral aufgelöst. Schleiermacher zeigt das religiöse Vermögen und Bewußtsein im Menschen als autonomen, eigenen Zugang zur Welt. Als humane Potenz, Mentalform und kosmischer Aspekt ergänzt er notwendig Philosophie, Ethik und Kunst.
Hier ist als erstes frühromantisches Organ: das Athenäum (1798–1800) der Brüder Schlegel zu nennen. Die vier Zeitschriften der Schlegels dürfen als wichtigste romantische Periodika gelten, zeichnen sie doch den Weg des romantischen Gedankens nach.13 Steht die erste im Zeichen poetologischer Reflexion, des literarischen Experiments und einer teils witzigen Moralistik, teils mystischen Aphoristik – einer „transzendentalen Buffonnerie“ – wendet sich die Europa (1803–05) aus Paris, dem politischen Zentrum der Zeit, geschichtsphilosophischen Überlegungen zu, behandelt die bildende Kunst und dokumentiert Friedrichs Studien an der Nationalbibliothek, zumal der altfranzösischen Poesie. Patriotischer ruft das Deutsche Museum (1812/13) zur Sammlung auf, während die Concordia (1820–23) die spätromantische Durchdringung von Geschichtsdenken und Politik mit Religion bezeugt.
Schildert Ludwig Tiecks erster Roman „William Lovell“ (1795) drastisch die Zerrissenheit des modernen Intellektuellen und sein „Sternbald“ (1798) die Wendung zum sentimentalen Kunsterlebnis, die romantische Version eines road-movie auf den Spuren von Goethes Bildungsroman, formuliert der „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) des Novalis die radikalste Verarbeitung des „Wilhelm Meister“ (1795), ja seine Kontrafaktur. Novalis imaginiert eine esoterische Poesie in Differenz zu Goethes Lehre der Bescheidung auf Endlichkeit: der Roman als magischer Hebel der Weltveränderung. Die geplante endzeitliche Verklärung verhinderte nur der Tod des Autors. Doch lebt auch in Eichendorffs „Ahnung und Gegenwart“ (1815) als weiteres Werk dieser Krisenzeit eine visionäre Zukunftserwartung, die sich ebenso aus dem Befreiungskampf wie der Kritik am Religionszerfall speist. Die Geschichte, die ganz aus Wandern, Singen, Fahren, Geheimnissen, märchenhaften Begegnungen besteht und die Topographie der Weiten, Burgen, Ströme, Höhen bedient, installiert mit ihrer Motivik ein nachmals gängiges romantisches Vokabular, was riskierte, zum Klischee zu gerinnen. Und doch schließt sie eindrucksvoll mit einem tief apokalyptischen Bild, das Figuren, Leser und Autor über sich hinaus reißt.
Spielen Ludwig Tiecks Märchenstücke und Literaturkomödien wie der „Gestiefelte Kater“ (1797) und die „Verkehrte Welt“(1798) ironisch mit Realitätsebenen und Referenzen, so wenden sich seine „Heilige Genoveva“ (1800) und der „Kaiser Oktavian“ (1804) ernsten Stoffen zu, übersetzen alte Volksbücher in die großen Tableaus eines romantisch-epischen Theaters, verschmelzen Gattungen und kombinieren unterschiedliche Versformen. Mit dem Einbruch übernatürlicher Mächte findet eine Annäherung ans barocke spanische Welttheater statt, die „offene Form“ versucht, die kosmischen Ebenen vertikal zu integrieren. Die Gefahr einer horizontalen Entgrenzung deuten die 28 Schauplätze und 61 Szenen der Genoveva an. Arnims „Halle und Jerusalem“ (1811) evoziert den barocken Gryphius. Unionistische Bestrebungen verdeutlicht die Schlußszene, die alle Konfessionen vereint. Das Romantische weitet sich, so Richard Benz, „ins zeitlose Weltbild“.14
Zurecht hat man gesagt, daß drei illustre Werke – nicht der Poesie, vielmehr der Kultur- und Geschichtsdeutung – die deutsche Romantik erst nach Europa getragen haben: A. W. Schlegels Vorlesungen über „Dramatische Kunst und Literatur“ (1809–11), Friedrichs Wiener Vorlesungen von 1810 („Über die neuere Geschichte“, EA 1811) und 1812 („Geschichte der alten und neuen Literatur“, EA 1815) und Germaine de Staels Buch „Über Deutschland“ (1810/13).
Seitdem Herder die Volkspoesie als ursprünglichen Quell der Phantasie und einer wahren Literatur gepriesen hatte, lag hier eine fruchtbare Alternative zur klassischen Norm ‚hoher Dichtung‘. Die sozialistische Neigung der Revolution, der Beschleunigungsschock um 1800 und die kollektive Wendung gegen die Besatzer warben für eine historische Erkundung der heimischen Folklore. Das begann 1797 mit Tiecks „Volksmärchen“ und setzte sich fort mit seinen „Minneliedern aus dem schwäbischen Zeitalter“ (1803), einer Sammlung von gewaltiger Wirkung. Auf sie folgt die sagenhafte Liedersammlung der Romantik, von Clemens Brentano und Arnim herausgegeben: „Des Knaben Wunderhorn“ (1805/08). Aus dem Studium der kostbaren Brentanoschen Privatkollektion schöpfte Görres seine Darstellung der „Teutschen Volksbücher“ (1807), deren Volksbegriff politische, soziale und archetypische Sinnbildungsmotive vereint. Sie zeigt erneut, daß die Romantik im dualistischen Prokrustesbett von Fortschritt und Reaktion nicht aufgeht. Ganz der oralen Überlieferung verdankten sich die „Kinder- und Hausmärchen“ (1812/15) der Brüder Grimm, bis heute das populärste Dokument deutscher Romantik.
Den kleinteiligen Literaturgattungen parallel ging währendem die Edition, Übersetzung und Erforschung des Nibelungenliedes durch Tieck, A. W. Schlegel und Friedrich von der Hagen fort, empfand man das Epos doch seit dem 18. Jahrhundert als nationale Gründungstat.
Nicht zu überschätzen sind drei Werke der Jahre 1808–12. 1808 brachte Friedrich Schlegel als Frucht seiner Pariser Orientstudien sein Buch „Sprache und Weisheit der Indier“ heraus. Es formuliert einen Beitrag zur philosophischen Debatte nach den kulturellen Ursprüngen und einem ersten metaphysischen Prinzip. In diese Stelle nun tritt Indien ein, dessen spirituelles Erbe der Upanishaden durch Anquetil Dupperons Übersetzung (1801/02) Europa erstmals bekannt wurde. Schlegel begründet hier die deutsche Indologie. 1810 erschien die „Mythengeschichte der asiatischen Welt“ von Görres, dessen Interesse an der heimischen Volkskunde ihn nun in die Weltweite der religiösen Überlieferungen geführt hatte. Kaum vorstellbar erscheint heute solch ein Unternehmen, das ohne moderne Hilfsmittel unternommen ward, sich ganz dem autodidaktischen Genie des Autors verdankt. Empörend schien Aufklärern, Klassizisten, Materialisten hier die Gleichberechtigung orientalischer Stoffe gegenüber den griechischen, ja die Konstruktion einer asiatisch grundierten Urtradition aller Mythen. Es gehört zum Schicksal der Romantik, daß dies geniale Werk nie eigentlich rezipiert worden ist. Um die Wahrnehmung, doch nicht die Ablehnung stand es anders bei Friedrich Creuzers „Symbolik und Mythologie der alten Völker“ (1810–12), um das ein jahrelanger Kampf entbrannte.15 Gerade der genial veranlagte, spirituelle Symbolbegriff Creuzers provozierte Gegner wie Voß, der seine anthropologisch-politische Immanenzdoktrin gefährdet sah.
Alle Romantiker, selbst die Dichter, haben Theorien verarbeitet, viele ausdrücklich philosophisch gedacht – so Novalis. Als die romantischen Philosophen im engen Sinn wird man indes Friedrich Schlegel, Franz von Baader und Friedrich Schelling ansehen. Während Schlegel sukzessiv sein Denken systematisch entwickelte, kennzeichnet Baader seit je ein esoterischer Zug. Er scheint bis heute nur wenigen bekannt – trotz der Unterstützung im 20. Jahrhundert durch Othmar Spann und seine Schüler.16 Baader sah sich als Interpret Jakob Böhmes. Dieser hat alle Romantiker inspiriert.
Allein Schelling erlangte als Angehöriger der jungen Generation Breitenwirkung. Fichtes transzendentale „Tathandlung“ in der Konstruktion des absoluten Ich hatte den Romantikern die Potenz des schöpferischen Individuums plausibel gemacht, doch zugleich erschreckend die Welt entleert. Das „subjektive Subjekt-Objekt“ muß um der lebendigen Einheit willen gleichursprünglich als „objektives Subjekt-Objekt“ gedacht und entfaltet werden, so damals Hegel.17 Schelling suchte das zu leisten mit seinem spekulativen Naturbegriff, dem Entwurf der Kunst und der „intellektualen Anschauung“ und schließlich seiner Identitätsphilosophie. Dies bezeichnet drei Epochen Schellings nach seinem Fichteanischen Start in noch jungen Jahren um 1800. Zu einschlägig romantischen Dokumenten dieser Zeit gerieten ihm so: 1) die „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ (1797), die „Weltseele“ (1798), die „Einleitung“ zur Naturphilosophie (1799) und der „Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie“ (1799) 2) das „System des transzendentalen Idealismus“ (1800) und der „Bruno“ (1802) und 3) die „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ (1803) und „Philosophie und Religion“ (1804)
Die ‚politische Romantik‘ ist ein weites Feld.18 Zunächst gilt festzustellen, daß die Romantiker selten an politischen Kontroversen teilnahmen. Ihr ‚politisches Denken‘ sollte eher Sozialphilosophie heißen, rückt es die Ereignisse doch in Deutungsabstand und neutralisiert so die eigentliche Konfliktebene. So fiel auch ihre Neigung zu Parteilichkeit gering aus. Doch gibt es bezeichnende Ausnahmen. So Ernst Moritz Arndt, der kernige Volksmann, dessen „Geist der Zeit“ (1806ff.) ihm die Verfolgung Napoleons eintrug. Ein anderer Fall ist Joseph Görres, der mutigste Schriftsteller, den die Deutschen je hatten. Ein Leben lang ist Görres für Recht und Freiheit eingetreten. Nur genialische Tiefgründigkeit und epische Veranlagung führten ihn auf so zeitferne Sinnbildungen wie sein Mythenprojekt oder die christliche Mystik. Bisweilen jedoch hat er seinen barocken Metaphernstil aufgegeben und sein Panier zugeklappt. Er begann als linker Jakobiner, der die Angliederung des Rheinlands an Frankreich forderte, republikanisch mit dem Rübezahl und dem Roten Blatt (1798/99). Doch enttäuscht durch die Ausplünderung seiner Heimat reiste er nach Paris, wo er den Staatsstreich Bonapartes miterlebte. Erbittert verfaßte er danach die Streitschrift „Resultate meiner Sendung nach Paris“ (1800). Er zog sich nach Koblenz und Heidelberg zurück, um 1814 mit seiner Zeitung, dem Rheinischen Merkur (1814–16), wieder hervorzutreten. Seine publizistische Stimme war so gewaltig, daß ihn Napoleon zornig die „6. Weltmacht“ schimpfte. Seine Artikel geißeln den Imperialismus, stellen nationaldemokratische Forderungen für die Nachkriegszeit, erörtern Verfassungspläne, treten für ständische Freiheiten und für die Rheinlande ein, richten Forderungen an Preußen. Daraufhin wurde der Merkur 1816 kurzerhand verboten. Doch entsetzt über die repressiven Kongresse, unternahm es Görres 1819, die Verantwortlichen zu warnen in seinem Buch „Deutschland und die Revolution“. Da kam der Haftbefehl, dem er sich durch Flucht entzog. Erst 1826 erfolgte ein Ruf an die Münchner Uni. Doch nie hielt seine Feder inne. So griff er wortgewaltig ein im Kölner Kirchenstreit der 1830er Jahre mit seinem „Athanasius“ (1838), der ihn zum katholischen Parteischriftsteller machte und sein Ansehen in der katholischen Welt begründet hat. Bis zum Schluß hat Görres keine Auseinandersetzung gescheut. So ist noch sein mystisches Spätwerk als Rammbock gegen den Atheismus der 1848er konzipiert – in gleichzeitiger Differenz zum verengten Ultramontanismus.
All die Themen der Familie, der Gesellschaft, der Nation und des Staates, des Rechts, der Tradition, Eigentumsverhältnisse und Ökonomie hat Adam Müller in seinen „Elementen der Staatskunst“ (1809) umfassend systematisiert.19 Das Werk hat in Deutschland nicht seinesgleichen. Es schließt an die „Überlegungen zur französischen Revolution“ (1790) Edmund Burkes, die der Freund Friedrich Gentz meisterhaft ins Deutsche übertrug (1793). Doch Burke, als dessen deutscher Nachfolger Müller gilt, war pragmatischer Politiker, in englischer Verfassungstradition samt common sense verwurzelt. So führt sein Werk die nachmals so berühmten Topoi: Kontinuität, Reform, Institutionen und geschichtlichen Geist, organische Weiterentwicklung statt tabula rasa, Erfahrung statt abstrakten Begriff, Konkretion statt Universalismus eher beiläufig ein. Müller hingegen hat die Materie philosophisch durchdrungen. Er überträgt Burke in die Systemarchitektur des Idealismus. In seiner Spätschrift „Die innere Staatshaushaltung, systematisch dargestellt auf theologischer Grundlage“ (1820) strebt er noch energischer, die menschliche Freiheit auf Religion zu gründen. Den Zwiespalt in der Zeit erkennt er als Gottlosigkeit, so den Klassenantagonismus von Bourgeoisie und Proletariat, „wenn nicht eine dritte Verbindung eintritt, welche jene beiden Beziehungen umfaßt und versöhnt, eine Kraft von oben, die sich in sichtbaren Wirkungen offenbart“.20 Metternich tobte vor Wut und Freund Gentz schrieb, er arbeite glatt der Revolution vor.21
Die politischen Ereignisse zwischen 1789 bis zum zweiten Pariser Frieden 1815 sind bekannt und hier nicht eigens zu referieren. Festzuhalten bleibt jedoch das schicksalhafte Zusammentreffen der industriellen, politischen und rechtlichen Revolution mit dem Zusammenbruch des alten Reichs. In dieser Situation entfaltet sich in Mitteleuropa eine einzigartige geistige Blüte. So bleiben die Romantiker, trotz kreativen Eigensinns, Kinder ihrer Epoche. Ins Auge fällt der Politisierungsschub. Zurecht bemerkt Rüdiger Safranski: „Mit der Revolution entsteht zuerst in Frankreich, dann aber überall in Europa ein neues Politikverständnis. […] Man muß sich die gewaltige Zäsur klarmachen, die diese Explosion des Politischen zur Folge hat. Die Sinnfragen, für die zuvor die Religion zuständig war, werden jetzt an die Politik gerichtet: ein Säkularisierungsschub, der die […] ‚letzten‘ Fragen in gesellschaftlich-politische verwandelt.“22
Die Romantiker wuchsen auf in den Jahren des Absolutismus und der Aufklärung. Sie erlebten Revolution und Revolutionskriege, den Imperialismus Napoleons, die Befreiungskriege und die Restauration. Man kann dies einen kompletten, 1. Zyklus der Moderne nennen. Nicht eben in dieser Form wird er wiederkehren, aber seine Prinzipien und Grundmuster. Er setzte jene dynamischen Kräfte frei, die seither unser Leben durchpflügen: Massen und ihre charismatischen Führer, erregte Öffentlichkeiten, Volkskriege und Gewalt – die „totale Mobilmachung“. Zu beobachten ist zwischen 1790–1848 ein Wechsel von Anarchie und Despotie. Die wurzelten schon in der nivellierenden „Fürstenrevolution“ des Ancien Régime, als die selbstherrlichen Souveräne die Körperschaften der ständischen Welt zerstörten, um ihre Untertanen zentralistisch direkt der Krone zu unterwerfen. Die souveräne Willkür drehte sich nur, sie eskalierte in Revolution und Krieg und verschwand auch in der Restauration nicht. So verkörperte die neue Zeit die prekäre Metamorphose gleicher Prinzipien. In diesem Bewußtsein und der Erwartung der Kehre leben alle Romantiker. So hat ihr Denken eine kritische und eine projektive, utopische Seite.
Ihre Analyse nun bleibt nicht vordergründig in der politischen Betrachtung stecken. Zu radikal war die Umwälzung. Vielmehr griffen Entwicklungen von weither in die Gegenwart ein und liefen ins Zukünftige fort. Niemand aber vor den Romantikern durchdrang so tief die Vergangenheit, niemand blickte derart prophetisch voraus. Wie Friedrich Schlegel beziehungsreich anmerkt: „Der Historiker ist ein rückwärts gewandter Prophet.“ Radikalität bedeutet hier, geistige Prinzipien zu identifizieren, eine echte Tiefenstruktur aufzudecken. Deshalb geht ihr Denken zwar überall vom Gegebenen aus – die Romantiker hielten fest an den gemeineuropäischen Werten Erfahrung, Anschauung, Individualität – dimensioniert es jedoch geschichtsphilosophisch. Ihr Verfahren ist dabei synoptischer Natur: über den partiellen Aspekt hinaus die großen Themen von Politik, gesellschaftlicher Organisation, Wissenschaft, Glauben, Kunst im Zusammenhang zu behandeln, ihre Vernetzung zu reflektieren.
Das Denken holt, was sich ereignete, zurück: den Abfall vom Wahren. Entzweit sind Glauben und Wissen. Doch verheißt die gegenwärtige Philosophie als Widerpart zukünftigen Aufschwung. Bei den Deutschen kommt sie zu neuer Höhe. So fallen ihr große Aufgaben zu: Kritik und Re-Konstruktion. Der transzendentale Idealismus soll nun erzeugen, was einst gegeben war. Dies leistet ein synthetisches Denken, das nicht bloß Fakten registriert, sondern metaphysisch als schöpferische Potenz Bewußtsein, Mensch und Welt ideell reorganisiert. Es unternimmt dabei nur vom Menschen aus – dem äußeren Pol im göttlichen Weltprozeß – was vom Absoluten als kosmisches Sein objektiv, „an sich“ schon vorgegeben ist.
Leitender Gesichtspunkt der Analyse wird die meta-kritisch aufzudeckende „Negativität“: Neuzeit und Moderne erscheinen unterm Stigma des „Negativen“ – nicht im Sinn von ‚ gut und schlecht‘, vielmehr eines umfassend 300jährigen Reduktionsprozesses. Wissenschaftlich, politisch und ökonomisch sucht er das integrale Wesen des Menschen herunter zu brechen auf Einzelelemente. Ubiquitär wird sein analytischer, atomisierender, „kritischer“ Zug. Seine Projekte heißen: Metaphysikkritik, Agnostik, Not- und Verstandesstaat, kapitalistische Ökonomie, utilitarische Wissenschaft oder Mechanik statt Organismus. Diese „Ideologiekritik“ kehrt die alte Wesensfrage um und triumphiert, indem sie alles aufs kümmerlichste Format bringt. Es ist ihr Ehrgeiz, „den Menschen kleinzumachen“.23 Das ist die „Karriere der Denkfigur: ‚der Mensch ist nichts anderes als…‘“.24
Dagegen argumentiert der Idealismus scharfsinnig: Die analytischen und kritischen Verstandeskompetenzen seien wichtig, doch „aufzuheben“. Diskursive Rationalität ist nur eine Ebene, eine vorläufige Anschauung und ihre Ergebnisse relativ. Sie bezeichne nur eine Schicht von Mensch, Bewußtsein, Kultur und Kosmos. Das romantisch-idealistische Bereichsmodell sieht prinzipiell unterschiedliche, sich ergänzende „Vermögen“ – ist der Mensch doch multipotentiell. Gern haben die Romantiker das im symbolischen Geviert der menschlichen Natur ausgedrückt: Religion, Moral, Wissenschaft und Kunst. Doch befriedigte die „horizontale“ Lösung noch nicht. War doch der Glaube als transzendierende Kraft den anderen vorzuordnen. Das bedeutet Hierarchisierung, was nichts zu hat mit Autoritätshörigkeit. Baader hat dies genau differenziert.25 Erst die Verschränkung der Horizontalen mit Vertikalität setzte das Denken frei und den Menschen in seine wahre Natur wieder ein. Dies leistet nur die Energie der Idee, die den „Begriffen“ und empirischen Daten den rechten Platz zuweist. So wird die Anknüpfung an Plato begreiflich, der mit seiner Verschmelzung des eleatischen und des heraklitischen Standpunkts, von Sein und Werden, Ewigem und Bewegung als Ursprung der idealistischen Dialektik und als Vorbild angerufen wird. Sein Denkprinzip vollendete das Christentum. Dessen Gottesbild der drei Personen (Hypostasen) und der zweifachen Natur, von Tod und Auferstehung vermag die Gottheit lebendig, in sich differenziert zu denken, als Vorgriff auf den Weltprozeß und als Integration von Zeit und Ewigkeit. Schon der junge F. Schlegel sprach das deutlich aus: „Die Religion ist die zentripetale und zentrifugale Kraft im menschlichen Geiste, und was beide verbindet.“26 Deshalb ist „die Religion nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.“27
So kann von einem „Irrationalismus“ der Romantiker keine Rede sein. Freilich nötigte ihr integraler Ansatz dazu, die Defizite der Zeit ans Licht zu ziehen. Das romantische Verfahren ist überall kritisch-metakritisch, legt es doch Kritik universal und das Bewußtsein (als Geist) holistisch aus. Das machte den Zusammenstoß mit Rationalisten unausweichlich. Gegen den abstrakten und negativ universellen Charakter ihrer Begriffe war schon Herder aufgestanden, hatte das konkret Besondere, Individuelle dagegen gesetzt, genetisches Verfahren und Sinnverstehen – kurz einen kulturellen Pluralismus „objektiver“ Individualitäten, die nur eine „ganzheitliche“ Methode erkennbar macht. Rationalistische Verfahrensweisen, in Wissenschaft oder Politik, beruhen auf Kombination des abstrakt Einzelnen mit dem abstrakt Universellen; Idealismus und Romantik dagegen auf einem „organischen Verfahren“, das die Logik nie trennt vom Inhalt. Garant dafür war der substanziale Charakter der Idee, deren Verlust die ausgreifende Verstandeskritik A. W. Schlegels nachging: Ich behaupte, so rief er 1803 dem Berliner Publikum zu, „daß der herrschende Charakter unserer Zeit eben in einem allgemeinen Verkennen der Ideen […] besteht. […] Von der ursprünglichen Bedeutung beim Plato, der darunter Urbilder, Dinge im göttlichen Verstande, in welchem Denken und Anschauen eins ist, versteht, denen allein wahres Sein zukomme und worin Allgemeines und Besonderes nicht, wie in der Erscheinungswelt Begriff und Individuum, getrennt, sondern unzertrennlich verknüpft sei; […] ‚Ideen sind unendliche, selbstständige, immer in sich bewegte, göttliche Gedanken.‘ Ich möchte sie auch organische Gedanken nennen, nach deren Hinwegnahme nur ein toter Mechanismus zwischen den […] untergeordneten Begriffen übrigbleibt.“28 Das geht auch auf Kant, dessen Kategorischer Imperativ diesen negativen Charakter der Freiheit exakt ausdrückt. Wie auch die liberale Gesellschaft Kultur und Sinn nur ausgrenzen kann, nicht entfalten: weil sie über kein Mittel verfügt, die konkurrierenden Werte ideell zu vermitteln und absolut „aufzuheben“ – so ohne wahre „Mitte“ bleibt.29. Dieser multikulturell-kosmopolitisch-evolutionären Form kontrastiert die totalitär-gewaltförmige Variante der Revolution, die die universelle Gleichheit sofort erzwingen will. Hier gewinnt die Negativität des Begriffs ihre schrecklichste Realität: „Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens […] Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod.“, so der Hegel der Phänomenologie.30
Darüber hinaus verwirklicht die Romantik eine faszinierende Verschmelzung mystischer und prophetischer Motive in ihrem Geschichtsdenken. Von konkreten Befunden steigt sie auf zu einer triadischen Deutung des Geschichtsprozesses: Sie findet – als vormalige Einheit – den idealen Bezugspunkt im Vergangenen und konstatiert von da aus Verfall und Dissoziation. Die Krise: Höhepunkt und Umschlag sind in der Gegenwart erreicht. Doch schenkt der Fall die Möglichkeit zum Neubeginn. Insofern zeigt romantisches Gesichtsdenken eschatologischen Charakter. Im Unterschied aber zur „schlechten Unendlichkeit“ der Fortschrittsdoktrin verheißt die romantische Vision eine Rückkehr zum Ursprung, eine Wiederanknüpfung ans Absolute. Diese Kreisbewegung entspricht der Logik des Mythos, der Leben aus heiligem Ursprung erneuert. Aber die reine Zyklik des Mythos wird hier konterkariert und durchdrungen von einem linearen Gedanken, der drei Zeiten kennt und dem Individuellen positiven Wert beimißt. So entsteht ein rhythmisches Schema, eine Spirale, ein in sich differenzierter Kreisgang, der zum Pol zurückführt, doch nie im selben Punkt: eine faszinierende Dialektik von Un-Umkehrbarkeit. Das erste meint Fortgang in der Zeit, das andere Einkehr in Ewigkeit.
Das zeigen auch die folgenden beiden Texte.
Es verblüfft, wie einfältig Novalis‘ Geschichtstraktat: „Die Christenheit oder Europa“ (1799/1826) meist gelesen wird. Der Autor gilt für sentimental und naiv, wo er doch gar kein Epochenbild im Sinn moderner Geschichtsschreibung beabsichtigt – vielmehr Gesichtspunkte seiner geschichtsphilosophischen Schau gibt. Er zeichnet ein dreigliedriges Schema mit dem christlichen Mittelalter als positivem Bezug, der Neuzeit als kritischem Interim, schließlich der Gegenwart mit dem Keim des Neuen. Die alte Christenheit wird gezeichnet als Theokratie, als geschlossene Gesamtkultur, vielfältig zwar, doch kreisend um ihre göttliche Mitte. Die Kirche deutet er als genossenschaftliche Solidarform, fundiert in Prinzipien der Gegenseitigkeit: Polyphonie. Das kirchlich-theologische Deutungsmonopol garantiert die einheitlich-umfassende Erklärung der Welt. Fasziniert zeigt Novalis sich vom religiösen Symbolismus; der naturwissenschaftlichen Innovation kann er nichts abgewinnen. Sie habe die Erde zum „unbedeutenden Wandelstern“ entwertet.
Kirchlicher Niedergang, dann Reformation beendeten die Einheitskultur. Doch bejaht Novalis das evolutionäre Moment. Er glaubt an Erneuerung auf anderem Niveau. Diese Intuition steigert sich zur Verheißung einer „freien Theokratie“. Steht er zum Erneuerungsgedanken grundsätzlich positiv, so hat er die Reformation doch scharf kritisiert und quasi eine neukatholische Sichtweise lanciert. Ein Muster wird sichtbar, dessen Kriterien bis heute Verwendung finden. Ihm ersetzt Luther die universale Kirche als complexio oppositorum partikularistisch, die religiöse Symbolik durch den trockenen Buchstaben, die lebendige Autorität von Tradition und Papsttum durch die papierene der Bibel, die Glaubensvielfalt durch Credo, Gebet, Unterweisung, den mehrfachen Schriftsinn durch Buchstäblichkeit – die zudem im Deutungskampf politisiert wird. Vor allem hat natürlich das Schisma den neuzeitlichen Spaltpilz in die Welt gebracht. „Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protestantismus keine herrlichen großen Erscheinungen des Überirdischen mehr, nur sein Anfang glänzt durch ein vorübergehendes Feuer des Himmels, bald nachher ist schon die Vertrocknung des heiligen Sinns bemerklich: das Weltliche hat die Oberhand gewonnen, der Kunstsinn leidet sympathetisch mit […] die Zeit nähert sich einer gänzlichen Atonie der höheren Organe, der Periode des praktischen Unglaubens. Mit der Reformation wars um die Christenheit getan.“31 Novalis erkennt die moderne Säkularisierung als Prozeß, dessen Destruktion bei Papst, Kirche und Bibel ansetzt, den Glauben ganz erfaßt und schließlich Religion an sich für unsinnig erklärt. „[…] der Religions-Haß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Not oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle.“32 Er deutet also die Herrschaft der Rationalität als Reduktion, die nicht nur Geheimnis und Transzendenz ausscheidet, sondern auch persönliche Spontaneität und geschichtlichen Wert: All dies geht nicht auf im Schema formaler Logik und rechnerischen Kalküls. Ihrer absoluten Dimension beraubt, werden Mensch und Welt zur Endlosschlaufe, die nirgendwo ankommt. Die Misere vollendet die Revolution: als Bürgerkrieg und Staatenkrieg. Denn: „Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen.“33 Das leistet nur die Religion. Also bedarf es einer ganz anderen, geistigen Revolution, die das unterdrückte „überirdische Feuer“ freimacht. Denn jetzt ist die Zeit der „Regeneration“, der „Auferstehung“. Vor dem Chaos der Zeit soll man nicht erschrecken: „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor.“34 Dieser Aufbruch kündigt sich in Deutschland an.
In diesem Sinn schrieb F. Schlegel zeitgleich im Athenäum: „Nichts ist mehr Bedürfnis der Zeit als ein geistiges Gegengewicht gegen die Revolution und den Despotismus, welchen sie durch die Zusammendrängung des höchsten weltlichen Interesses über die Geister ausübt.“ (Ideen, Nr. 25) “Ihr staunt über das Zeitalter, über die gärende Riesenkraft, über die Erschütterungen, und wißt nicht, welche neue Geburten ihr erwarten sollt. […] Die Antwort ist klar, und also deutet auch die Erscheinungen auf eine große Auferstehung der Religion, eine allgemeine Metamorphose. Die Religion an sich zwar ist ewig, sich selbst gleich und unveränderlich wie die Gottheit; aber eben darum erscheint sie immer neu gestaltet und verwandelt.“35
Mit patriotischem Akzent hat Schelling das romantische Welt- und Gesichtsbild 1812 zusammengefaßt im Traktat „Über das Wesen deutscher Wissenschaft“.36 Der Philosoph bescheinigt hier Deutschland einen „Sonderweg“ im positiven Sinn. War dessen Wissenschaft doch traditionell markiert durch „Liebe metaphysischer Untersuchungen“. Die verjüngten sich stets, als das Ausland Metaphysik verwarf. Der konfessionelle Zwiespalt nun hat im Reich das Entfremdungsproblem verschärft. So fällt Deutschland eine Doppelrolle zu: Auflösung zu leiden und Einheit wieder zu stiften. Metaphorisch dicht zeichnet er knapp den Gang der Theoriebildung nach: vom cartesischen Dualismus über den englischen Empirismus zum physikalisch induzierten Erkenntnisideal, dessen Effizienz mit dem methodischen Tod seiner Gegenstände wächst. Die Rationalität scheidet das Subjekt ebenso aus wie Gott, der sich in Aberglauben oder nebulöses Gefühl flüchtet. Erst Fichte setzt einen Neuanfang. Freilich bringt dessen Ableitung der Wirklichkeit aus dem Selbstbewußtsein die Erfahrungswelt zum Verschwinden. Daraus erklärt sich die Kehre. Die wahre Freiheit muß tiefer und jenseits des einzelnen Ich liegen. Das Absolute kann letztlich das Ich doch nicht sein. Der Mensch „erblickt im Grunde seiner selbst das wahrhaft Absolute: die Gottheit… An die Stelle des absoluten Ich tritt so der absolute Gott“.37 Hier genau verortet Schelling das aktuelle Interesse: „Dahin […] hat alle deutsche Wissenschaft getrachtet von Anbeginn, nämlich die Lebendigkeit der Natur und ihre innere Einigkeit mit Geistigem und göttlichem Wesen zu sehen.“38 Wie schon ihre Vorläufer proklamieren die Romantiker deshalb die Vereinigung von Glaube und Wissen. Schelling: „Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, aber ihrer Eigentümlichkeit gemäß nach Religion, die mit Erkenntnis verbunden und auf Wissenschaft gegründet ist. […] Wiedergeburt der Religion durch die höchste Wissenschaft, dieses eigentlich ist die Aufgabe des deutschen Geistes […] Jetzt fängt die Zeit der Vollführung und Vollendung an.“39
Durch die Metaphysik sei alles Große in der Welt entstanden: „Metaphysik ist, was Staaten organisch schafft […] Metaphysik ist, wodurch der Künstler ewige Urbilder“ empfängt und gestaltet. Alle Metaphysik nun, „sie äußere sich nun spekulativ oder praktisch, beruht auf dem Talent, ein vieles unmittelbar in einem und […] eines in vielem begreifen zu können, mit einem Wort auf dem Sinn für Totalität“.40 Alles Leben fordere Totalität, aber diese zerfalle ohne die Einheit. Sie aber habe die Zeit preisgegeben. Doch wo im Gemeinwesen kein organischer Zusammenhalt walte von innen, könne die Staatsmaschine ihre Bürger nur äußerlich in Schach halten, aber wie sollte „ein solcher Staat dem Krieg gewachsen sein […] ?“41
Schelling führt hier seine Geschichtsphilosophie mitten in den Augenblick hinein. Der französischen Eroberung kann man nicht widerstehen, weder mit friderizianischem Militär, noch mit unfreien Untertanen, die zudem von ihrem Privategoismus okkupiert sind. Dieser Gedanke ist weit verbreitet; in ihm verknüpft die Romantik politische Kritik mit patriotischem Aufschwung.
Zurecht sagt Oskar Walzel, daß bei aller Verschiedenheit das Gemeinsame der Romantiker in den „verwandten metaphysischen Ansprüchen“ liege.42 Sie konvergieren im Anspruch, das Absolute zu denken, auszulegen. Dies oft bildhaft als Urlicht, Urwissen, Urreligion oder Urtradition. Doch stets wird es dialektisch, als Subjekt und Objekt, endlich und unendlich zugleich gedacht. Insofern rangiert als oberster Gedanke die Einheit. „Die Einheit des Geistes“, bemerkt Jakob Baxa43, „die Einheit der Seele und des Weltalls mit dem höchsten Geiste, mit Gott, wird oft betont, sowohl von den Indern wie auch den mittelalterlichen Mystikern.“ Er verweist auf die mystische Grundorientierung der Romantik.44 So kreist romantisches Denken zumeist um die Polarität von Einheit und Vielheit. Verblüffend paßt dazu die religionswissenschaftliche Definition. „Die Metaphysik der Mystik stellt sich die Entstehung der individuellen Vielheit als Prozeß der Individuation des absoluten Einen vor. Den Höhepunkt erreicht dieser Individuationsvorgang im Ich des Menschen. Hier wird die Individualität ihrer selbst bewußt. Das ist der äußerste Grad der Entfernung von der unbewußten, undifferenzierten Einheit des Seins, zu der die Mystik im Erlebnis der unio mystica vorübergehend und in der Erlösung endgültig den Menschen zurückführen“ will.45 Die Polarität von Einheit und Vielheit löst sich in der Transformation des Vielen zur „Fülle“ der „Alleinheit“. Der Wechsel von innerer und äußerer Zentralität und die Dialektik von Glied und Ganzem bestimmen nun den Gang der romantischen Entwicklung. Unter diesem Aspekt stellen sich ihre Stationen als große Metamorphose dar, als Versuch unter der Voraussetzung des „enzyklopädischen“ Projekts einen universalen Bildungsgang zu vollziehen. Oskar Walzel und Ernst Behler46 vor allem haben von da aus die unterschiedlichen Konzepte Friedrich Schlegels als großes Kontinuum erkannt.
Der Anfang liegt in der frühromantisch entfesselten Subjektivität, die mit poetologischen und Erfahrungsformen experimentiert und in der Ironie das Medium reflexiven Schwebens entdeckt. Die chaotisch verflüssigte Welt erscheint hier als bloßer Möglichkeitsraum. Doch bald schon wird dieses intellektuelle Spiel verlassen. Der 3. Athenäum-Band bringt Friedrichs mystische Aphorismen und seine „Rede über die Mythologie“47, wo es heißt: „Es fehlt, behaupte ich, unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten […]“ Die idealistische Philosophie sollte diese „Obdachlosigkeit“ wettmachen und neuen kollektiven Zusammenhalt stiften. Kurz darauf tritt Indien mit seiner Spiritualität in diese Stelle ein. Hier macht sich der romantische Universalismus geltend: „So wie nun in der Völkergeschichte die Asiaten und die Europäer nur eine große Familie […] bilden, so sollte man sich immer mehr bemühen, auch die Literatur aller gebildeten Völker als eine fortgehende Entwicklung und ein großes Ganzes zu betrachten […]“48 Paris, wo Schlegel seine Indienforschung erarbeitete, erschien jedoch zunehmend als problematisches „Zentrum“ und die Napoleonische Expansion ein falscher Universalismus. Die Alternativen sprangen scharf ins Auge, usurpierte der Diktator doch 1804 die karolingische Würde, während der Kaiser (1806) sein Amt niederlegte. Gleichzeitig wurden die linksrheinischen Gebiete, Westfalen, die Rheinbundsatrapen rigoros gleichgeschaltet und die Freiheiten immer mehr eingeschränkt.49 Dem stand das traditionsreiche Habsburgerreich gegenüber, ein Vielvölkerstaat, dessen Regent erhaltend wirkte. Kurz: Österreich erschien als ideale Verkörperung der Reichsidee, als ständisch-landschaftlicher Organismus, verbunden durch Glauben, Kirche, Kaiserhaus. Das Reichsende und Pseudokaisertum Napoleons ließ den mythischen Nimbus auf die Habsburger übergehen, zu denen sich der Reichsgedanke nun flüchtete. Hier entspringt der Habsburg-Mythos (C. Magris). Nicht ohne Recht hat man deshalb Schlegel den „Geschichtsphilosophen Österreichs“ genannt.
Beide: Reich oder Nation erscheinen im Sinn der Romantiker als gelungene Synthesen von „Persönlichkeit und Gemeinschaft“. „Gerade durch Einfügung in den Organismus des Ganzen wird der einzelne in universellere Verhältnisse gebracht und deshalb seine eigene Individualität fester, sicher und freier.“50 Dies erscheint als direkter Ausfluß der organischen Methode. Von da aus werden wahres und falsches Kaisertum, Staat und „Antistaat“, Gesellschaft und Gemeinschaft, wahre und falsche Mitte und Nationalität abgeleitet. Kurt Hübner51 hat gezeigt, daß erst die Romantiker Rousseaus demokratisches Problem gelöst haben. Der sah, daß eine Summierung von Einzelwillen noch nicht die Integration des demokratischen Gemeinwesens leiste, daß es des qualitativen Sprungs bedürfe: von der volonté de tous zur volonté générale. Die bleibt indes dogmatisch, kann die Einzelwillen nur vernichten, nicht transformieren. Als vermittelnde Größe entdeckt erst die Romantik die Nationalität. Nur die Völker fundieren den Staat ausreichend, und nur Völker verbinden den Einzelnen mit der Menschheit. So erscheint in Volk und Nationalität noch einmal eindrucksvoll der typisch romantische Mittlergedanke.
In diesem Sinn faßt Adam Müller zusammen: „Der Staat kann daher auch keine künstlich geschaffene Einrichtung, keine vom Verstand ersonnene Erfindung sein. Er ist der vollendete Ausdruck der Idee, in der das geistige und sittliche Leben eines Volkes im Laufe seiner Geschichte zur Gemeinschaftsform gelangt. Niemand kann sich von dem so verstandenen Staate losreißen. Er ist mit ihm durch unlösbare Gemeinschaftsbande verbunden. […] Das Leben in einem Staate muß sich als eine unsichtbare Einheit zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft darstellen.“52 So ist Müllers Freiheitsidee die „typische Form, in der die Romantik ihr Freiheitsbewußtsein zur Geltung brachte“.53
1 Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Frankfurt/M. 1989
2 Romantik-Handbuch. Hrsg. von Helmut Schanze. Stuttgart 1994, S. 433
3 Richard Schröder: Die Philosophie Immanuel Kants. CD-Mitschnitt seiner Vorlesung 2006/2007. Mühlheim 2007
4 Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik. Halle 1942, S. 16
5 Christopher Herold: Madame de Stael – Herrin eines Jahrhunderts. München 1960
6 Klaus Hermsdorf: Literarisches Leben in Berlin – Aufklärer und Romantiker. Berlin 1987.
7 Alfred Götze: Ein fremder Gast. Frau von Stael in Deutschland 1803–04. Jena 1928
8 Jakob Baxa: Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration. Jena 1930
9 Adam Müller: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Hrsg. Von Walter Schroeder und Werner Siebert, 2 Bände. Neuwied/Berlin 1967
10 Ebenda; Bd. 1, S. 297–440
11 Klaus Günzel (Hrsg.): König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten. Berlin/Tübingen 1981
12 Ludwig Grote: Die romantische Entdeckung Nürnbergs. München 1967
13 Ernst Behler: Die Zeitschriften der Brüder Schlegel. Darmstadt 1983
14 Seine umfassende Romantik-Darstellung: Richard Benz: Die deutsche Romantik – Geschichte einer geistigen Bewegung. Leipzig 1937
15 Ernst Howald: Der Kampf um Creuzers Symbolik. Tübingen 1926
16 So entstammt die beste Auswahlausgabe und Systemdarstellung seinem Kreis: Johannes Sauter (Hrsg.): Franz von Baaders Schriften zur Gesellschaftsphilosophie. Jena 1925 (= Herdflamme, Bd. 14)
17 Hans Lieber (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Wiesbaden 2000, S. 303
18 Das Abwegigste in dieser Hinsicht stammt von Carl Schmitt: Politische Romantik. München 1919. Sein skurriles Pamphlet wurde von der gesamten Romantikforschung abgelehnt, erfreut sich aber bei linken und liberalen Kritikern größter Beliebtheit. Dagegen die beste Systematik bis heute: Jakob Baxa: Einführung in die romantische Staatwissenschaft. Jena 1931
19 Die beste Ausgabe wurde von Othmar Spann angeregt: Adam Müller: Elemente der Staatskunst. 2 Bde. Hrsg. Von Jakob Baxa. Jena 1922
20 Baxa, Adam Müller; S. 381
21 Ebenda, S. 382: „Man beschuldigt Sie, Sie hätten […] von dem Besitztitel der Eigentümer […] in Ausdrücken gesprochen, welche alle Eigentumsrechte erschütterten, und wodurch Sie […] den Revolutionsleuten selbst in die Hände arbeiteten.“
22 Rüdiger Safranski: Romantik – Eine deutsche Affäre. München 2007, S. 35
23 Ebenda, S. 279
24 Vgl. dazu Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990
25 Franz von Baader: Vom Sinn der Gesellschaft. Schriften zur Social-Philosophie. Ausgewählt und Herausgegeben von Hans A. Fischer-Barnicaol. Köln 1966, S. 194 ff.
26 Ideen Nr. 20 In: Athenäum, 3. Bd. 1. Stück; Athenäum – Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Hrsg. Von Bernhard Sorg, Teil II. Dortmund 1989, S. 739
27 Ebenda, S. 736
28 August Wilhelm Schlegel: Schriften. Ed. Walter Flemmer. München o. J. S. 142 f.
29 Affirmativ dazu: Richard Herzinger: Republik ohne Mitte. Berlin 2001
30 Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M. 1973, S. 330
31 Novalis: Die Christenheit und Europa. In: Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Hrsg. Von Michael Lützeler. Frankfurt/M. 1982, S. 64
32 Ebenda, S. 68
33 Ebenda, S: 76
34 Ebenda, S. 70
35 Athenäum, a. a. O. S. 740/743
36 Schelling. Sein Weltbild aus seinen Schriften. Hrsg. von Gerhard Klau. Leipzig 1925, S. 251–271
37 Wilhelm Weischedel; zit. bei: Lieber, Politische Theorien, S. 298
38 Schelling, S. 258
39 Ebenda, S. 260
40 Ebenda, S. 261
41 Ebenda, S. 264
42 Oskar Walzel: Deutsche Romantik. Leipzig 1908, S. 3
43 Jakob Baxa: Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik. Jena 1924, S. 10
44 Ernst Ludwig Schellenberg: Das Buch der deutschen Romantik – Die Sehnsucht nach dem Unendlichen. Berlin 1924
45 Gustav Mensching: Soziologie der Religion. Bonn 1947, S. 240 f.
46 Ernst Behler: Friedrich Schlegel. Reinbek 1966 und Ernst Behler (Hrsg): Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Paderborn 1958ff., bislang 35 Bände
47 A. a. O. S. 824 ff.
48 So Friedrich Schlegel in seinem Indien-Buch. Vgl. Wilhelm Bietak (Hrsg.): Romantische Wissenschaft. Leipzig 1940, S. 63
49 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. München 1983, S. 20
50 Paul Kluckhohn: Persönlichkeit und Gemeinschaft im Lebensgefühl und Denken der deutschen Romantik. Halle 1925, S. 77
51 Kurt Hübner: Das Nationale. Verdrängtes – Unvermeidliches – Erstrebenswertes. Graz 1991
52 Adam Müller: vom Geist der Gemeinschaft. Hrsg. Friedrich Bülow. Leipzig 1931, S. 38+47
53 Friedrich Bülow, in: Adam Müller: Vom Geist der Gemeinschaft. A. a. O. S. XXIII