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Schrittmacher des Kapitalismus

Von Jürgen Schwab

Die politischen und gesellschaftlichen Wirkungen der Achtundsechziger

Schaut man sich die linke politische Landschaft an, so fällt auf, daß frühere Marxisten und Linksradikale nach Jahren der Wandlung längst im kapitalistischen System der BRD angekommen sind. Die Namen sind mitterweile Legion: Joschka Fischer, Daniel Con Bendit und Jürgen Tritin – um nur wenige zu nennen. Gerade unter den Achtundsechzigern ist die Zahl der Überläufer ins kapitalistische System hoch. In den Redaktionen, Schulen und Universitäten tummelt sich diese Personengruppe.

Nachdem infolge des Zerfalls des Ostblocks die sozialistischen Utopien zerstoben sind und durch Rationalisierung die kämpferische Industriearbeiterschaft zusammenschmilzt, so tritt nun um so stärker in diesen Kreisen das Erbe zutage, das man seit jeher mit den Liberalen und Kapitalisten geteilt hatte: die „Emanzipation“ der bürgerlichen Aufklärung aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Das besondere gemeinsame Anliegen von bürgerlichen Aufklärern und linken Achtundsechzigern ist neben dem modernen Individuum der „Internationalismus“, was dem Wortsinne nach einer Fälschung entspricht, da es den selbsternannten Internationalisten nicht um den Verkehr zwischen bzw. unter (lateinisch „inter“) den Nationen, sondern um deren Auflösung und Überwindung geht. Da der Kommunismus weltweit Schiffbruch erlitten hat, möchten nun Postkommunisten und Antideutsche gemeinsam mit den Liberalen wenigstens die Menschheitsutopie einlösen. Und dazu ist diesen (fast) jedes kapitalistische Mittel recht.
Zumindest der Nationalmarxist Werner Pirker ist sich des geistesgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen liberaler Ideologie und der emanzipatorischen Linken bewußt: „Der neoliberale Geist erwies sich deshalb als hegemonial, weil er stets auch Elemente linker Gesellschaftskritik aufzunehmen, besser: zu korrumpieren imstande war. Von Autonomie und Selbstbestimmung führten die verschlungenen Wege falschen Bewußtseins zu Eigenverantwortung und Selbstvorsorge, zur Privatisierung der Lebensrisiken. Auf seine Weise hat der Neoliberalismus ‚die Linke‘ neu erfunden. Als politisch korrekte Linke, die sich oft in einem direkten Gegensatz zur sozialen Linken definiert. Da gilt dann zum Beispiel die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und damit verbundenes Lohndumping als ‚solidarisch‛ und ‚internationalistisch‛. Entsprechend erscheint die Protesthaltung gegen die Entwertung der Arbeitskraft als Wohlstandschauvinismus, ja als Alltagsrassismus der Massen.“1

Neoliberalismus und die postmoderne Linke

Ins gleiche Horn stößt Jürgen Elsässer, der in seinem Buch Angriff der Heuschrecken (2007) ausführt, daß aus der 68er-Bewegung die postmoderne Linke hervorgegangen sei, die auf „Anti-Staat, Anti-Proletariat und Anti-Nation“ setze.2 Dieser Linken geht es also nicht (mehr) um die Interessen der Arbeiterschaft, schon gar nicht um die deutscher Arbeitnehmer, sondern um individuelle Selbstverwirklichung – ob als Mann oder als Frau, ob als Kind oder als Erwachsener, ob als Deutscher oder Fremder. Aus dieser Wurzel des Individualismus heraus ist der Feminismus als nachholender weiblicher Individualismus erklärbar, wobei diese Form weiblicher Selbstverwirklichung nur auf die männliche Frau abzielt, die also im beruflichen Erwerbsleben mindestens so erfolgreich zu sein hat wie der Mann. Damit ist natürlich nicht die Gleichberechtigung der Frau in ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle gemeint, weshalb von Feministinnen wie Alice Schwarzer ein Müttergehalt rundum abgelehnt wird. Den Feminstinnen geht es um Gender Mainstreaming, also um die Angleichung der Geschlechtsrollen in der Gesellschaft. Der weibliche Mann bzw. die männliche Frau sind das Ziel. Daß homosexuelle Lebensgemeinschaften heterosexuellen Paaren gleichzustellen sind, versteht sich von selbst.
Dieser Linken geht es also nicht um die deutsche Arbeiterschaft, auch nicht um die Einführung des Sozialismus und Abschaffung des Privateigentums. Dies hatte man vielleicht einmal 1968 skandiert. Heute geht es nur noch um das Erbe der bürgerlichen Aufklärung, das die Linke über Marx und Engels vom Liberalismus übernommen hatte. Es geht um die Auflösung von Ehe, Familie, Heimat und Volk.
Dabei trennt sich diese Linke von ihrer anderen Tradition, der sozialen Frage, die es nun zu „kappen“ gilt.3 Den Achtundsechzigern ging es um den Marsch durch die Institutionen. Aber heute wollen sie nicht mehr die Institutionen bzw. das System verändern bzw. den Sozialismus einführen. Das ist vorbei. Die Institutionen dienen vielmehr der individuellen Selbstverwirklichung, wie dies Joschka Fischer als Außenminister der BRD gezeigt hat. Nicht die BRD wurde durch Fischer verändert, sondern die Institutionen des Systems haben den Joschka vom Pazifisten zum Bellizisten, also zum Kriegstreiber werden lassen. Das hatten schon die Beatles in ihrem Song Revolution gesungen. Man solle nicht die constitution (Verfassung) und nicht die institution (Institution) verändern, sondern „free your mind instead“.4 (sondern befreie stattdessen Deinen Geist)
„Die Liste der Triumphe dieser Kulturrevolution ist endlos, schreibt Elsässer, und er liefert uns eine kurze Übersicht der 68er-Errungenschaften: „Rauchen, lange Haare bei Männern, kurze Haare bei Frauen, Bärte, Miniröcke, Heroin, Jazz, Rock, Punk, Reggae, Rap, Tätowierungen, Achselhaare, Graffiti, Surfen, Motorroller, Piercing, schmale Schlipse, keinen BH tragen, Homosexualität, Marihuana, LSD, zerrissene Klamotten, Haargel, Irokesenschnitt, Afrolook, Verhütungsmittel, Postmodernismus, karierte Hosen, Biogemüse, Schnürstiefel, gemischtrassiger Sex. Heute kann man das alles (vielleicht mit Ausnahme von Achselhaaren und Biogemüse) in einem typischen Britney-Spears-Video finden.“5
Die anarchistische Parole der Achtundsechziger lautete schon damals: „Wir wollen alles, und zwar sofort!“ und: „Es ist verboten zu verbieten“.6 Es ist also alles erlaubt. Die damaligen Achtundsechziger wollten sich von ihren „Nazi-Vätern nicht mehr vorschreiben lassen, wie lang die Haare zu sein haben, wann der richtige Zeitpunkt für das Erste Mal gekommen ist und welche Schallplatten man hören darf. Der von allen Reaktionären gepredigte Verzicht war out – für Kirche, Kapital und Vaterland wollten die Teenager auf gar nichts mehr verzichten“.7

Die Befreiung der Triebe zerfraß die Nächstenliebe

Aber, so fährt Elsässer fort: „Doch die Befreiung der Triebe zerfraß auch jene Formen von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe, die die Grundlage jeder nicht-kapitalistischen Gesellschaft bilden. […] In den postmodernen Gesellschaften stimulierte die Werbung die Triebe ins Unermeßliche, sex sells anything [Sex verkauft alles]. In beiden Fällen verkümmert das Ich, das die eigenen Bedürfnisse mit denen des Nächsten und der Gesellschaft souverän ins Verhältnis setzt und allein die Grundlage für eine solidarische Welt sein kann. […] Verbindet sich der individualistische Impuls mit einer egalitären Wirtschaftsordnung, wie es die alte Linke anstrebte, so wird das eigene Glück mit dem Glück der anderen verbunden. […] Geht der individualistische Freiheitstrieb aber einen Pakt mit der Marktwirtschaft ein, wie bei den meisten Neuen Linken, entsteht ein deregulierter Manchesterkapitalismus, in dem es ‚verboten ist zu verbieten‘“.8 So wie es die Achtundsechziger 1968 forderten. So vernichteten der entfesselte Individualismus und die sexuelle Revolution „das letzte, was zwischen dem Individuum und dem totalen Markt stand: die Liebe und die Familie.“9 Deshalb standen die Randgruppen und nicht die Familien im Mittelpunkt des Interesses der Achtundsechziger, also Homosexuelle, Feministinnen, Drogenabhängige und Asylanten. Demgegenüber gilt den Achtundsechzigern der heterosexuelle Mann, der eine Familie gründen möchte, aber über kein festes Arbeits- und Einkommensverhältnis verfügt, sich deshalb der NPD anschließt, als „Faschist“. Das gleiche gilt für Eva Hermann, die nach Jahren der Irrungen und Wirrungen erkannt hat, daß sich weibliche Gleichberechtigung nicht nur auf das berufliche Erwerbsleben, sondern vor allem auch auf die Mutterolle bezieht.
Das Beispiel Elsässer zeigt uns, daß bei dem ein oder anderen auf der marxistischen Linken in den letzten Jahren die Erkenntnis herangereift ist, daß die „Emanzipation“ – also die Befreiung von Autoritäten –, die von der Achtundsechziger-Generation verfochten wurde, zu einer gegenläufigen Entwicklung von Sozialismus geführt hat – nämlich zum Liberalismus und seiner wirtschaftlichen Grundlage, zum Privatkapitalismus. Nun mag man darauf beharren, daß die Kinderkrippen in der kommunistischen DDR eingeführt wurden, aber heute werden sie von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) im Verbund mit den Kapitalverbänden vorangetrieben, welche die Frauen, gerade die gut ausgebildeten unter ihnen, an den Arbeitsplatz festzunageln gedenken. Da Frauen nun mal auch gerne Kinder bekommen möchten, man ihnen diesen biologisch bedingten Wunsch nicht immer auszureden in der Lage ist, was läge da näher, als Kinderaufbewahrungsanstalten vom bürgerlichen Klassenstaat finanzieren zu lassen. Man sieht also, wohin das Auflösungsgebot der traditionellen Familie hingeführt hat. Mit Sicherheit nicht zum Sozialismus – in der DDR waren die Rahmenbedingungen für kinderreiche Familien und die Wertschätzung der staatlichen Institution Ehe besser als in der BRD heute –, sondern zur gesellschaftlichen Atomisierung des Liberalismus. Und hierbei waren auch Marx und Engels Vordenker, denn sie knüpften ihre kommunistische Ideologie an das Erbe der bürgerlichen Aufklärung an. In der DDR jedenfalls hatte man an dieses durch Marx und Engels vermittelte bürgerliche Erbe nicht angeknüpft. Man hatte in dem Gebot der Auflösung von Ehe und Familie, was sich die Achtundsechziger der BRD auf ihre Fahnen schrieben, zu Recht „bürgerlich westliche Dekadenz“ gesehen.
Als Vordenker der zersetzenden Forderungen der Achtundsechziger können die Protagonisten der Frankfurter Schule gelten, was der promovierte Physiker und Publizist Rolf Kosiek in seinem entsprechenden Werk eindrucksvoll herausgearbeitet hat.10 Einer der Protagonisten der Frankfurter Schule, Theodor Wiesengrund Adorno gab die programmatische Losung aus, die später von vielen Achtundsechzigern nachgeahmt wurde: „Das Ganze ist das Unwahre“.11 Somit hatte Adorno die klassische europäische Philosophie auf den Kopf gestellt. Während für Aristoteles noch galt, daß das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei,12 so sollte nun – nach 1945 in Deutschland – das Ganze nicht mehr wahr sein. Deshalb galten fortan Ganzheiten wie die Ehe, die Familie, das Volk und sein Staat als unwahr. Damit war auch der Geschlechter- und Generationenkampf vorgezeichnet. Der Feminismus als nachholender weiblicher Individualismus war nun ebenso folgerichtig wie die antiautoritäte Erziehung, die ihren Ursprung in der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule besaß. Mit dieser Theorie waren die anarcholiberalistischen Achtundsechziger nicht nur die Erfüllungsgehilfen der Frankfurter Schule, die vorwiegend von jüdischen Emigranten, welche 1933 Deutschland verlassen mußten, gegründet wurde; sie waren auch die Vollstrecker der reeducation, der amerikanischen Umerziehung in Westdeutschland.13

Ein zerstörerischer Begriff  von Freiheit

Frankfurter Schule und Achtundsechziger setzten nun – bewußt oder unbewußt – den angelsächsischen Begriff von „Freiheit“ in Deutschland durch. Während der Freiheitsbegriff des deutschen Idealismus in der Tradition von Fichte, Hegel und Schelling die persönliche Freiheit dem Gemeinwesen, somit auch der staatlichen Autorität, unterordnete, davon ausging, daß die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers staatliche Autorität voraussetzt, geht man in der Tradition von Adam Smith davon aus, daß erst ein Zurückdrängen staatlicher Reglementierung die individuelle Freiheit ermögliche. Während auf den britischen Inseln und in Nordamerika von der Freiheit „von“ gemeinschaftlichen und staatlichen Zwängen die Rede ist, zielt das deutsche Denken auf Freiheit „zu“ Mitwirkung im Gemeinwesen ab. Während also der deutsche Freiheitsbegriff auf gemeinschaftliche Bindung setzt, tendiert der angelsächsische zur Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen, also zum Individualismus. In diesem Sinne gab einer der Denker der Frankfurter Schule, Herbert Marcuse, die neue Marschrichtung vor, die ihm vom Denken der westalliierten Sieger vorgeben war: „Freiheit ist Selbstbestimmung, Autonomie – das ist fast eine Tautologie, aber eine Tautologie, die sich aus einer ganzen Reihe synthetischer Urteile ergibt. Sie unterstellt die Fähigkeit, daß man sein eigenes Leben bestimmen kann: daß man imstande ist zu entscheiden, was man tun und lassen, was man erleiden und was man nicht erleiden will. Aber das Subjekt dieser Autonomie ist niemals das zufällige, private Individuum als das, was es gegenwärtig oder zufällig gerade ist; vielmehr das Individuum als ein menschliches Wesen, das imstande ist, frei zu sein mit den anderen. Und das Problem, eine solche Harmonie zwischen der individuellen Freiheit und dem Anderen zu ermöglichen, besteht nicht darin, einen Kompromiß zwischen Konkurrenten zu finden oder zwischen Freiheit und Gesetz, zwischen allgemeinem und individuellem Interesse, öffentlicher und privater Wohlfahrt in einer etablierten Gesellschaft, sondern darin, die Gesellschaft herbeizuführen, worin der Mensch nicht an Institutionen versklavt ist, welche die Selbstbestimmung von vornherein beeinträchtigen. Mit anderen Worten, Freiheit ist selbst für die freiesten der bestehenden Gesellschaften erst noch herzustellen.“14
Ein derartiger Freiheitsbegriff zielt auf Auflösung der Gemeinschaft ab, die nun mal nicht ohne Hierarchie funktionieren kann. Rolf Kosiek weist darauf hin, daß jedes menschliche Miteinander gewisser Regeln bedarf, „und alle Kulturen haben dafür bestimmte Ordnungen hervorgebracht, die, weil auf sie nicht verzichtet werden konnte, von Autorität getragen waren. Diese in Westdeutschland abzubauen, war eines der Hauptziele der Umerziehung nach 1945. Das Ansehen der Eltern, vor allem des Vaters, der Lehrer, der Vorgesetzten wurde durch den vereinten Einsatz aller Möglichkeiten in Schule und Öffentlichkeit herabgesetzt. Die junge Generation wurde bewußt zum Mißtrauen und zur Auflehnung gegen die Älteren erzogen. ‚Trau keinem über 30!‘ wurde zum Losungswort. Die ‚Familie als reaktionäre Zelle‘ der Unterdrückung der Kinder wie der Frauen sollte aufgebrochen werden.“15

Anspruchsdenken statt ­ Gemeinsinn

Insgesamt trugen viele Achtundsechziger auch durch ihren Marsch durch die Institutionen, im Sinne der „Kritischen Theorie“, zur Auflösung der Gemeinschaftstugenden bei. „Ein übersteigerter Individualismus hatte Volks- und Staatsbewußtsein weitgehend verdrängt und Anspruchsdenken an die Stelle des Gemeinsinnes gesetzt.“16 Mit Sprüchen wie „Unter den Talaren ist der Muff von 1000 Jahren“ oder „Es gehört schon zum Establishment, wer zweimal mit derselben pennt!“ wurde gezielt die bestehende bürgerliche Ordnung mürbe gemacht, was aus nationalrevolutionärer Sicht durchaus angebracht erscheint. Aber der Anarcholiberalismus bzw. Individualismus der Achtundsechziger konnte keine neue, alternative Ordnung schaffen, schon gar keinen Sozialismus, der sich nicht per Gesellschaftsvertrag aus einer Summe aus gesellschaftlichen Atomen zusammenaddieren läßt. Dieser Individualismus hat sich dann folgerichtig mit der liberalen Marktwirtschaft getroffen, die auch auf das (ökonomische) Individuum und den individuellen Utilitarismus setzt. Der typische Alt-Achtundsechziger fordert heute auch nicht den revolutionären Ausstieg aus der kapitalistischen Globalisierung, der nur über die Sammlung des sozialen Protests auf nationalstaatlicher Ebene erfolgen könnte; nein, das typische Mitglied von Attac fordert heute, das sozialstaatliche Wohlfahrtsmodell, das der Kapitalismus durch die Zertrümmerung nationalstaatlicher Souveränitäten liquidiert hat, auf die Ebene einer Weltgesellschaft zu heben. Der linke Gutmensch, der idealerweise in der „grünen“ Partei Mitglied ist, fordert eine „gerechtere Globalisierung“. Während man selbst im eigenen Land „Hartz IV“ eingeführt hatte, heult man sich über die vielen Armen im Amazonas und am Kongo aus.
Daß die Achtundsechziger als ideologische Schrittmacher des globalen Kapitalismus dienen, ist auch Thomas Wagner aufgefallen, der in der marxistischen Tageszeitung Junge Welt ausführt: „In Zeiten des wissensbasierten High-Tech-Kapitalismus geht es den intellektuellen Kopflangern der Herrschenden weniger um die Einübung von Unterordnungsbereitschaft von Kollektiven denn um den Appell an die Eigeninitiative der Individuen. Zentrale Fahnenwörter der 68er Bewegung verklären die rücksichtslose Konkurrenzgesellschaft als beste aller möglichen Welten.“17 Wagner klärt seine linken Leser über das anarcholiberalistische Erbe der Achtundsechziger gründlich auf: „Die neoliberale Ideologie bezieht einen Großteil ihrer Überzeugungskraft aus der herrschaftsgenehmen Umpolung von Begriffen und Schlagworten wie ‚Selbstbestimmung‘, ‚Autonomie‘ oder ‚Spontaneität‘, mit deren Hilfe antiautoritäre Linke einst die emanzipatorische Bewegung hatten beflügeln wollen. Als ‚Netzwerk‘ beschrieben, erhält das Projekt ungehemmter Ausbeutung heute eine unerwartet fortschrittliche Aura. Mit dem schillernden Begriff der ‚Kreativität‘ werben Exlinke und Grüne für die restlose Zerstörung des Sozialstaates.“18

Die „Kreative Klasse“

Einer der wichtigsten Stichwortgeber der Neoliberalen ist der US-Ökonom Richard Florida, der mit seiner Theorie der „kreativen Klasse“ weltweit Erfolge feiert. Das Schlagwort von der „kreativen Klasse“ begann seine Karriere als neoliberale Waffe im Stellungskrieg um die Hegemonie spätestens im Jahr 1998 in Großbritannien. Damals hatte das Kulturministerium der Blair-Regierung einen Bericht über die sogenannten kreativen Industrien vorgelegt. Individuelle Innovationsfreude und die Verwertung geistigen Eigentums wurden darin als bisher unterschätzte Faktoren wirtschaftlicher Produktivität definiert. Im Rahmen großangelegter städtischer Umstrukturierungsprojekte versah man nun ehemalige Industriestädte mit einer Infrastruktur, die auf die profitverheißende Ansiedlung kreativer Industrien zielte. Von diesem staatlich forcierten Strukturwandel im Vereinigten Königreich inspiriert, verfaßte der smarte US-Ökonom Richard Florida mehrere internationale Bestseller, die das wirtschaftliche Potential kreativen „Humankapitals“ und die Bedingungen seiner kapitalistischen Verwertung zum thematischen Schwerpunkt machen.19
Die „kreative Klasse“ sieht Florida in Wissenschaftlern, Ingenieuren, Künstlern, Managern und in all jenen Angestellten, für die die Produktion guter Einfälle für die Karriere ausschlaggebend ist. In den USA seien das 38 Millionen Amerikaner, „die ihr Wissen, ihre Intelligenz und Kreativität nutzen, um meßbare wirtschaftliche Werte zu schaffen“.20 Was für die ökonomische Produktivität zählt, ist nicht die formale Qualifikation, sondern die kreative Kompetenz all jener, die in irgendeiner Weise innovativ arbeiten. Die Angehörigen der „kreativen Klasse“ zeichnen sich laut Florida dadurch aus, daß sie Kapital aus ihren wie auch immer erworbenen Fähigkeiten zu schlagen verstehen. Ihr Betätigungsumfeld sieht er in der weltweit verbreiteten Kultur moderner Großstädte. Die dort beheimatete Populär- und To-Go-Kultur, mit ihren jungen Kommunikations- und Dienstleistungsunternehmen, ihrem Fitneßkult und hedonististischen Wertehorizont habe einen entscheidenden Anteil an der kreativen Neuschöpfung des individuellen Lebens, der Wirtschaft und der Gesellschaft. In Floridas Worten: „Die Kreative Klasse ist die normensetzende Klasse unserer Zeit. Aber ihre Normen sind anders: Individualität, Selbstausdruck und Offenheit für Verschiedenartigkeit werden der Homogenität, Konformität und dem ‚Fitting in‛ vorgezogen, die für das Zeitalter der Organisationen kennzeichnend waren.“21 Für multinationale Konzerne gehe es neben steuerlichen Vorteilen darum, für kreative Köpfe ein adäquates Lebens- und Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich diese geborgen fühlen. Denn die Global Player tendieren dazu, immer mehr an jenen Orten zu investieren, wo sie fähige und kreative Arbeitskräfte dauerhaft an sich binden können.

„… eine ausgeprägte Schwulen- und Einwandererkultur“

Die internationale Wettbewerbsfähigkeit regionaler Wirtschaftsstandorte sieht Florida an die drei T-Faktoren geknüpft. Die Zauberworte heißen: „Technologie“, die Förderung der „Talente“ der Menschen und die „Toleranz“ gegenüber anderen Lebensformen. In diesem Zusammenhang gibt Florida dem Solidaritätsbegriff eine ganz neue Bedeutung. Nicht mehr um die Unterstützung sozial Schwacher oder gar den solidarischen Kampf gegen die Ungleichheit soll es gehen, sondern um das genaue Gegenteil: die öffentliche Förderung und ökonomische Abschöpfung jener Fähigkeiten, mit denen sich die Individuen in der atomisierten Konkurrenzgesellschaft als Wirtschaftssubjekte durchzusetzen vermögen. In der Tageszeitung Die Welt gab Florida daher die Losung aus: Solidarität bestehe „in der Weiterentwicklung menschlicher Fähigkeiten“.22 Die Menschen sollten ihre Gelegenheit bekommen, „das zu sein, was sie sein möchten“.23 Auf diese Weise kann die „Kreativität eines jeden einzelnen sinnvoll genutzt werden“.24 Das sei für die „Unternehmerprofite schon deshalb günstig“, meint Thomas Wagner, „weil die kreative Entfaltung am prekären Arbeitsplatz sogar mit einer Ersparnis von Lohnkosten oder Honoraren einhergehen mag.“25
Aus neoliberaler Sicht sei die Ermöglichung von Selbstverwirklichung noch wichtiger als Geld. Die US-Zeitschrift Fortune folgerte in zynischer Konsequenz aus Floridas Thesen, daß die zunehmend verarmenden amerikanischen Arbeiter gefälligst mehr Kreativität am Arbeitsplatz entwickeln sollen, wenn sie ihre Löhne steigen sehen wollten.26 Da im Kapitalismus nur wichtig ist, inwiefern sich das Individuum im kapitalistischen Produktionsprozeß verwerten läßt, ist es nicht von Bedeutung, welches Geschlecht, welche sexuelle Orientierung, welche Religion und welche Hautfarbe dieser Mensch hat. Gegenüber Welt am Sonntag erklärte Florida: „Beides sind Indikatoren dafür, daß eine Stadt das richtige Ökosystem für Kreativität bietet. Schwule und Bohemiens treiben nicht unbedingt selbst die Wirtschaft voran. Aber wo sie sind, finden sich Innovation und wirtschaftliches Wachstum. In den USA zum Beispiel in San Francisco und New York.“27 Städte, denen es nicht gelingt, eine ausgeprägte Schwulen- und Einwandererkultur zu etablieren, seien dazu verdammt, zu Verlierern im globalen Wettlauf um ökonomische Entwicklung zu werden. Lokalpolitiker, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, müßten sich also bemühen, für die genannten Bevölkerungsgruppen attraktive Lebensbedingungen zu schaffen. Konservative Sexualmoral und restriktive Immigrationsgesetze müßten weichen, damit wirtschaftlicher Erfolg möglich werde.
„Die Schnittfläche zur Multi-Kulti- und Minderheitenpolitik des heutigen SPD-Grünen-Establishments ist unübersehbar“, konstatiert Wagner.28 Es sei daher auch nicht verwunderlich, daß Florida mit all dem bei den heutigen Vordenkern der Grünen und radikalliberal gewendeten Intellektuellen „offene Türen einrennt und zu einem der wichtigsten Theoretiker der neoliberalen Umpolung grüner Parteiprogrammatik avanciert“.29 Seine Theorie der „kreativen Klasse“ habe für diese einflußreichen Gruppen einen entscheidenden Vorteil: „Sie ermöglicht die organische Einbindung von Ideen und Praktiken einer fortschrittlichen Sexual-, Ausländer- und Minderheitenpolitik in das neoliberale Projekt“.30 Mitglieder und Wähler der Grünen könnten sich mit weltoffenen Ideen identifizieren. „Gegenüber einer konservativen Abwehrhaltung gegen alle Lebensmodelle, die nicht der heterosexuellen Paarbildungsnorm entsprechen, und den fremdenfeindlichen Ressentiments ewiggestriger Nationalisten glauben sie sich weiter als tolerante Linke definieren zu können. Aber zur gleichen Zeit sind sie mit der kapitalistischen Herrschaftsordnung einverstanden.“31
In der Wirtschaftswoche erklärte Florida seinen deutschen Lesern: „Ihr habt einen schwulen Bürgermeister in Berlin, eine Frau als Bundeskanzlerin und eine starke Kultur der Selbstentfaltung. Das sind wichtige Errungenschaften. Deutschland muß aber offener für Menschen aus aller Welt werden.“32 Der Welt am Sonntag hatte Richard Florida schon vor Jahren erläutert, daß fehlende Liberalität die Wirtschaft auf dramatische Weise schädige, denn: „Kreative Menschen ziehen in offenere Städte“, wo sie sich selbst verwirklichen könnten. „Deutschland muß lernen, noch viel mehr Vielfalt zuzulassen.“33 Während das größte Versäumnis der US-Wirtschaft in der mangelnden Förderung von Talenten zu suchen sei, leide die deutsche Wirtschaft an einem Toleranzdefizit. Deutschland habe große Standortvorteile: die Größe des Marktes, hervorragende Unternehmen, aber wie bei anderen alten Industrienationen bestehe ein eklatanter Nachholbedarf bei der geistigen Einstellung, wenn es um eine Vielfalt der Kulturen und Werte geht.34
Thomas Wagner hat nun erkannt, daß das vorherrschende liberale System heute Linkssein auf einen urbanen Lebensstil reduziere. „Schließlich werden von den Ideologen heutiger Unternehmenskultur schon seit einiger Zeit jene Leitideen propagiert, für deren Durchsetzung verschiedene Generationen von Revoluzzern seit studentenbewegten Zeiten immer wieder auf die Straße gegangen waren: Eigeninitiative, Spontaneität und Selbstorganisation. Selbst der revolutionäre Elan der Protestbewegung scheint zurückzukehren, wenn Richard Florida die menschlichen Kreativkräfte fortschrittseuphorisch zum noch unausgeschöpften Potential für die Neugestaltung der Welt ausruft.“35
Es bleibt abzuwarten, welche Taten aus der marxistischen Kritik des 68er Erbes folgen. Was die nationalrevolutionäre Position betrifft, so kann man sicherlich in der ein oder anderen Sicht aus den Schriften Rudi Dutschkes Positives herausziehen, zum Beispiel hinsichtlich eines wiedervereinigten und gegenüber den militärischen Blöcken neutralen Deutschlands. Aber bezüglich der gesellschaftspolitischen Vorstellungen ist eher Kritik angebracht. Sicherlich ist Dutschke nicht direkt verantwortlich dafür, daß seine Losungen und die anderer Vordenker dieser Bewegung heute als Fahnenwörter dem Neoliberalismus dienen. Aber schon Dutschke ging es – allerdings im marxistisch „emanzipatorischen“ Sinne – um ein „Verständnis des antistaatlichen und antiinstitutionellen Kampfes der radikalen außerparlamentarischen Opposition“. Ihm ging es nicht nur um die Überwindung des bürgerlichen Staates, sondern um die Ablehnung des „autoritären Staates“ an sich.36 Darin sind sich heute die meisten Alt-Achtundsechziger und die Manager in den Vorstandsetagen der großen Aktiengesellschaften einig. Mehr „Selbstbestimmung“, mehr „Eigeninitiative“, mehr „Spontaneität“ lautet(e) heute wie damals die Devise. Nur hat dies mit Sozialismus, wie noch 1968 gemeint, überhaupt nichts (mehr) zu tun.

Anmerkungen

1  Werner Pirker: Die Linke im „Zeit“spiegel. Der schwarze Kanal. In: Junge Welt vom 15. Oktober 2005.
2  Jürgen Elsässer: Angriff der Heuschrecken. Zerstörung der Nationen und globaler Krieg. Pahl-Rugenstein, Bonn 2007, S. 34.
3  Ebd., S. 36.
4  Zitiert nach Elsässer, ebd., S. 37.
5  Ebd., S. 37.
6  Ebd., S. 40.
7  Ebd., S. 40.
8  Ebd., S. 40-41.
9  Ebd., S. 41.
10  Rolf Kosiek: Die Frankfurter Schule und ihre zersetzenden Auswirkungen. Hohenrain, Tübingen 2001.
11  Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1951, S. 80.
12  Aristoteles: „Was aus irgendwelchen Bestandteilen so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eine Einheit bildet, also nicht wie ein Haufen, sondern wie eine Silbe, (das ist offenbar mehr als nur die Summe seiner Bestandteile). Eine Silbe ist nicht nur gleich den Lauten (die sie bilden): die Silbe ba ist nicht gleich b + a, und Fleisch ist nicht gleich Feuer + Erde. Denn löst man diese Verbindungen auf, so besteht das Fleisch und die Silbe nicht mehr, sondern nur noch ihre Elemente (die Laute a und b), das Feuer und die Erde.“ (Aristoteles: Metaphysik. In: Aristoteles. Hauptwerke. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Nestle. 8. Auflage, Kröner Verlag, Stuttgart 1977 (= Kröners Taschenausgabe;  Bd. 129), S. 115–149, hier S. 126–127) – Aristoteles weiter: „So ist denn der Staat von Natur früher als das Haus und jeder einzelne von uns. Denn das Ganze muß früher sein als der Teil. Zerstört man nämlich den ganzen Organismus, dann wird es keinen Fuß und keine Hand mehr geben, außer dem Namen nach, wie man etwa auch von einer steinernen Hand sprechen kann; denn im Tode ist sie nicht mehr als eine solche.“ (Aristoteles: Politik. In: Ebd., S. 285–335, hier S. 288–289)
13  Vgl. hierzu Caspar von Schrenck-Notzing: Charakterwäsche. Die Politik der amerikanischen Umerziehung in Deutschland. Ullstein. Frankfurt/Main/Berlin 1993 (= Ullstein Buch Nr. 33174).
14  Herbert Marcuse: Repressive Toleranz (1965). In: 1968. Enzyklopädie. Zusammengestellt von Rudolf Sievers. Erste Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008 (= Edition Suhrkamp 3337), S. 14–164, hier S. 146–147.
15  Rolf Kosiek: Die Frankfurter Schule […], 2001, S. 134.
16  Ebd., S. 50.
17  Thomas Wagner: Kreativität als Herrschaftsideologie. Neoliberale Klassentheorie. Teil 1: Richard Florida oder die Offensive der schöpferischen Erneuerer. In: Junge Welt vom 5. Mai 2007, S. 10.
18  Ebd., S. 10.
19  So zum Beispiel: Richard Florida: Der Aufstieg der Kreativen Klasse (The Rise of the Creative Class. And How It‘s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life), New York 2002.
20  Welt am Sonntag, 14. Juli 2002. Zitiert nach Thomas Wagner, ebd.
21  Zitiert nach Thomas Wagner: Kreativität als Herrschaftsideologie […]. In: Junge Welt vom 5. Mai 2007, S. 10.
22  Die Welt, 20. März 2006. Zitiert nach Thomas Wagner, ebd.
23  Ebd.
24  Ebd.
25  Thomas Wagner, ebd.
26  Fortune, Ausgabe vom 10. Juli 2006, zitiert nach Thomas Wagner, ebd.
27  Welt am Sonntag, 14. Juli 2002. Zitiert nach Thomas Wagner, ebd.
28  Thomas Wagner, ebd.
29  Ebd.
30  Ebd.
31  Ebd.
32  Wirtschaftswoche, 41/2006, zitiert nach Thomas Wagner, ebd.
33  Welt am Sonntag, 14. Juli 2002, zitiert nach Thomas Wagner, ebd..
34  Zitiert nach Thomas Wagner, ebd.
35  Ebd.
36  Rudi Dutschke: Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf. In: 1968. Enzyklopädie. Zusammengestellt von Rudolf Sievers. Erste Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008 (= Edition Suhrkamp 3337), S. 252–262, hier S. 254.

 
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