Für die Gegenwart heißt es, die schwerste Bedrohung zu erkennen. Die größte Gefahr geht heute von der weltweiten Durchsetzung der modernen Lebensordnung aus. Instrumentelle Vernunft und technokratischer Ökonomismus errichten eine Herrschaftsordnung der totalen Immanenz. In ihr verschwindet der Mensch als metaphysisches Wesen, er wird spirituell erdrosselt. Er verliert so auch seine Freiheit, die in der Beziehung aufs Ewige, Außerzeitliche gründet. Nur die Struktur Gottes hält ihn frei von irdischer Vereinnahmung, dem unerbittlichen Zugriff der Weltlichkeit der Welt. Solange davon noch eine entfernte Erinnerung weiß, sollten wir deren subversives Potential nutzen, bevor uns die geistige Weltnacht verschlingt.
Gefordert wird also nicht Anpassung, sondern Widerstand. Es ist zu fragen, wovon solcher Widerstand ausgehen kann, worauf er sich gründen soll. Deutschland, deutscher Geist und deutsche Kultur boten früher dafür gute Voraussetzung. Doch NS-Ideologie, Niederlage und totale Zerstörung setzten einen offenbar irreversiblen Bruch, auch in den Köpfen. In- und auswärtige Intellektuelle haben ihn bereitwillig aufgenommen, entstand doch historisch so die Lage, nun alles abzutun, was Linken und Liberalen ein Stachel sein mochte. Dazu kommt heute die Politisierung der Weltgesellschaft und ihre Fokussierung auf Leistungs- und Konkurrenzprinzipien im Zeichen der Globalisierung. Sie tragen bei zum generellen Wandel des Menschenbilds, provozieren den Paradigmenwechsel von ‚Transzendenz‘ zu ‚gesellschaftlicher Relevanz‘. Doch so verschwindet auch der Horizont, der den Menschen als Geschöpf Gottes und kosmisches Wesen einst umgab: die Fragen nach dem Weltinnenraum, der Seele, der „Existenz“. Der Irrationalismusvorwurf lauert an jeder Ecke. Selbst die altehrwürdig idealistische Geist-Kategorie wird mit Ideologiekritik überzogen und gilt als potentiell totalitär. Begreiflich nur angesichts der Überschwemmung angelsächsischer Theorien im Verein mit amerikanischer Unterhaltungsindustrie und imperialer Weltambition. Herrschaft funktioniert eben stets zweifach: politökonomisch und mental. In wechselseitig-doppelter Begründung erwächst so eine Struktur, die alles Widerstrebende ausschließt, umso mehr als die „westlichen Werte“ mit universalistischem Anspruch auftreten. Diesem gilt es entgegenzutreten, und zwar im Namen der Freiheit. Zu zeigen wäre, daß sehr wohl alternative Konzepte von Universalität denkbar sind. In der politisch und kulturell fragmentierten Situation des modernen (weltanschaulichen) Weltbürgerkriegs wird man in der Heimat vielfach mit Gegnern rechnen müssen, doch jenseits davon mögliche Partner finden. Ein solcher könnte Rußland sein.
2004 veröffentlichte Ian Buruma ein bemerkenswertes, kulturphilosophisches Pamphlet mit dem Titel „Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde“. Analog zu Edward Saids Orientalismus-Begriff, der den Orient als westliches Klischee „dekonstruierte“, wird hier nun ein antiwestliches Konstrukt als polemisches Leitmotiv in allen kulturkritischen und antiglobalistischen Strömungen der Gegenwart identifiziert. Natürlich kommen auch islamische Positionen vor. Doch ist Burumas Blickwinkel viel weiter gefaßt. Er behandelt zahlreiche Bewegungen, die positiv sich einem religiösen Impuls verdanken und die „Entdeckung des Eigenen“ propagieren, den besonderen Wert jeder Individualkultur betonen, damit aber dem systemischen Internationalismus widerstreben. Doch zeigt sich schnell, daß solche Reserven nicht nur aus Asien kommen, sondern Europa selbst zugehören: die „Antiwestler“ in Europa sind selbst ursprünglich. So gilt das große Kapitel „Der Geist des Westens“ Rußland, seinen Religions- und Kulturdenkern im 19. und 20. Jahrhundert, die westlicher Rationalität vorwarfen, ihr fehle „Spiritualität und das Verständnis menschlichen Leids“. Mehr noch, die Pointe des Buchs liegt im Nachweis, daß nichteuropäische Antiwestler im Aufbau ihrer Ideen stets auf jene kritischen Theorien der internen Opposition in Europa selbst zurückgreifen. Historisch ging den asiatischen Antiimperialisten die westliche Kulturkritik voraus. Doch woraus schöpfen die Antiwestler? Von den „üblichen Verdächtigen“: den Deutschen! So wird Burumas Pamphlet zur aktuellen Lage – verblüffend genug – ein Buch gegen das geistige Deutschland, das traditionelle natürlich. Denn tatsächlich: ob japanische Kyoto-Philosophen, russische Slawophile oder islamische Spiritualisten – sie alle verarbeiten deutsche Philosophie und Mystik, manche die Romantik, andere Hegel, wieder andere Heidegger. Umgekehrt lädt uns das ein, vorgeblich „kontaminiertes“ Ideengut nun von außen her neu zu gewinnen, auch mit neuen Partnern durchaus – allerdings zum Preis der Aufgabe einer gemeinsam „westlichen Front“.
Im Konsens der Einsichtigen ist die Rede von der Wahlverwandtschaft deutschen und russischen Geistes wirklich erstaunlich. Das allgemeine Bewußtsein solcher Nähe jedoch verlor sich im 20. Jahrhundert. Weltkriege, Bürgerkriege, Totalitarismus, Kalter Krieg hatten, schier unüberwindlich, einen Gegensatz aufgerichtet, der erst heutiger Annäherung weicht. Die schlägt sich auch in einem engen wissenschaftlichen Austausch nieder: Seit den 1990er Jahren finden eine Reihe bemerkenswerter Konferenzen statt, gibt es Publikationen zur russischen Philosophie und ihrem Verhältnis zur deutschen. Was freie Einsicht ins Schrifttum voraussetzt, die es zur Sowjetzeit nicht gab. Wichtig war hierfür der Einschnitt des Jahres 1988 mit der Tausendjahrfeier der Christianisierung Rußlands. 988 war der Großfürst von Kiew, Beherrscher der alten Rûs, mit seinem Volk konvertiert und hatte sich dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt. Gleichzeitig ist 1988 ein Beschluß des Politbüros erfolgt, der zahlreiche „vaterländische“ und idealistische Philosophen zur Veröffentlichung freigab, die vordem Tabu waren. Deren Rezeption hat seither stets zugenommen, so wie die Rückkehr des ganzen Landes zu seiner christlichen Tradition: Volksfrömmigkeit und Klosterleben sind aufgeblüht, selbst der Staat orientiert sich geistlich. So scheint sich zu erfüllen, was der Autor Valerij Tarsis 1967 schrieb: „Mit neuer Hoffnung blicke ich auf mein Land – es wird auferstehen und sich wie ein Phönix aus der Asche erheben, seine Schwingen ausbreiten zu neuen Höhenflügen (…) Jeder unvoreingenommene Mensch wird an Rußlands Zukunft glauben, wenn er seine Vergangenheit aufmerksam betrachtet, das, was einst war, mit dem vergleicht, was ist; der nicht nur ins Innere des russischen Landes schaut, sondern auch ins Innere der russischen Seele, und in den Spiegel dieser Seele, in die russische Kunst, Literatur und Philosophie. Dann wird er sich davon überzeugen, daß Rußland seit den Uranfängen seiner Existenz beständig, leidenschaftlich, widerspruchsvoll und unaufhaltsam den Weg zu Gott suchte, den echten tiefen Glauben. Nie hat sich das russische Volk mit dem goldenen Mittelweg zufrieden gegeben. Nie hat es die Selbstgefälligkeit erfolgreicher Bourgeois zu seinem Ideal gemacht (…)“
Die beiden Grundkräfte – Westeuropas wie Rußlands – sind Christentum und Antike. Deren Erbe wurde in der lateinischen Kirche freilich in römischer Tradition rezipiert; dagegen wurzelt Rußland im byzantinischen Griechenland. Das hat den besonderen Charakter der Orthodoxie in ihren autokephalen Kirchen begründet, deren neuere Patriarchate – nach den ursprünglichen in Alexandrien, Jerusalem, Antiochien und Konstantinopel – durch byzantinische Missionierung entstanden (Rußland, Serbien, Rumänien, Bulgarien). Seit der islamischen Eroberung gerieten sie in die Abhängigkeit des Kalifats, so daß beim Fall von Byzanz 1453 Rußland als einzig freies Land im christlichen Osten nun zur orthodoxen Vormacht aufstieg.
Östliche Frömmigkeit ist weniger wissenschaftlich als erfahrungstheologisch und charismatisch geprägt: Die heilsgeschichtliche Tat Christi hat die Welt neu gemacht, hat den Menschen in ihr erlöst, gewandelt. So versteht sich Theologie als Erfahrung und Zeugnis des Neuen Lebens, ist weniger ein begriffliches Reden über Gott als vielmehr die „Aktualisierung der göttlichen Gegenwart im Menschen“, weniger dogmatisch als spirituell in den Schriften der Väter fundiert.
Daher kommt der „apophatische“ Charakter östlicher Theologie: Die Offenbarung ist ein Mysterium, das nicht intellektuell analysierbar, aber vermittels der Gnade erfahrbar ist.
Zentral bedeutsam die spätbyzantinische Unterscheidung von Wesen und Energien Gottes, die Gegenstand der Hesychiasmus-Kontroverse war. Greogor Palamas (1296–1359) hat verdeutlicht: das Wesen Gottes bleibe uns unergründlich, doch haben wir Anteil an seinen Wirkungen.
Hierin gründen der synergetische Aspekt, der kosmische Charakter und die mystische Tendenz östlicher Frömmigkeit. Gott und Mensch wirken also im universalen Heilswerk zusammen.
Der Verwandlung und Verklärung des Lebens steht dabei als westlicher Topos der Rechtfertigungsgedanke gegenüber, der sich römischer Rechtstradition verdankt. Dem Osten aber geht es um die Gottwerdung des Menschen. Die Väter sagen: Christus ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott gleich werde.
Dieser Anruf gilt nicht nur dem Menschen, sondern der ganzen Schöpfung. So ist das „ganze Weltall berufen, in die Kirche einzutreten (…) So wird es nach dem Weltende in das himmlische Reich Gottes, in den neuen Himmel und die neue Erde verwandelt“. (Galitis) Das ist der kosmische Zug der Ostkirche.
Besondere Bedeutung im Jahreskreis kommt dem 6. August zu, dem Fest der Verklärung Christi durch das Licht auf dem Berg Tabor. Es ist das Taborlicht, das in der östlichen Frömmigkeit leuchtet, dem der Mystiker teilhaftig zu werden und das der Ikonenmaler darzustellen sucht. Bildnerische Ikonographie und Glaubenspraxis sind tief geprägt durch solche Motive: Aufstieg, Verinnerlichung, Verklärung, Licht, Verwandlung. So bestimmt die Ostkirche ein lichtmetaphysischer, platonischer Zug. Der Kult selber ist Lichtgeschehen, das Licht wird hier zum „dramaturgischen Akteur“.
Die Ostkirche ist liturgisch. Wie der Gläubige in der und durch die Liturgie lebt, so bestimmt östliche Theologie den Menschen gar als „liturgisches Wesen“. Auch bei uns besinnt man sich darauf, so der gegenwärtige Papst. In den 1920er Jahren war die „liturgische Bewegung“ aktiv; ihr Zentrum war Maria Laach, deren Abt Ildefons Herwegen im Vorwort zu R. Guardinis „Vom Geist der Liturgie“ (1918) schrieb: „Die ganze Schöpfung lobt in der Liturgie den Schöpfer, der einzelne spiegelt in sich das ganze Universum.“
So ist Ostern das Hauptfest der Orthodoxie, sie ist eine Osterkirche, wie anders der Westen seine Kreuzestheologie hat und zumal die Protestanten den Karfreitag.
In harter Differenz zu ihnen ist die Ostkirche extrem bildergläubig: die Ikonen haben sakrale Bedeutung gleich wundertätigen Reliquien, sie sind Fenster des Himmels in unsere Welt, Einbruchstellen des Göttlichen. Die Ikone ist kein Kunstbild, vielmehr Kult- und Idealbild, das auf die „Urikone“ Christi selbst zurückgeht. Das Ende des Bilderstreits 843 wurde zum Festtag der Orthodoxie, deren Hymnus jubelt: „Der Sohn, aus dem Vater unsagbar hervorgestrahlt, wurde in zwiefacher Natur aus der Frau geboren. Da wir ihn sehen, verleugnen wir nicht die Ausprägung seiner Gestalt. Wir malen sie und verehren sie voll Vertrauen.“
Hauptträger des Glaubens wurden die Mönche, wie in Byzanz so in Rußland. Gegenüber dem aktiven Zug des westlichen Christentums sind sie kontemplativ gestellt.
Der sakrale Raum wurde prägend. Anders als der Longitudinalbau der römischen Basilika sind die östlichen Kirchen meist Kreuzkuppelkirchen, Zentralbauten mit raffiniertem Lichteinfall, festem ikonographischen Programm und herrlichen Mosaiken. Nach der Istambuler Hagia Sophia wurde zum russischen Urtyp die Kiewer Sophienkathedrale, von griechischen Baumeistern in vollendet mittelbyzantinischem Stil errichtet und kostbar mosaiziert. Geheimnisvoll leuchten die himmlischen Personen aus dem Goldgrund und der ewigen Tiefe des Raumes und strahlen auf die Gläubigen herab: Christus Pantokrator aus der Kuppel und die segnende Mutter in der Apsis. Die räumliche Struktur östlicher Kirchen ist trinitarisch inspiriert, sie schafft lauter Dreiteilungen. Symbolisch wird der Tempel zur imago mundi, gibt ein Bild von Erde, Himmel und Jenseits. So entstehen sakrale Verdichtungen auf den Altarraum hin und zur Höhe strebend, denen die gegenläufige Bewegung der Gnade entspricht. Auf sie antwortet der Mensch liturgisch. Die Bilderwand, Ikonostase, die Altar und Gläubige trennt, entspricht den beiden Naturen Christi.
Es war Oswald Spengler, der das magische Lichtempfinden des Ostens versucht hat zusammenzufassen. Über das pneumatische Wir der ergriffenen Gemeinde schreibt er: „Aber die Seelen in der Tiefe sind etwas Vereinzeltes; das Pneuma ist eins und immer dasselbe. Der Mensch besitzt eine Seele, aber am Geiste des Lichts und des Guten nimmt er nur teil; das Göttliche läßt sich in ihn herab, es verbindet so alle Einzelnen dort unten mit dem Einen in der Höhe. Dieses Urgefühl ist etwas ganz einziges. (…) Und über alles ergießt sich schimmernd das höhlenhafte Licht, das immer davon bedroht ist, durch eine gespenstische Nacht verschlungen zu werden.“
Fragt man nach dem Charakter altrussischer Frömmigkeit, so bieten sich vier typische Erscheinungen an. Pilgertum und Wanderschaft stehen für eine populäre Erfahrung, die das soziale Leben tief prägte; das Herzensgebet meint eine zentrale Gebetspraxis; der Starez als Weisheitslehrer war nicht aus der Alltagskultur wegzudenken wie die Ikonen nicht aus der religiösen Verehrung.
„Der Typus des Wanderers aus dem Volke ist eine äußerst charakteristische russische Erscheinung“, so Nikolai Berdjajew. „In jedem russischen Menschen lebt etwas von diesem Geiste der Wanderschaft.“ Tatsächlich waren in Altrußland ständig zahllose Menschen unterwegs, die die unendlichen Weiten des irdischen Zarenreichs auf der Suche nach dem ewigen Gottesreich durchzogen. Viele pilgerten jahrelang. Sie brachen alle bürgerlichen Brücken hinter sich ab, verkauften Haus und Hof und begaben sich auf die Wanderschaft. Ihre vielfach verschlungenen Weglinien erinnern geradezu an den unendlichen Mäander der islamischen Kalligraphie und Ornamentik, symbolisieren sie doch beide die Ewigkeit Gottes. Der Mensch als homo viator versinnbildlicht die Einsicht in das Transistorische und Initiatische unserer Existenz. Ihm wird das Relative und Ephemere des Daseins bewußt, aber auch die Notwendigkeit, sich ‚auf den Weg zu begeben‘. Für Walter Nigg, so sein Buch über den Pilger 1954, gründet diese Mentalität in der eschatologischen Haltung Jesu und der frühchristlichen Gemeinde. Er beschreibt Jesus als das „Urbild des Pilgers“. Bei Luther lesen wir in der „Kirchenpostille“, man dürfe „dies Leben auf Erden nicht anders ansehen denn als ein Waller oder Pilgrim das Land, da er durch reiset, und seine Herberge, da er über Nacht lieget; denn da denkt er nicht zu bleiben (…) Denn ihr seid nicht darum Christen worden, daß ihr allhier auf Erden herrschen und bleiben sollet (…) darum denket und richtet euch, als Pilgrim auf Erden“. Die russischen Quellen wissen uns viel zu berichten über die Pilgerschaft, speziell der Heiligen. So schreibt Serafim von Sarow († 1833), der große Heilige des 19. Jahrhunderts: „Wer sich liebt, der kann Gott nicht lieben (…) Wer in Wahrheit Gott liebt, betrachtet sich als ein Wanderer und Fremdling auf dieser Erde, denn bei seinem Hineilen zu Gott schaut er in der Seele und im Geist nur Ihn allein.“
Doch machten auch völlig Namenlose diese Erfahrung. So jener Pilger, durch dessen „aufrichtige Erzählungen“ der Westen im 19. Jahrhundert erst Kunde erhielt vom russischen Wandergeist. Der auf dem Athos verfaßte Lebensbericht gibt ein reiches Bild des asketischen Daseins, der Starzen und der östlichen Spiritualität überhaupt. „Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist meine Habe: auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles. In der 24. Woche nach Pfingsten kam ich in eine Kirche zur Liturgie, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die Thessalonicher im 5. Kapitel der 17. Vers; der lautet: Betet ohne Unterlaß.“ Der behinderte Mann, der zuvor alles verlor, Haus und Weib, war zu dem Zeitpunkt schon 13 Jahre unterwegs! Das Initialerlebnis der Predigt senkt wie ein Blitz den unauslöschlichen Wunsch in sein Herz. Das Bibelwort will er verstehen, was ihn schließlich gar zum esoterischen Sinn des Glaubens führt. Er durchwandert die weite Welt, gescheite Leute auszufragen. Doch alle bleiben ihm die Antwort schuldig, reagieren ganz konventionell. Kaum verwunderlich, wie der weise Starez, den er endlich trifft, bestätigt: „Was ist das Gebet? Und wie lernt man beten? Für diese, obwohl allerwichtigsten Fragen wird man bei den Predigern selten (…) Erklärungen finden, weil solche Erklärungen schwieriger zu fassen sind (…) auch bedürfen sie eines geheimen, geheiligten Wissens, nicht nur einer schulmäßigen Gelehrtheit.“ Das eigentliche Ziel von Glauben und Gebet enthüllt der hl. Serafim: „Gebet, Fasten, Wachsein und alle die anderen Werke sind wohl an sich gut, doch liegt die Bedeutung unseres christlichen Lebens nicht etwa nur darin, daß wir sie ausführen, obwohl sie sicher notwenige Mittel sind. Der wahre Sinn (…) besteht in dem Erlangen des Heiligen Geistes.“
Der Starez, der unseren Pilger in die mystische Gebetspraxis einweihte und seinem Glauben zu Durchbruch und Erfüllung verhalf, war einer der vielen, gütigen Seelsorger im alten Rußland. Als spirituelle Führer komplettieren sie das Christentum um den im Westen unbekannten Guru, Weisheitslehrer, Meister – eine charismatische Erscheinung. Ohne offiziellen Rang lebten sie am Rand der Klöster, eremitengleich in relativer Einsamkeit. Um sie herum eine lose kleine Gemeinschaft dienender Brüder. Die Ratsuchenden wurden hier gastlich aufgenommen, dem Starez zugeführt, der keinen Unterschied nach Stand und Namen machte. Einem jedem suchte er hilfreich beizustehen: „Die Verzweifelten richtete er wieder auf, und von den Trübseligen nahm er die dunklen Schatten hinweg.“ (Smolitsch)
Der Höhepunkt des asketischen Lebens im russischen Mittelalter fällt ins 14. und 15. Jahrhundert; eine religiöse Renaissance erleben wir im 18. und 19. Gerade das Starzentum entfaltete sich nun zur vollen Blüte. Manche Eremitagen entwickelten sich regelrecht zu geistlichen Zentren, die gern auch von Intellektuellen aufgesucht wurden, so Optina mit den Starzen Leonid und Makarij – ein ganzes Jahrhundert (1828–1921) lang ein geistiger Magnet. Zum Starez Amwrosij († 1881) pilgerten Dostojewskij und Wladimir Solowjow, Rußlands großer Philosoph, gemeinsam. Der Weltdichter der „Brüder Karamasow“, der seine tiefe Erfahrung im Roman zur ungeheuren Figur des Starez Sossima gestaltet hat, schrieb über den Besuch beim Klausner: „Ich sage, daß von den Gebeten dieser Demütigen und nach Einsamkeit und Stille sich Sehnenden die Rettung Rußlands ausgehen wird.“
Die heiligen Männer schöpften aus dem Hort ostkirchlicher Spiritualität, der großen Sammlung griechischer Kirchenväter, der Philakolia. Diese „Tugendliebe“, „Liebe zur geistigen Schönheit“ (russ: „Dobratoljubije“), die auch die Pilgererzählung ganz beherrscht, umfaßt Texte asketisch-mystischen Inhalts vom 4.–15. Jahrhundert. Das mehrbändige Werk beruht auf der mühevollen Kompilation eines Athos-Mönchs im 18. Jahrhundert, erschien griechisch 1782 und russisch 1793. Es hebt an mit Makarius d. Ägypter (um 390) und endet mit einer Lehrschrift des Grogor Palamas’ (1296–1359), dem theologischen Stern der byzantinischen Renaissance. Da die Philakolie im Rußland des 19. Jahrhunderts kolossal wirkte, sind ihre Gedanken für eine Skizze russischer Frömmigkeit wichtig. Ihre Meditationstexte sind Glaubenszeugnis, Weltorientierung, Tiefenpsychologie, Kosmologie und praktische Heilsanleitung in einem. Alle versuchen, dem Menschen Gott zuzuführen. Dazu muß er sich vom Joch der Welt und seiner inneren Unfreiheit losmachen. Es geht um Selbstdisziplin, Überwindung. Die inneren und äußeren Schranken, die auf dem Glaubensweg hinderlich sind, müssen fortgeräumt werden, sind doch des Menschen größte Versuchungen stets die Weltlichkeit der Welt und der Egoismus seines Ichs. Ziel ist der Aufstieg zu Gott; erreicht wird er über die Stufen der Konzentration – Meditation – Kontemplation. Den Weg zu beschreiten, fällt schwer: wird der Adept doch von wahren „Dämonenschwärmen“ absorbiert, sein Herz durch die „ganze Welt des Irdischen zerrissen“, so Makarius; sein Bewußtsein ringt mit dauernden Hirngespinsten. „Wie ein Mückenschwarm drängen sie heran und stören [unsere] innere Sammlung.“ Der Mensch „vermeint zwar, vom Kopf aus alles in der Seele zu steuern und eilt den Vorstellungen nach. Derweil geht das unbewachte Herz eigene Wege und verfällt Sorgen und Leidenschaften“. (Theophan d. Klausner) So verkommt das Bewußtsein zum willenlosen Schauplatz von Impulsen, Assoziationen, Emotionen von innen und wahllosen Impressionen von außen. Kurz, „das egozentrische Selbst macht sich mit all seinen Gewohnheiten geltend und hindert den Verstand, sich zu sammeln, das Herz, sich für Gott zu erwärmen“. (Selawry)
Es gilt, so Makarius, den Kampf mit den eigenen Gedanken aufzunehmen und Herr seines Bewußtseins zu werden. Dieser Konzentrationsgedanke, der den diffusen Zustand überwinden und zur Sammlung, Einheit führen soll, zieht sich durch alle Texte der Philokalie. Diese mystisch universellen Motive sind auch in anderen Konfession und Religionen identifizierbar. Doch anders als die lateinische Kirche hat der christlichen Osten, vergleichbar dem indischen Yoga, eine methodische Praxis der Versenkung ausgebildet. Es geht um „Achtsamkeit“, darum, alle Gedanken in jedem Moment auf Gott zu richten. „Was auch immer auf seine Seele und sein Gemüt einwirken mag, er bleibt in der Gegenwart Gottes.“ (so die ‚altägyptische Spruchsammlung‘ der Philakolie)
Erfüllung findet dies Programm in Theorie und Praxis des Herzensgebets. Das Herzensgebet, kein individuelles Bittgebet, ist denkbar knapp, lautet es doch: „Herr, erbarm Dich meiner!“ Als elementare Gebetsformel jedoch vermag es den ganzen Umfang des Glaubens zu fassen. Seine Entfaltung und praktische Anwendung schildert eindrucksvoll das Pilgerbuch. Mantragleich funktioniert es als heilige Konzentrationshilfe, die das Innere aufschließt. Erst spricht es der Beter, dann murmelt er, tausendfach, bis die Worte autonom werden. Zuletzt „betet es“ selbst in ihm. Neben praktischen Kniffen (wie der Atemregulierung) bleiben Beharrlichkeit und Geduld entscheidend, bis der Beter Jesum gleichsam einatmet. Der Begnadete tritt aus dem Zeitfluß heraus und schaut im reinen Bewußtsein das ewige Licht der unerschaffenen Güte Gottes, so wie der hl. Basilius sagt: „Eine unbeschreibliche Kraft der Bilder war in ihnen, da sie einen reinen und nicht zerstreuten Geist hatten, so daß sogar der Ton des Wortes Gottes in ihnen war.“
Legendenhafter Überlieferung (Nestorchronik) zufolge gab der russischen, einst nach Byzanz entsandten Delegation die Begegnung mit Liturgie und Sakralkunst den Ausschlag, Christ zu werden. Niemals hatten sie „ein solches Schauspiel und solche Schönheit gesehen (…) Wir wissen nur, daß dort Gott unter den Menschen wohnt und daß ihr Gottesdienst den aller anderen Länder übersteigt. Diese Schönheit können wir nicht mehr vergessen“. Besonders Ikonen haben Rußland seither geprägt und die Volksfrömmigkeit schillernd gestaltet.
Die Ikonen als Kult- und Andachtsbilder sind Urbilder der geistigen Welt, die zwischen der Sphäre des Göttlichen und Menschlichen vermitteln. Sie bilden nichts vordergründig Faßbares ab, sind nicht naturalistisch; vielmehr provozieren sie unsere Wahrnehmung. Der Ikonenmaler stülpt die natürliche Perspektive um, zeigt Unter- und Draufsichten gleichzeitig, nimmt den Körpern ihre Plastizität, die Figuren werfen keine Schatten, koloriert wird nicht mit Lokalfarben, sondern nach spirituellen Gesichtspunkten. Kurz, er gestaltet dem illusionistischen Bildverständnis entgegen. Historisch besitzt die Ikonenkunst drei Wurzeln: im ägyptischen Mumienporträt, den Katakomben und der Ikonographie des spätantiken Herrscherkults. Ihre reiche Kunst des 5.–8. Jahrhunderts wurde im byzantinischen Bilderstreit (726-843) gebrochen; dessen Ikonoklasmus will nun den Symbolisierungsimpuls der christlichen Kirche wieder ins Bildverbot des AT zurücknehmen. Deshalb die Zerstörung der meisten Bildwerke (Mosaiken, Fresken, Ikonen), bis die ikonenfreundliche Partei sich im mörderischen Kampf theologisch durchsetzt. Ihr christologisches Argument faßt den Erlöser als „Urikone“ selbst. Wer die Ikone ablehnt, weist Christus zurück. Eingebettet ist diese Ästhetik in die platonisch-neuplatonische Metaphysik mit ihrer charakteristischen Verknüpfung von Ideen- und Seinslehre. Pseudodionysos faßt das Konzept zusammen: „Das Bild aber, voll Gnade, läßt den Christen teilhaftig werden an der Heiligkeit des Urbildes und wird selbst zum Mysterium. Es ist Abbild des Unsichtbaren und vermag durch die Betrachtung des Sichtbaren zur göttlichen Schau empor zu tragen.“
Die Heiligkeit beginnt beim Malvorgang. Der Malermönch „erfindet“ nicht individuell, er bedient sich vorgegebener Formen aus Schnitt- und Musterbüchern. Mit Fasten und Beten reinigt er sich innerlich. Die einzelnen Schritte des Malvorgangs soll er mit höchster Achtsamkeit und in tiefer Demut ausführen. Das läßt sich mit spirituellen Disziplinen anderer Kulturen vergleichen, so den zen-buddhistischen Übungen des Bogenschießens oder der Teezeremonie. Pawel Florenskij hat in seinem berühmten Buch über den Ikonostas (1922), dessen Übersetzung im Jahr 1988 die intensive Rezeption des genialen Autors im deutschsprachigen Raum angestoßen hat, das Problem der Ikone theologisch weiter vertieft. Beim Malen schreitet der Malauftrag von hell nach dunkel fort, begonnen wird mit Gold. Über dies Gold bemerkt Pawel Florenskij zurecht, es sei keine normale Farbe, eine „Überfarbe“ vielmehr, ein „Jenseits der Farbe“, Symbol des Absoluten und göttlichen Lichts, das als Seinsgrund alle Schöpfung wirke und auch die Ikone hervorbringe. „Das Malen einer Ikone, dieser anschaulichen Ontologie, wiederholt die grundlegenden Stufen der Göttlichen Schöpfung, vom Nichts (…) bis zum Neuen Jerusalem, der heiligen Kreatur.“ Das bedeutet, daß das göttliche Licht zum eigentlichen Akteur wird: „Für die Ikonenmalerei setzt und gründet das Licht die Dinge, es ist ihre objektive Ursache, die eben deshalb nicht als etwas nur Äußerliches verstanden werden kann; es ist ihr transzendentes schöpferisches Prinzip, das sich durch sie manifestiert, sich aber nicht in ihnen erschöpft.“
Die östlichen Ikonen sind katholischen Reliquien vergleichbar. Sie vergegenwärtigen die Verewigten auf wunderbar magische Weise. In der Ikone leuchtet die übernatürliche Präsenz des Heiligen durch seine irdische Symbolgestalt hindurch. Sie ist ein Fenster, durch das die himmlische Welt uns erscheint, und wir selbst stehen im Zentrum des Geschehens. Das macht die „umgekehrte Perspektive“. So entsteht dem Gläubigen die Chance, die Hermetik des profanen und materiellen Weltsystems zu durchbrechen. Deshalb schrieb Florenskij angesichts der Stalinschen Kirchenverfolgung: Ikonen vernichten, bedeute, „die Fenster zuzumauern“.
Ein nationalrussisches Denken konnte erst spät sich entwickeln. Es fällt ins 19. Jahrhundert. Im Mittelalter hat die Mongolenherrschaft nach 1240 die russische Erde mindestens 200 Jahre zurückgeworfen. In die anschließende Moskauer Zeit fallen die Anfänge der Autokratie, deren neuere Form die Romanows seit 1613 perfektionierten, zumal Peter d. Gr. in seiner Modernisierungsrevolution. Sein Regime hat die Landesidentität tief entfremdet und den russischen Dualismus verstärkt: zwischen Kirche und Altgläubigen, zwischen Reich und Land, den beiden Hauptstädten, Stadt und Dorfgemeinde, Intelligenz und Volk, Staat und ursprünglicher Gemeinschaft. Wenig geliebt waren die Ausländer, mit denen die zaristische Verwaltung funktionierte. Kontakt mit dem Ausland bekamen breite Schichten erst durch die Kriege Napoleons, die mit dem Sieg der Heiligen Allianz endeten. Im Effekt provozierte der französische Usurpator auch ein neues Nationalgefühl in Deutschland und Rußland, die beide durch Polens Teilung zu Nachbarn geworden waren. Seitdem vollzog sich nun ein enger kultureller Austausch. Dynastische Verflechtungen und der intellektuelle Kontakt erzeugten so eine historisch einzigartige Nähe. Das ist hoch zu veranschlagen für die erste Jahrhunderthälfte. Trotz schwerster Bedrückung durch die Autokratie in der Ära Nikolaus I. (1825–55) und der nachmaligen Entwicklung zum Polizeistaat hat Rußland im 19. Jahrhundert eine sprühende Entwicklung in Literatur und Philosophie genommen. Verschiedene Phasen heben sich voneinander ab: die 1820er – 1850er Jahre stehen im Zeichen der Rezeption deutscher Philosophie. In dieser Zeit hat Rußland seine Kultur der Gutsbesitzer. Sie studieren an deutschen Universitäten, was sich bis 1914 fortsetzt. Das wichtigste Manifest der idealistischen Intelligenz vor 1914, der Sammelband „Wechi“, vereinigt sieben Autoren, von denen sechs im deutschen Reich akademisch ausgebildet waren! Nach 1856 rücken andere Schichten nach: Es formiert sich die berühmte Intelligentija. Die wendet sich realistischen Prinzipien zu, geht als Volksozialisten aufs Land, radikalisiert sich nihilistisch, adaptiert den westlichen Positivismus und schließt sich in Teilen dem Marxismus an. Durch soziale Isolation und die Ausweglosigkeit ihrer Initiativen hat die Intelligentija die Entfremdungserfahrung des Intellektuellen in der modernen Gesellschaft vorweggenommen. Aus diesem Grund veralten ihre Zeugnisse nicht, so die poetischen Beschwörungen Tschechows und Gorkis. Trotz sich verschärfender, politischer Konflikte und sozialer Verwerfungen, die in der Revolution von 1905 eskalierten, erlebte Rußland seit der Jahrhundertwende im „silbernen Zeitalter“ noch einmal eine unvorstellbar geistige Erfüllung. Doch wurde der Antagonismus zwischen Idealisten und Materialisten unüberbrückbar, bis schließlich die Bolschewiki 1917 mit der 3. Revolution die messianische Idee nihilistisch vollstreckten: als Engführung des russischen mit dem proletarischen Messianismus. Die Idealisten wurden 1922 ausgewiesen, andere unterdrückt und liquidiert. Ihre Gedanken lebten nur kryptisch fort, bis sie in der Reformära der 1980er Jahre sie flaschenpostgleich wieder auftauchten und heute die Debatte gewichtig beeinflussen.
Der bestimmende Zug russischen Denkens liegt im Drang zum Absoluten, seinem Maximalismus. Der zeigt sich bisweilen im Hang für Extreme, vielfach in seinem Streben nach Totalität. Der emigrierte Simon Frank hat darüber 1925 vor der Berliner Kant-Gesellschaft referiert: „Der russische Geist ist sozial durch und durch religiös. Er strebt nach Heiligkeit, nach religiöser Verklärung. Der vielleicht größte Unterschied zwischen westeuropäischem und russischem Geist ist die [modere] Differenziertheit, Abgesondertheit einzelner Gebiete und Werte“, dem er sein Streben nach Ganzheit, Totalität entgegensetzt. „Alles Relative, woraus es auch bestünde (…) hat als solches für den Russen gar keinen Wert. Es erhält seinen Wert nur durch seine Beziehung zum Absoluten (…) erst als Äußerung und Erscheinungsform des Absoluten, der absoluten Wahrheit und des absoluten Heils. Darin besteht der prinzipielle Radikalismus des russischen Geistes, wovon der politische Radikalismus nur eine Verzerrung und Entstellung ist, verursacht dadurch, daß der Geist von seiner wahren, nämlich religiösen Wurzel schon losgerissen ist. Andererseits ist der bekannte russische Nihilismus, der einen dauernden Krankheitszustand des russischen Geisteslebens bildet, nichts anderes, als die Kehrseite, der negative Pol, eben dieses Radikalismus. Der russische Geist kennt keine Mittelposition, entweder alles oder nichts – ist seine Parole.“
Diese russische Mentalität, ihr gesinnungsethischer und metaphysischer Zug, traditionell mit asketischer Praxis und „Tugendliebe“ verbunden, prägte sich im neueren, philosophischen Denken zwiefach aus: als mystisch-kosmozentrische Strömung, die in der All-Einheitslehre Solowjows gipfelt und eine andere, mehr prophetische, die geschichtsphilosophisch, anthropozentrisch, existenzialistisch gerichtet ist, deren prominentester Exponent Nikolai Berdjajew (1874–1948) wurde. Erscheint jene mehr statisch-kontemplativ, so diese anarchisch und apokalyptisch. Rücksichtslos verkündet sie das Prinzip der Freiheit. Hier lag das aufrührerische Potential im Russentum. Zurecht sagt Berdjajew, die einzig revolutionäre Kraft in der Welt sei der Geist, die göttliche Energie, die von den dumpfen Gewalten, die gesellschaftlich ihr Unwesen treiben, unterdrückt sei. Eschatologisch, auf das nahende Gottesreich gerichtet, sind russische Denker meist, zumal seit dem 15. Jahrhundert Moskau als das „3. Rom“ verstanden wurde, von Starez Filofej 1524 zur christlichen Endzeitgestalt verklärt. Aus dem Schrecken der Welt sich nach deren Überwindung und dem Durchbruch einer neuen Weltzeit, eines kosmisch erfüllten Lebens zu sehnen, überrascht angesichts des Katastrophencharakters russischer Geschichte kaum. In „Wahrheit und Lüge des Kommunismus“ (1953) bemerkt Berdjajew dazu: „Das messianische Bewußtsein blieb im russischen Volk jahrhundertelang lebendig und erfuhr im Lauf der Zeit eine Reihe von Metamorphosen. Nach der tragischen Krise des religiösen Schismas des 17. Jahrhunderts führte es ein unterirdisches Dasein in den maximalistischen Sekten und wurde über die Jahrhunderte hinweg der führenden Kulturschicht des 19. Jahrhunderts, den russischen Denkern und Dichtern, vermacht. In säkularisierter Form erlebte es eine Renaissance bei den russischen Revolutionären und ging in eine neue Form ein beim Anarchisten Bakunin.“ Von eschatologischem Geist erfüllt ist auch die Dichtung Dostojewskijs, dessen Werke Arthur Moeller van den Bruck 1906–19 deutsch herausbrachte, eine Edition, deren ungeheure Wirkung ein kulturgeschichtlich einzigartiges Faktum darstellt. In seinen Romanen habe Dostojewskij, so Moeller, eine bewußt russische Weltanschauung offenbart. „Dort ist der Ausdruck des russischen Wahnsinns, der Tragödie im Russentum, der Fleischwerdung all seiner mystischen Verinnnerlichung und hektischen Geladenheit.“ Dostojewskij hat selbst die russische Idee zu bestimmen gesucht, so in seiner berühmten Rede auf Puschkin (1880), deren Hauptmotive von Rußland als dem „Gottträgervolk“ sprechen und ihm eine spezifische Universalität zuordnen. Das Motiv der All-Einheit, das russisches Denken eng mit der deutschen Spekulation verbindet und mit der Metaphysik überhaupt, ist platonischen Ursprungs, wurzelt im neuplatonischen Nous- und dem patristischen Logos-Denken. Gustav Wetter hat 1996 den Zusammenhang deutsch-russischen Philosophierens auf die griechischen Ursprünge hin systematisch erkundet. Er legt dafür konstitutive Prinzipien frei, wie: Dialektik, Prozeßhaftigkeit, Paradoxie und vor allem Totalität. Er sagt dazu: „Als Idee der Ideen eignet dem plotinischen Nous eine interne All-Einheits-Struktur.“ Die wird im deutschen Idealismus transzendental rekonstruiert, bei den Slawophilen entwickelt und von Solowjow in seinem Riesenwerk „Kritik der abstrakten Prinzipien“ (1880) systematisiert. Wenn Plotin das Prinzip spiritualistisch formuliert – „Jedes Wesen hat die ganze Welt in sich und schaut sie in jedem anderen Wesen, so daß alles überall ist, alles ist alles und ein jedes Wesen ist alles und die Herrlichkeit ist ohne Grenzen.“ – so verblüfft die Begeisterung selbst des Materialisten Lenin angesichts der Hegelschen Logik: „Genial (…) ist der Grundgedanke des universellen, allseitigen, lebendigen Zusammenhangs von allem mit allem.“
Deutsches und russisches Denken ist im 19. Jahrhundert eng verbunden. Es läßt sich sagen, daß Idealismus und Romantik, nach ihrem deutschen Zusammenbruch in den 1830er Jahren, weiterlebten in der russischen Kultur. Je mehr Texte der Interpret kennt, je mehr Denker er vergleicht, desto größer werden wechselseitig Erhellung und Deutung sein. Stark gewirkt haben östlich der deutschen Grenzen vor allem Leibniz, Böhme, Baader, Schleiermacher, in erster Linie aber Hegel und Schelling. Dies auch deshalb, weil neumetaphysisch das deutsche Denken nach Kant prinzipiell die Aporien der dogmatischen Aufklärung, die Reduktion menschlicher Erkenntniskraft auf die Verstandesrationalität metakritisch überwinden will. Dafür werden integrale Bewußtseins- und komplexe Wahrheitstheorien entwickelt und systematisch auf Geschichte und Gesellschaft angewandt. Dies Programm haben die russischen Intellektuellen fortgeführt.
Drei Schriften dieser Jahre brachten ihr Denken in Fluß: der 1. Philosoph. Brief Tschaadejews (1829/36), das polemische Anti-Rußland-Buch des Marquis Custine (1843) und die rußlandfreundliche Erkundung des deutschen August von Haxthausen (1847–52), der in der bäuerlichen Landgemeinde einen Urkommunismus entdeckte. Tschaadejew verneinte bitter jeglichen Wert russischen Lebens, Custines liberaler Blick maß den Zarenstaat nur mit Verachtung, während Haxthausen seine romantisch geschärfte Wahrnehmung kreativ auf seine Reiseerfahrung anwandte und im autochthonen Bauerntum ein großes menschliches und Kulturpotential erkannte. Hieraus entwickelte sich die Debatte der russischen Romantiker, der Slawophilen, über Sinn und Bestimmung eigener Kultur, über den Charakter orthodoxer Religion, den Gang der Geschichte und Segen oder Fluch des petrinischen Zarismus, während antagonistisch ihre Freund-Feinde, die „Westler“, den Umbau russischer Gesellschaft nach westlichen Verfassungsprinzipien forderten und Peters Modernisierungsdiktatur rechtfertigten.
Ganzheit, Fülle, Zentralität und Spaltung, Atomismus, Entfremdung – also der analytische „Code“ der Modernität schlechthin – bezogen sie nun, wie schon die deutschen Intellektuellen, auf Programme, Länder, Kulturkreise, Religionen und Epochen. Entfremdung besteht im Bewußtsein, im Wissen, im sozialen Leben, aber auch in der spezifisch modernen Entwicklungslogik; so hatten es die Schlegels, Novalis oder Schelling in Hauptschriften untersucht, die alle die Wiedervereinigung von Glauben und Wissen postulieren.
In diesem Sinn schreibt Ivan Kirejewskij: „Der Hauptcharakter des gläubigen Denkens besteht in dem Streben, alle einzelnen Teile der Seele zu einer einzigen Kraft zu vereinen, jenen inneren Mittelpunkt des Wesens zu entdecken, wo Verstand und Wille und Fühlen und Gewissen und das Schöne und das Wahre (…) in ein einziges lebendiges Ganzes zusammenfließen, und die echte Persönlichkeit des Menschen in ihrer ursprünglichen Unteilbarkeit wieder herstellen.“ Dem stellte er das Prinzip der Spaltung gegenüber, Spaltung von Gedanke, Wissenschaft, Staat, Gesellschaft, während in Rußland (jedenfalls dem vorpetrinischen) ein besonderes Streben nach Ganzheit walte.
Positiv verbindet alle Slawophilen das Prinzip Sobornost (von „sobor“, Konzil), was vom christlichen Gemeindegedanken abgeleitet, Gemeinschaftlichkeit, Zusammensein bedeutet. Da in Altrußland sich die Struktur einer bürgerlichen Gesellschaft nicht entwickeln konnte, blieb als Vision des Sozialen die Idee geisterfüllter Gemeinschaft leitend. Alexander Chomjakow (1804–60) hat sie grundsätzlich entwickelt. Gott, so schreibt er, könne nicht allein mit der Vernunft begriffen werden, er sei nur der Totalität des menschlichen Geistes zugänglich. Er offenbare sich nicht nur in der Schrift, sondern in der ganzen Kirche und der Fülle ihrer Tradition. Die bestimmt er als „freie Theokratie“: „Die Kirche ist keine Autorität, wie auch Gott nicht Autorität ist, Christus nicht Autorität; denn Autorität ist für uns etwas Äußerliches. Nicht Autorität, sondern Wahrheit und zugleich das Leben des Christen, sein inneres Leben.“ Hier wurzelt auch der Antietatismus der Romantiker, der bei den Anarchisten zur generellen Institutionsfeindschaft fortging. „Im Westen“, schreibt Konstantin Aksakov, „werden die Seelen getötet, indem man sie durch die Vervollkommnung der staatlichen Formen, durch perfekte Polizeiorganisationen ersetzt; das Gewissen wird durch das Gesetz abgelöst, innere Antriebe durch das Reglement, sogar die Wohltätigkeit verwandelt sich in eine mechanisches tun; im Westen gilt alle Sorge den staatlichen Formen.“ Dem wird ein Denken im Gemeindeverband entgegengestellt. Das Volk ist eine große Kraft und lebendige Verbindung, das verbindet, während der Egoismus trennt. „Im Gemeindeverband werden die Personen nicht vernichtet, sondern sagen sich lediglich von Ausschließlichkeit los, um ein harmonisches Ganzes zu bilden (…) Sie erklingen in der Gemeinde (Obtschina) nicht als Einzelstimmen, sondern als Chor.“ Der allgemein menschliche Chor baut sich aus den Volkstümern auf, deren Verschiedenheit großer Reichtum ist. Tragisch, wenn ein Volkstum „verstummt und verschwindet“ und vollends, wenn „die Menschen selbst ihr Volkstum nicht kennen und nicht kennen wollen, indem sie es gegen die Nachahmung fremder Volkstümer eintauschen, in welchen allein sie eine allgemein-menschliche Bedeutung zu sehen träumen“.
Ein Problem entstand da, wo der Zerfall traditionaler Gemeinschaft im sozioökonomischen Antagonismus der modernen Gesellschaft, dem atheistischen „System der Bedürfnisse“ (Hegel), politisch und menschlich als spezifische Entfremdung erkannt wurde. Daher umkreisen die Brüder Schlegel das Projekt einer „neuen Mythologie“, ja erhoffen von der idealistischen Philosophie mythische Zentrierung und Gemeinschaftsstiftung. Zeitlich versetzt, haben diese Konzepte auch die russischen Meisterdenker des „silbernen Zeitalters“ fasziniert, die im Bewußtsein nahender Katastrophen symbolistische Kunst produzierten, Nietzsche diskutierten und die Religionsgeschichte ausschöpften. Zu ihnen gehörte auch der junge Pawel Florenskij (1882–1937), der Theologe und „russische Faust“. Das „Ideal der Gemeinschaft“, so meint er damals, „war der russischen Seele von je überaus nah, es entfaltete in ihr seine Leuchtkraft als (…) Aufforderung zum rechten Leben.“ Sobornost wurzelt altrussisch im Mysterium, das ganze Volk spricht durch die Lawra. Als in der Revolutionsgesellschaft von 1924 die utopische Suchbewegung der ästhetischen Avantgarde theoretisch und performativ neue Gemeinschaftsbildung erzeugen will, entwickelt Florenskij im „Puppentheater der Jefimows“ dafür ein esoterisches Modell. Das Puppentheater beschreibt die Situation, in der eine Wanderbühne festliche Erregung in den von Not und Entbehrung zerstörten Alltag eines Dorfs bringt. Nun scheint die Atmosphäre urplötzlich umgekehrt, die Menschen von sakraler Erschütterung betroffen. Die Wirkung des Puppenspiels ist derart, daß es die tiefsten Emotionen freisetzt. Außer Spielern und Publikum erlebt man ein Drittes. So wird durch den Strom des Geistes das bürgerliche Publikum zum Chor geeint, ja zur mythischen Gestalt. Wir treten zurück ins Szenarium der antiken Tragödie – heraus aus der ontologischen Leere des Alltags, hinein in eine heilige Dimension, in die Fülle. Die Zuschauer überkommt große Harmonie. Einst waren wir vereint im Paradies, dann getrennt. Jetzt wird das Puppentheater zum mythischen „Herdfeuer“, das Mittel zur neuen Gemeinschaft. Sein Feuerschein kündet die Rückkehr des Paradieses an.
Die Chiffre einer neuen Mythologie zeichnet Florenskij im eschatologischen Bild. Es wird zum letzten Zeichen einer russischen Tradition, die erst im gewaltförmigen Kollektivismus der Kommunisten unterging. Vorderhand war es nur den Emigranten möglich, die Fackel weiterzureichen. 1922 wies Lenin 174 Intellektuelle aus. Sie haben im Westen das kulturelle Leben befruchtet. Bolschewistischer Schrecken und Nihilismus hat ihnen vollends bestätigt, daß das Leben von 1914 nicht mehr trug. Die ‚kritische Epoche‘ kam jetzt auf den Gipfel innerer Zersetzung, um den Weg zu einer neuen „organischen Kultur“ freizumachen. Die sollte den Individualismus überwinden und eine religiöse Neugeburt ermöglichen. Sie muß Gott zu einer das ganze Leben bestimmenden Norm machen und so die Integration der widerstreitenden Energien leisten. Berdjajew erkannte die tiefe Verwandtschaft des liberalen mit dem sozialistischen Materialismus, seine ökonomisch-politische Übermächtigung des Menschen. Weshalb er ebenso wenig zum Anwalt des demokratischen Kapitalismus wurde als zuvor Herzen oder Bakunin. Im Gegenteil: Der Ökonomismus sei die ruchloseste Weltanschauung der Geschichte, Anbetung des Mammons und Abkehr von Gott. Deshalb war sein Fazit: „Es muß in der Welt eine gewaltige Reaktion (…) gegen die Herrschaft der äußeren sozialen Bestimmtheit und der äußeren Politik beginnen, eine (…) Revolution im Namen der Hinwendung zum inneren geistigen Leben, und zwar nicht nur zum persönlichen, sondern auch zum überpersönlichen geistigen Leben.“
Das große russische Denken: erstrebte es nun ein System gegliederter Totalität, ein organisches Weltbild in den Spuren Platons, des kosmischen Christentums und des deutschen Idealismus oder durchzuckte es die Wirklichkeit als mystischer Anarchismus im Horizont von Krisen und Katastrophen, stets suchte es emphatisch nach Freiheit. Diese Freiheitsvision bleibt attraktiv in einer Situation, die ein ganz differenter Freiheitsdiskurs bestimmt. Doch die Begriffe von Freiheit divergieren, sind längst nicht ausgemacht, tief strittig. Das zeigt sich bis in die Philosophie hinein. Rußland hat in den 1990er Jahren eine Neuauflage der Slawophilen-Westler-Debatte erlebt. Die Westler freilich sind radikalisiert, sie instrumentalisieren die abgetane Sowjetherrschaft und nutzen die Globalisierung als Rückenwind. Daraus entsteht eine, Deutschland vergleichbare ideologiepolitische Lage, in der die Agenten der Internationalisierung per „Vergangenheitsbewältigung“ die eigene Tradition als gefährlichen „Sonderweg“ diskriminieren. Die politische Funktionalisierung des Denkens ist dabei Programm. Ihnen hält Andrej Ermitschev entgegen: „Die Philosophie ist Metaphysik (…) Sie ist das Wissen um das Ewige, das (…) zur Erkenntnis und Bewertung des Vergänglichen gebraucht wird.“