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Jahre der Entscheidung

Von Frank Lisson

Zur Neuausgabe eines Werkes von Oswald Spengler

Spenglers Werk „Jahre der Entscheidung“ hat einst sogar mehr Absatz gefunden als dessen dickleibiges Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. Der nachstehend wiedergegebene Text ist ein Auszug aus dem Vorwort des Herausgebers zur nun im Ares Verlag vorgelegten Neuauflage.

Als Spengler der Einladung nachkam, am 3. Februar 1930 vor der Patriotischen Gesellschaft in Hamburg zu sprechen, war sein Blick auf die Dinge nicht mehr der des Autors von Der Untergang des Abendlandes. Ein inhaltsschweres Jahrzehnt lag hinter ihm, das mit erhebenden wie mit niederdrückenden Erlebnissen nicht gegeizt hatte: der rasche Erfolg und die damit verbundene öffentliche Anerkennung seines Frühwerks um 1920, dann, nach kurzen, enttäuschend verlaufenden Versuchen, Einfluß auf politische Kreise und Wirtschaftsverbände auszuüben, Abkehr von der Politik. Der Lebenswunsch, als Dichter und Denker direkt in die Geschehnisse eingreifen und sie lenken zu können, schien nicht in Erfüllung gehen zu wollen.
Für den überlegenen, weitblickenden Berater großer, absolutistisch regierender Herrscher, wie es sie in der Renaissance und vor allem im 18. Jahrhundert an den Höfen Europas gegeben hatte, fand sich in der Weimarer Republik kein Platz. Das demokratische Zeitalter war angebrochen, und das brachte in Spenglers Augen buchstäblich kein Verständnis mehr auf für ein Naturrecht, wonach Politik und Herrschaft die Sache von nur ganz wenigen seien, nämlich von solchen, die nach Art frühneuzeitlicher Patrizier oder nach dem nie erreichten Ideal echter Geistesaristokratie durch Leistung, Begabung und angeborene Autorität dazu befähigt wären, über ein in Ständen geordnetes entpolitisiertes Volk zu regieren. Die einzige Hoffnung bestand darin, daß die Demokratie, gemäß der Kreislauflehre des Polybios, bald entarten und einen Tribunen hervorbringen würde, der, wie der Duce in Italien, alle Entscheidungsgewalt wieder auf sich vereinte. Doch ein deutscher Mussolini, dessen Habitus und politische Potenz wenigstens an das Bild vom modernen Cäsar heranreichte, sei weit und breit nicht in Sicht.

Rückzug und Resignation

So zog sich Spengler ab 1924 wieder in die Theorie zurück, in die Spekulationen über die Anfänge von Geschichte, seiner eigentlichen und tiefsten Leidenschaft. Er suchte nach den metaphysischen Bedingungen bei der Entstehung der „Menschenseele“, dem Quell aller Geschichte, rang mit den Urfragen von Kausalität und Schicksal, wählte einen neuen Standpunkt beim Blick auf die Menschheit, indem er sie, wie einst Herder und Goethe, als ein Ganzes zu erfassen versuchte, und gelangte doch zu keinem befriedigenden Ergebnis. Darauf waren Phasen schöpferischer Depressionen gefolgt. 1927 erlitt er einen Schlaganfall. Dann plagten ihn schwere Erkrankungen des Magens und des Blutes, von denen er sich, trotz ausgedehnter Genesungsreisen nach Spanien und Italien, nie mehr ganz erholen sollte. Seit Kindertagen an schwachen, überfeinerten Nerven leidend, hatten ihn die turbulenten Ereignisse in Deutschland seit 1918 zwar zeitweilig zu beachtlichen publizistischen Leistungen angetrieben, aber auch allmählich zermürbt und gezeichnet.
Fotos aus den Jahren um 1930 lassen einen durch erbliche Veranlagung und die Einnahme von Medikamenten aufgedunsenen, erst 50jährigen, aber früh gealterten und zudem kahlköpfigen Mann erkennen, dessen Gram und Verbitterung in einer ganz offensichtlich verhärteten Physiognomie ihren Niederschlag fanden, was ihn in den Augen vieler, zumal in denen seiner Gegner, aber auch in denen derer, die ihn nicht kannten, kaum als Sympathieträger erscheinen ließ. Wie Schopenhauer oder Hölderlin, denen das Alter ein völlig verändertes Gesicht gegeben hatte, war auch Spengler deutlich anzusehen, wie Enttäuschungen über unerfüllt gebliebene Erwartungen, Visionen, Lebensentwürfe oder Lieben, die als existentiell empfunden werden, sich nicht nur psychosomatisch, sondern eben auch physiognomisch auswirken können. „Ein dicker Pfaffe mit einem fetten Kinn und brutalem Mund“, urteilte Harry Graf Kessler in einem Tagebucheintrag vom 15. Oktober 1927, nachdem er den berühmten Geschichtsphilosophen zum ersten Mal gesehen hatte. So sehr tiefe Abneigung gegen die Person Spenglers in diese Beschreibung mit hineingespielt haben dürfte, ganz falsch war sie nicht.
Als Prophet des Untergangs war Spengler 1919 berühmt geworden, und von diesem Ruf profitierte er noch zehn Jahre später, mochte er auch oft betonen, daß es sich dabei um ein Mißverständnis handelte. Obwohl, wie manche, die ihn hörten, beklagten, kein guter Vortragsredner, füllte die Ankündigung seines Namens noch immer die Säle. So auch in Hamburg, wo sich über 800 Zuhörer einfanden. Diese mußten die Ohren spitzen, denn zu ihrer Überraschung sprach der massige Mann auffällig leise, ruhig und emotionslos. Man hatte gewünscht, Spengler solle über das Phänomen und die Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise referieren. Er tat es gern, denn das gab ihm Gelegenheit, noch einmal – und vielleicht ahnte er, daß es das letzte Mal sein würde – vor den Bedrohungen zu warnen, die er, weiterblickend als andere, für den „Westen“, wie wir heute sagen, voraussah. Entsprechend eindrücklich wählte er für seinen Vortrag den suggestiven Titel Deutschland in Gefahr.

Auf dem Glatteis der Politik

Zufrieden mit der Wirkung, plante er, aus dem Stoff ein Buch zu machen, kam aber offenbar nicht recht damit voran, denn eigentlich hatte er doch die Absicht, politisch wirken zu wollen, aufgegeben. Er schwankte. „Alle meine politischen Sachen haben mir keinen Spaß gemacht. Das Philosophische, das ist mein Feld“, soll er später, im Juli 1933, seiner Schwester gestanden haben, die ihm inzwischen den Haushalt führte und aus deren unveröffentlichten Notizen aufschlußreich hervorgeht, was Spengler in seinen letzten Lebensjahren gedacht und privat geäußert hat. Schließlich obsiegte noch einmal das Politische, obschon ein guter Freund dieser Tage, Paul Reusch, davon abriet: „Warum wagen Sie sich auf das Glatteis der Politik? Goethe hat das auch nicht getan.“ Nach der Auflösung des Reichstages am 18. Juli 1930 durch den Reichspräsidenten von Hindenburg, der von seinem Notverordnungsrecht Gebrauch gemacht hatte, witterten viele im Land einen Diktator ante portas. Der alte treue Freund vom Beck-Verlag, August Albers, provozierte: „Packt Sie denn gar nicht der Drang, einzugreifen in die Diskussion? Haben Sie nichts in dieser Lage der Dinge zu sagen?“ Doch, er hatte. Aber Unentschlossenheit und der Ekel vor jeder Art von Ausarbeitung verzögerten, wie so oft, den Abschluß des Buches. „Eine Seite wissenschaftlichen Textes ruhig niederzuschreiben, bin ich nie imstande gewesen. Vielleicht scheint mein Stil sehr ruhig, aber es scheint nur so. Ich kann selbst etwas Mathematisches nur so schreiben, wie ich Verse schreibe. Es gehört eine günstige Stunde dazu, wo mich etwas packt, wo die Worte heranfliegen, wo sich die Sätze in die Feder drängen, ohne daß ich mir völlig ihres Zusammenhanges bewußt bin. Ich weiß nur, und mit innerster Gewißheit, daß sie richtig sind, so wie sie da entstehen. Ich bin in einem Zustand innerer Gehobenheit, der wie Fieber wirkt, der mich häufig zum Weinen bringt. […] Ich beneide jeden Menschen, der arbeiten kann, wann er will.“
Es sollte mehr als drei Jahre dauern, bis er in der Lage war, die Arbeit zu beenden, das heißt, wenigstens den ersten Teil davon herauszugeben. Just, als der Diktator ante portas tatsächlich durch die Tore schritt, ließ Spengler drucken, was schon fertig in der Schublade lag, um einer eventuellen Zensur zuvorzukommen. Den Titel änderte er. Aus Deutschland in Gefahr wurde Jahre der Entscheidung. Ebenso prägnant, aber weniger mißverständlich, wie er als kleine Reverenz an die neuen Machthaber in der Einleitung betonte, denn nicht die „nationale Machtergreifung“ sei eine Gefahr für Deutschland, sondern die globale Entwicklung. Und zwar nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte „weiße Welt“. Früher als andere glaubt Spengler die Hegemonie der „weißen Rasse“ bedroht, sieht er den abendländischen Kulturraum  seine politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt verlieren.
Ein anderer Sozialismus
[…] Der moderne Wohlfahrtsstaat sei eine Art trojanisches Pferd, das den Westen von innen zerstöre, weil er das Anspruchsdenken aller erhöhe, das alte Arbeitsethos des „faustischen Menschen“ aufweiche und natürlich langfristig nicht bezahlbar sei. Deshalb fordert Spengler mehr Eigenverantwortung vom einzelnen. „Die Sucht des Versichertseinwollens – gegen Alter, Unfall, Krankheit, Erwerbslosigkeit, also gegen das Schicksal in jeder denkbaren Erscheinungsform, ein Zeichen sinkender Lebenskraft – hat sich, von Deutschland ausgehend, im Denken aller weißen Völker irgendwie eingenistet. Wer ins Unglück gerät, schreit nach den andern, ohne sich selbst helfen zu wollen.“ Der marxistische, also der „linke“ Sozialismus, der ein anderer ist als der „preußische“, an den Spengler appelliert, habe den Begriff und das Ethos der Arbeit zerstört. Übriggeblieben seien Neid und Mißgunst der Schwachen gegenüber den Tüchtigen. Weil ein solcher Sozialismus nichts sei als der „Kapitalismus der Unterklasse“, zöge er naturbedingt die schlechtesten Elemente an. „Und deshalb hat der Bolschewismus seit der Pariser Kommune von 1871 weit weniger auf den gelernten fleißigen und nüchternen Arbeiter zu wirken gesucht, der an seinen Beruf und seine Familie denkt, als auf das arbeitsscheue Gesindel der großen Städte, das in jedem Augenblick bereit ist, zu plündern und zu morden.[…] Ein Arbeiter, der etwas kann und stolz auf seine Leistung ist, empfindet sich nicht als Proletarier.“ – Eine Erfahrung, die bekanntlich auch jene skurrilen K-Gruppen vor den Werkstoren westeuropäischer Fabriken machen mußten, als sie in den 1970er und 1980er Jahren die gut verdienenden Arbeiter mit Flugblättern davon überzeugen wollten, zur „ausgebeuteten Klasse“ zu gehören. Wenn Spengler mitunter drastisch gegen Gewerkschaften und Arbeiterführer polemisiert und dabei auch die Arbeiterschaft als solche nicht verschont, von der viel zu viele den marxistischen Agitatoren in die Netze gegangen seien, dann spricht daraus vor allem sein Ärger über das allgemeine Schwinden von Wertmaßstäben, den sittlichen Imperativen, die ehedem persönlichkeitsbildend gewesen seien. Bereits 1919 hatte er in seiner Schrift Preußentum und Sozialismus gefordert, was zu wiederholen er nicht müde wurde, weil er sich immer noch mißverstanden fühlte, daß Sozialismus, wenn er nicht nivellierend und zersetzend wirken solle, als ethische Haltung und nicht als materialistisches Wirtschaftsprinzip verstanden werden müsse. „Preußentum ist etwas sehr Vornehmes und gegen jede Art von Mehrheit und Pöbelherrschaft gerichtet, […] Wenig reden, viel leisten, mehr sein als scheinen.“ […]
Früh, bereits 1914, beklagte er, daß der deutsche und europäische Mensch zwischen den beiden wirkungsmächtigsten Strömungen der Zeit, dem „seelenlosen Amerikanismus“ und dem Bolschewismus, aufgerieben werden würde. Spenglers Antwort darauf war die Flucht nach vorn: Wenn schon hemmungsloser Materialismus, Kulturvergessenheit und Barbarei das unabwendbare Schicksal der Zivilisation seien, dann sollte sich Deutschland schleunigst an die Spitze der Bewegung stellen, wollte es, mit Nietzsches Worten, nicht Amboß, sondern Hammer sein. Und wer sei besser geeignet, Deutschland für die kommende Epoche „in Form“ zu bringen, als ein skrupelloser, aber weitblickender, instinktsicherer Cäsar, ganz nach dem Vorbild jener im 19. Jahrhundert gern stilisierten Kondottieri der italienischen Renaissance? Weil Spengler diese Gedanken in ihrer Konsequenz, die er für unausweichlich hielt, selbst kaum ertrug, und das wiederum als Schwäche empfand, zwang er sich zur Kälte und zur Härte, gegen sich und gegen andere, um dem neuen Zeitalter gewachsen zu sein. Er begann einen Typus herbeizupredigen, den er im Grunde verabscheute: den rein machtpolitisch und zweckmäßig ausgerichteten Nutzmenschen.

Kampf gegen sich selbst

Wie die meisten Menschen, die es vorziehen, ihr Leben einer großen visionären Aufgabe zu widmen, anstatt Beamter zu werden und eine Familie zu gründen, war auch Spengler getrieben von jener Kraft, die in der Psychologie mit Alice Miller narzißtische Störung heißt – der, bedenkt man, wie viele Künstler davon betroffen waren, womöglich wichtigsten Voraussetzung bei der Entstehung bedeutender Werke. Spengler war ein verhinderter Tatenmensch, der viel kreative Energie aus der Wut darüber schöpfte, zum „wahren“, tätigen Leben kaum geeignet zu sein. Stets hin- und hergerissen zwischen der Vita activa und der Vita contemplativa, quälte ihn seine Unentschlossenheit in allen Belangen: „Wenn ich eine Wohnung miete“, hatte er viele Jahre früher notiert, „so gehe ich in ängstlicher Hast hin, weil ich unglücklich wäre, sie nicht zu bekommen. Sobald ich den Kontrakt unterschrieben habe, bin ich wieder unglücklich, weil sie mir als die schlechteste erscheint. Wenn ich ein Mädchen sehe, so schwanke ich, ob ich sie ansprechen soll. Bin ich im letzten Augenblick davor, so zögere ich, bis es zu spät ist.“ Vom Erlebnis des Krieges ebenso verschont geblieben wie von dem der Partnerschaft, erfüllter Liebe oder Sexualität, suchte er unermüdlich nach den Taten zu seinen Gedanken. Vergeblich. Schuld daran war hauptsächlich sein schwaches Nervenkostüm. Das hatte ihn auch an den Aufgaben des Oberlehrers für Naturwissenschaften und Mathematik, der er seiner akademischen Ausbildung nach war, frühzeitig scheitern lassen. Folglich wäre die verantwortungsvolle Führungsposition in Wirtschaft oder Politik, die er so gern bekleidet hätte, gleichfalls kaum zu realisieren gewesen. Er, der von sich behauptete, den Tatsachen ins Auge zu blicken wie kein anderer, konnte sich schwerlich in diesem Punkt etwas vormachen. Er blieb, mochte er sich auch noch so sehr dafür verachten, was er war: ein Rand-Intellektueller, Literat und Kulturromantiker.

Freiheit oder Demokratie

Mit Abscheu blickte Spengler auf die von ihm beschriebene Entwicklung und fiel dabei immer wieder zurück in tiefe Trauer um das Ersehnte. Schmerzlich vermißte er – schon damals – jene Würde und stolze Haltung unter den Zeitgenossen, jenen Grad an Manieren und Umgangsformen, von denen wir, Kinder der 68er Kohorten, egal, ob wir direkt oder indirekt unter ihren sittlichen Verwüstungen litten, gar keine Vorstellung mehr haben, weil das ganze Land, bis heute, Opfer ihrer Neurosen ist und niemand mehr weiß, wie ein Leben ohne diese Neurosen aussehen könnte. Spengler vermißte bereits, was heute gänzlich fehlt: Eine Vornehmheit, die nicht von Schichtzugehörigkeit abhänge, sondern davon, ob jemand „Rasse“ habe oder nicht. „Was war es“, fragt ein adeliger Afrikaner in Deutschland, Prinz Asfa-Wossen Asserate, in seinem Buch Manieren, „das den Bürger einer Demokratie seinen Stolz, ein Republikaner zu sein, verlieren ließ? […] War es die Leichtigkeit, mit der sich die demokratische Ideologie mißbrauchen ließ, die Allgegenwart der Demagogie, die Scham darüber, unablässig von den Politikern belogen zu werden, aber zugleich den Politikern etwas anderes als die Lüge gar nicht zu gestatten […]? Ganz gewiß ist für den Mangel an Stolz, mit dem die europäischen Demokraten auf ihre Gemeinwesen blicken, auch verantwortlich, daß die Geschichte der Demokratisierung Europas mit dem politischen Niedergang Europas verbunden war.“ – Wer wollte es da einem denkenden Menschen verübeln, daß er mißtrauisch und skeptisch auf jene Einrichtung zu blicken beginnt, die so ganz von ihrem Anschein lebt? Freie, unabhängige Denker wie Spengler – und natürlich auch seine beiden großen Vorbilder Goethe und Nietzsche – konnten keine Demokraten im heutigen Sinne sein, weil sie unter Freiheit etwas anderes verstanden als das verbriefte Recht auf Respektlosigkeit und Verwahrlosung bei gleichzeitiger Unantastbarkeit der eigenen Person. Die Würde des Menschen griff bei ihnen buchstäblich höher. Sie war im gewissen Sinne depersonalisiert. Wer das materielle Wohl des Menschen, also seine körperliche Autonomie, nicht zum Ausgangspunkt allen Denkens macht, gilt nach heutigem Verständnis als inhuman und als unzivilisiert, weil er den Fortschritt, der sich in diesem Recht ausdrücke, nicht anerkennt. Spengler und die meisten anderen Kritiker des demokratischen Gedankens waren durchaus keine Befürworter totalitärer Willkürherrschaft, auch wenn manche ihrer drastischen Aussprüche den davon überrumpelten Betrachter zu einer solchen Annahme verleiten mögen, vielmehr wollten sie nur nicht den Preis akzeptieren, den dieses Recht verlangte. Dagegen richtete sich ihre Polemik; gegen das Erkaufen eines Anspruchs auf Freiheit, die immer eine bloß vordergründige bleiben mußte, weil sie eben nicht durch Leistung, sondern allein durch Bekenntnisse gedeckt war. Folglich litt eine solche Freiheit in ihrer Qualität ganz entscheidend darunter, vom einzelnen nicht erworben, sondern nur geliehen worden zu sein, und zwar unter der Bedingung strikter Loyalität demgegenüber, der dieses Recht verwaltete, unabhängig von dessen natürlicher Autorität. Wer darin einen Grundmakel wittert, verfällt vielleicht auf den Gedanken, daß geistige Freiheit und praktizierte Demokratie am Ende unvereinbar seien, da jeder Staat, der sich selbst solche Regeln auferlegt habe, auf Gesinnungszwang und Duckmäuserei gegründet sein müsse. Wie nah man mit dieser Behauptung der Wirklichkeit komme, kann jeder selbst ausprobieren, indem er versucht, die Demokratie beim Wort zu nehmen, sie herauszufordern durch freies Denken, also durch ein Denken, das nicht automatisch zu den durch den Common sense vorgegebenen Schlüssen gelangt. Heute ist jede Form von Kritik an den bestehenden Kartellen, sofern sie nicht zuvor von der politischen Klasse selbst abgesegnet worden ist, mehr denn je ein Wagnis, auf das sich immer weniger Menschen einzulassen getrauen. […]

Verlust an Rasse

Im Verlust an „Rasse“ wollte Spengler das deutlichste Symptom des Verfalls der abendländischen Kultur erkennen. „Rasse“, sagt er, sei keine Frage von Abkunft, sondern von Haltung, Charakter und Instinktsicherheit. „Ich wiederhole: Rasse, die man hat, nicht eine Rasse, zu der man gehört. Das eine ist Ethos, das andere – Zoologie.“ Freilich heißt es ebenfalls an dieser Stelle: „Etwas vom Barbarentum der Urzeit muß noch im Blute liegen, unter der Formenstrenge alter Kultur, das in schweren Zeiten hervorbricht, um zu retten und zu siegen. Dies Barbarentum ist das, was ich starke Rasse nenne, das Ewig-Kriegerische im Typus des Raubtieres Mensch.“ […]
Hier verläuft die Grenze zwischen zwei Haltungen, zwei Moralen, Mentalitäten, zwischen zwei Naturen, die zumeist in einer Person eingeschlossen sind. Es gehört zu den allgemeinsten Erfahrungen des Menschseins, daß es diese zwei Naturen gibt und daß das Vornehme aus Empörung gegen das Gemeine entstand und nicht umgekehrt, was die Gewichtsanteile dieser beiden Naturen im Menschen von vornherein festlegt. Die Grenze verläuft nicht zwischen Nazis und Kommunisten, auch nicht zwischen diesen und Demokraten, da alle drei eines geistigen Ursprungs sind. Die Grenze verläuft gar nicht innerhalb des Politischen, sondern weit darüber, sie verläuft zwischen vornehm und gemein, zwischen distanziert und populär. Und alles Politische ist populär und gemein, muß es sein, sonst könnte es niemals die Menge gewinnen. Vornehm ist dagegen das Abgeschiedene, das Exklusive, also Ausschließende, das dem einzelnen erlaubt, seine Eigenart zu bewahren, sein Unverwechselbares.

Das Wesen des Sozialismus

Spengler waren alle die Bewegungen, die irgendeinem Kollektiv die Macht über das Ganze zusprechen wollten, zutiefst suspekt. Als größte Bedrohung seiner Zeit aber empfand er den Marxismus. Und das nicht nur, weil dieser bereits ein riesiges Land in Chaos und Terror gestürzt hatte, ohne dadurch unter westlichen Intellektuellen an Attraktivität eingebüßt zu haben, sondern auch, weil der Marxismus Begriffe wie den des Sozialismus besetzt hielt, die in Spenglers Denken gleichfalls Schlüsselpositionen einnahmen, nur eben getragen von einem völlig anderen Inhalt.
Der Marxismus erklärt den einzelnen offen für unmündig, für nicht fähig zu entscheiden, was das „richtige“ Leben für ihn sei, da sich der einzelne spätkapitalistischer Industriegesellschaften im Räderwerk eines ihn manipulierenden Produktionsapparates befinde, aus dem er befreit werden müsse. – Aber eben durch andere, nicht durch sich selbst. Er traut dem einzelnen nicht zu, die Zusammenhänge zu durchschauen und eigenständig aus diesem „Entfremdungsprozeß“ auszubrechen, sofern dieser überhaupt als negativ wahrgenommen wird. Erst wer den einzelnen zum integralen Bestandteil eines Kollektivs oder einer Gemeinde zu degradieren versteht, kann dessen eigenen Willen brechen und ihn im Einsatz für etwas „Höheres“ gefügig machen. Deshalb fordert der Marxismus „das Proletariat“ auf, „revolutionäres Subjekt“ zu sein, um für eine „bessere Welt“ zu kämpfen, von der nie irgend jemand hätte konkret sagen können, wie sie eigentlich aussehen solle. Die marxistische Revolution ist, wie die faschistische, eine Revolution im Dauerzustand, die kein realisierbares Ziel hat und deshalb von Anfang an auf Betrug baut. So wurde der Marxismus zur gewaltigsten Phrasendreschmaschine, die je von Menschen erdacht worden ist, und dessen enormer Erfolg, wie so oft bei Erlösungsutopien, gerade auf die Absurdität seiner Theorie zurückgeführt werden muß. Hierin liegt der religiöse Kern des Marxismus, der dessen zahllose Exegesen überhaupt erst möglich gemacht hat: credo quia absurdum.
Spengler hatte das natürlich erkannt. Er wußte, daß der einzelne immer und in jeder Gesellschaft seiner selbst „entfremdet“ wird und daß die Leistung des einzelnen gerade darin besteht, das zu durchschauen und sich gegen diese Widerstände seinen eigenen Weg zu suchen, oder eben nicht. Und dabei helfen kann ihm weder eine Ideologie noch eine Partei. Denn diese sind für Leute gemacht, denen es eben nicht gelingt, ihr Eigenes zu leben, weshalb sie bei Anderen Schutz und Geborgenheit suchen. Spengler aber glaubte an keine selig machende Befreiungsreligion, weder an ein Arbeiterparadies noch an eine Volksgemeinschaft. […]
Hämisch beschreibt Spengler das Wesen des gemeinen Sozialismus, woraus die Massendemokratie hervorging, des Gegensatzes von Vornehmheit, wie es auf Vulgarität beruht und auf schlechten Manieren: „Aber während man hier über die vornehme Form und die alte Sitte lächelt, weil man sie nicht mehr als Imperativ in sich trägt, und ohne zu ahnen, daß es sich hier um Sein oder Nichtsein handelt, entfesseln sie dort den Haß, der Vernichtung will, den Neid auf alles, was nicht jedem zugänglich ist, was emporragt und endlich hinunter soll. Nicht nur Tradition und Sitte, sondern jede Art von verfeinerter Kultur, Schönheit, Grazie, der Geschmack sich zu kleiden, die Sicherheit der Umgangsformen, die gewählte Sprache, die beherrschte Haltung des Körpers, die Erziehung und Selbstzucht verrät, reizen das gemeine Empfinden bis aufs Blut. Ein vornehm gebildetes Gesicht, ein schmaler Fuß, der sich leicht und zierlich vom Pflaster hebt, widersprechen aller Demokratie. Das otium cum dignitate statt des Spektakels von Boxkämpfen und Sechstagerennen, die Kennerschaft für edle Kunst und alte Dichtung, selbst die Freude an einem gepflegten Garten mit schönen Blumen und seltenen Obstarten ruft zum Verbrennen, Zerschlagen, Zertrampeln auf. Die Kultur ist in ihrer Überlegenheit der Feind. Weil man ihre Schöpfungen nicht verstehen, sie sich innerlich nicht aneignen kann, weil sie nicht ‚für alle‘ da sind, müssen sie vernichtet werden.“ Was Spengler hier schildert, ist ein Typus, wie er als anthropologisches Serienmodell immer unter Menschen vorhanden war und immer vorhanden sein wird, doch selten in der Geschichte Gelegenheit fand, sich tonangebend in den Vordergrund zu schieben. Daß dieser Typus seine großen Auftritte erst noch bekommen und das 20. Jahrhundert politisch sogar dominieren würde, ahnten feine Beobachter wie Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler früh. Er gelangte in Positionen und Ämter, die ihm nie zuvor zugänglich geworden wären, weltweit; als Agitator des Bolschewismus, als Nazi-Hetzer, als Maoist bei der Kulturrevolution, als 68er Lehrer. – Der Typus ist überall der gleiche, jeder kennt ihn, denn er hat bis heute in den Gärten des Geistes einen Flurschaden angerichtet, der, wenigstens im Westen, auf lange Sicht irreparabel zu sein scheint.
Die Ursachen sind evident. Denn „fast jeder von uns ist in irgendeinem Winkel seines Herzens ‚Sozialist‘ oder ‚Kommunist‘“. Und welche politische Ordnung wäre besser geeignet, dieser Neigung im Menschen entgegenzukommen, als die Demokratie, respektive ihre beiden überspannten Brüder, Bolschewismus und Nationalsozialismus? Auch darin liegt ein Teil ihres Erfolges, daß sie alle dem gemeinen Menschen auf eine nicht unwesentliche Weise gemäß sind. […]

Was ist links?

Was aber ist „links“, fragt Spengler und gibt eine zeitlos gültige Antwort: „‚links‘ ist, was Partei ist, was an Parteien glaubt, […], Sehnsucht nach Mehrheiten, […], der Mangel an Achtung vor dem Eigentum.“ Darin gleichen sich alle drei großen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Mögen sie sich im Umgang mit dem einzelnen auch deutlich voneinander unterscheiden, ihr gemeinsames Ziel ist die Erziehung zum Massenmenschen. Hier offen, dort verdeckt. Ihr Instrument die gelenkte, produzierte „öffentliche Meinung“. Doch „wer an die Oberfläche, an die öffentliche Meinung, die großen Worte und Ideale des Tages glaubt, ist ihren Ereignissen nicht gewachsen“.
Über Wesen und Genese der modernen Demokratie hat sich Spengler nie Illusionen gemacht: „Die Mittel der Gegenwart sind noch auf Jahre hinaus die parlamentarischen: Wahlen und Presse. Man kann über sie denken, wie man will, sie verehren oder verachten, aber man muß sie beherrschen.“ Im Erringen dieser Herrschaft sah er die großen Kämpfe der Zukunft. Zwar würde sich die Demokratie, der „anarchische Zwischenzustand“, als Staatsform weltweit durchsetzen, langfristig aber immer mehr von ihrer ursprünglichen Gestalt verlieren, bis sie nur noch dem Namen nach existiere. Deshalb war für Spengler der Individualismus der einzige Garant dafür, daß die Demokratie nicht gänzlich der nivellierenden Barbarei verfällt. Der Individualismus hebe den einzelnen über die Entwicklung, indem dieser sich eigene Gesetze aufstelle und sich selbst erzöge. „Wir wollen keine Sätze mehr, wir wollen uns selbst“, lautete Spenglers Forderung bereits 1919, und: „Erzieht euch selbst! Werdet Männer! Wir brauchen keine Ideologien mehr […] Wir brauchen Härte, wir brauchen eine tapfere Skepsis, wir brauchen eine Klasse von sozialistischen Herrennaturen.“
Spenglers Cäsar war ein solcher Individualist und eine solche Herrennatur, der Genie-Begriff des deutschen Sturm und Drang ins Politische übersetzt. Natürlich stand auch der historische Julius Cäsar Pate. Denn „durch ihn wurde Roms Ordnung wieder Gegenstand bewußten Handelns, errang wieder ein Mensch die Herrschaft über die Dinge“. Um nichts anderes ging es auch Spengler. „Aristokratisch ist die vollendete Kultur, demokratisch die beginnende weltstädtische Zivilisation, bis der Gegensatz im Cäsarismus aufgehoben wird.“ Denn in der Zivilisation und liberalen Demokratie, der Herrschaftsform der letzten Menschen, sei eingetreten, was Fukuyama mit Hegel das Ende der Geschichte nannte, also der „Endpunkt der ideologischen Evolution“, da der alte Herr-und-Knecht-Gegensatz dort aufgehoben sei, wo es keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen gebe und jeder jeden anerkenne. Im Cäsarismus, so dürfen wir Spengler verstehen, würden die natürlichen Unterschiede und damit auch der Kampf um Anerkennung wieder hergestellt werden. Daß Hitler ein solcher Cäsar nicht sein konnte, hatten kluge Nationalsozialisten wie von Leers früh erkannt, da Spengler die modernen Diktaturen nur für eine „Vorform“ des kommenden Cäsarismus hielt. Der erste Schritt dorthin sei der allmähliche Profilverlust aller politischen Parteien. „Das Ende der Demokratie und ihr Übergang zum Cäsarismus äußert sich deshalb darin, daß nicht etwa die Partei des dritten Standes, der Liberalismus verschwindet, sondern die Partei als Form überhaupt. Die Gesinnung, das volkstümliche Ziel, die abstrakten Ideale aller echten Parteipolitik lösen sich auf, und an ihre Stelle tritt die Privatpolitik, der ungehemmte Machtwille weniger Rassemenschen.“ Diese „Rassemenschen“, so ahnte Spengler bereits, würden in Zukunft nicht mehr Parteiführer, nicht mehr Ideologen, sondern die Lenker der Weltkonzerne sein.

Kein Kampf der Kulturen

Im Gegensatz zu der Theorie Samuel Huntingtons, dessen Schlagwort vom Clash of Civilisations gern und oft ein wenig übereilt mit dem Schlagwort vom Untergang des Abendlandes gleichgesetzt wurde, erwartete Spengler jedoch keine zukünftigen Kämpfe der Kulturen (was bei genauerem Hinsehen auch bei Huntington nur bedingt zutrifft), sondern Degeneration, also das allmähliche Absterben oder Versiechen von Qualitäten, Haltungen, Rasseeigenschaften, die zur Dominanz befähigen. Prinzipiell gleichen sich die Beobachtungen und Prognosen fast aller Denker, die in den letzten 150 Jahren über die Zukunft der europäischen Kultur nachgedacht haben. Abgesehen von der langen Tradition der Geschichtsmorphologie in Europa, die bereits mit den griechischen Philosophen und Historikern begann und im 19., frühen 20. Jahrhundert vor allem in Deutschland als beinahe logische Konsequenz des Historismus ihren Höhepunkt fand, haben Fragen nach der Entwicklung kultureller Prozesse seit 1990 weltweit wieder an Bedeutung gewonnen. An die wohl wichtigsten vier Autoren sei hier erinnert: Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte (1992), Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen (1995), Samuel Huntington, Kampf der Kulturen (1996) sowie Meinhard Miegel, Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? (2005). Sie alle konstatieren eine Schwächung des Westens, die freilich erst möglich werden konnte, weil eben dieser Westen in den letzten 400 Jahren einen beispiellosen Aufstieg erlebt hatte, der nun seinen Tribut fordere. Aus der monopolaren Welt, die um 1920 ihren Zenit erreichte, als die europäischen Mächte „annähernd die Hälfte der Landoberfläche der Erde“ kontrollierten, wird langsam wieder eine multipolare, wie in den Zeiten, bevor Europas Technik, Waffen und Organisation fast die gesamte Welt beherrschten.
Einen Kampf der Kulturen würde es nach Spengler nicht geben. […] Denn ein Kampf setzt die Fähigkeit zur Gegenwehr voraus, und gerade die wird dem Westen im großen und ganzen abgesprochen. Übrigens auch von Huntington. Zur Untermauerung zitiert dieser häufig den hierzulande unberechtigterweise kaum bekannten amerikanischen Historiker Carroll Quigley, der viel von Spengler übernommen hat: „Die Zivilisation, zur Selbstverteidigung nicht mehr fähig, weil zur Selbstverteidigung nicht mehr bereit, ist weit offen für ‚barbarische Eindringlinge‘“, die häufig aus „einer anderen, jüngeren, kraftvolleren Zivilisation“ kommen.
Auch Meinhard Miegel betont den Verlust der Qualitäten, die den Westen einst hatten zur Weltmacht werden lassen. „Die unfrohe Botschaft für die Völker des Westens lautet: Ihr wart einmal etwas Besonderes. Ihr seid es nicht mehr. Was ihr könnt, das können Hunderte von Millionen auf der ganzen Welt.“ Die „aufstrebenden Völker sind dabei, die Erwerbsbevölkerung der frühindustrialisierten Länder in große Verlegenheit zu stürzen. […] Geschickt verwickeln sie den Westen dort in Auseinandersetzungen, wo sie ihm turmhoch überlegen sind: auf dem Feld von Genügsamkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und Selbstbeschränkung. Auf diesem Feld hat der Westen keine Erfahrung mehr. Die Disziplinen, die hier gefragt sind, hat er seit Generationen nicht mehr geübt“.

Die weiße und  die farbige Weltrevolution

Spengler sah vor allem zwei Ereignisse, an denen die Macht Deutschlands und die des Westens zugrunde gehen werde: die „weiße“ und die „farbige Weltrevolution“. Die eine sei hausgemacht, die andere Folge oder doch wenigstens begünstigt durch die erste. Unter der „weißen Weltrevolution“ versteht er den Sieg des „Bolschewismus“ über den Adel, also die Zerstörung der alten Rangordnung als geistiges Prinzip zugunsten einer Nivellierung in allen Bereichen, kurz: die Demokratisierung der Welt. Dadurch sei den weißen Völkern die Neigung zur Selbstzucht und Strenge verlorengegangen, jenes Ethos also, das ihren Aufstieg einst bewirkt habe. Der demokratisierte Mensch hingegen kenne nur noch Rechte, aber kaum mehr Pflichten. Das führe zu einer Ermüdung an sich selbst und zu geistiger wie biologischer Unfruchtbarkeit. Er verliere den kalten, nüchternen Blick auf die Dinge zugunsten einer verhängnisvollen Sozialromantik, für die in erster Linie Gewerkschaften und Arbeiterführer verantwortlich seien. Diesen gibt Spengler auch die Schuld für die Weltwirtschaftskrise, die eine von den Arbeiterparteien gewollte und herbeigeführte gewesen sei. Sukzessive Kürzung der Arbeitzeit bei gleichzeitiger Lohnerhöhung beschleunigten den Niedergang der westlichen Wirtschaft und ließen die Arbeiterschaft, im Gegensatz zu den Bauern, Handwerkern oder Ingenieuren, angeblich zu einer „privilegierten Klasse“ werden. Dadurch geschwächt, drohe den westlichen Volkswirtschaften die „farbige Weltrevolution“, das heißt die offene Konkurrenz durch die „unzähligen Hände der Farbigen, die ebenso geschickt und viel anspruchsloser arbeiten“ als die Weißen. „Hier beginnt die Rache der ausgebeuteten Welt gegen ihre Herren. […] Das Schwergewicht der Produktion verlagert sich unaufhaltsam, nachdem der Weltkrieg auch der Achtung der Farbigen vor den Weißen ein Ende gemacht hat. Das ist der letzte Grund der Arbeitslosigkeit in den weißen Ländern, der keine Krise ist, sondern der Beginn einer Katastrophe.“ Unter „Farbigen“ versteht Spengler alle nicht ganz „weißen“ Menschen, das heißt, alle, die nicht germanischer oder keltischer Abstammung sind und folglich nicht den „faustischen“ Völkern angehören, die er als die Triebkräfte des abendländischen, also westeuropäisch-nordamerikanischen Kulturkreises betrachtet. Wer ungleichen Menschen gleiche Rechte gewähren wolle, zeige damit nicht Humanität, sondern Schwäche, die, als Signal von den Beherrschten richtig verstanden, den ersten Schritt in die allmähliche Umkehrung der Verhältnisse einleite: „Die weißen Herrenvölker sind von ihrem einstigen Rang abgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern befahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu dürfen.“
Huntington fürchtet ebenfalls eine „weiße Weltrevolution“, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Was für Spengler die Marxisten, sind für ihn die Multikulturalisten; zersetzende Kräfte im eigenen Haus. Denn: Sie wollen „ein Land der vielen Kulturen schaffen, will sagen ein Land, das zu keiner Kultur gehört und eines kulturellen Kerns ermangelt.[…] Die Multikulturalisten stellen ein weiteres zentrales Element des amerikanischen Credos in Frage, indem sie die Rechte von Individuen durch Rechte von Gruppen ersetzen, welche im wesentlichen über Rasse, Ethnizität, Geschlechtszugehörigkeit und sexuelle Präferenz definiert wurden.[…] Der Konflikt zwischen Multikulturalisten und Verteidigern der westlichen Kultur und des amerikanischen Credos ist laut James Kurth ‚der eigentliche Kampf‘ im amerikanischen Teil des westlichen Kulturkreises“.
Auch die „farbige Weltrevolution“ wird längst als Realität wahrgenommen. Überheblich und naiv blickten einst die Nationalsozialisten in die Zukunft, als sie Spenglers Prognosen in den Wind schlugen, weil sie der Dritten Welt einfach keine Wanderbewegung nach Europa zutrauten. Der Wirtschaftswissenschaftler Karl Muhs meinte 1934, „wenn die farbigen Rassen die Erhebung zu ihrem nationalen Recht und ihre Freiheit anstreben“, sei damit „nur zu einem kleinen Teil liquidiert, was die weiße Rasse an gehäufter Schuld auf sich geladen hat. Und wenn dabei die weißen Völker manche oder alle der bis dahin gehaltenen Herrschafts- und Bereicherungspositionen verlieren sollten, die Kultur und Zivilisation des Abendlandes würde dadurch nicht bedroht“. […]
Doch die einstige Europäisierung der Welt schlägt heute unverkennbar gegen den Kontinent zurück. Meinhard Miegel prognostiziert, daß „ein Sechstel der Bevölkerung Europas um 2050 keine europäischen Wurzeln mehr haben wird. Das gilt nicht nur für Randgebiete, namentlich im Süden und Osten, sondern für den gesamten Kontinent. Europa wird in den kommenden Jahrzehnten – gesteuert oder ungesteuert – erheblich asiatischer und afrikanischer werden. […] Die Europäer werden nicht nur ihre Mentalitäten, sie werden auch ihr Aussehen ändern“. Und Huntington pflichtet ihm bei: „Der drohenden ‚Islamisierung‘ Europas wird seine drohende ‚Afrikanisierung‘ folgen.“
Was Huntington dagegen wesentlich von Spengler unterscheidet, ist der fehlende Schmerz über den Verlust, ist die Beurteilung der Entwicklung und der Folgen, die daraus gezogen werden. Spengler urteilt noch als Teil einer vergehenden Kultur, Huntington bereits als Teil der Zivilisation, die keinen lebendigen Bezug mehr zu dem hat, was als Gegenstand der Analyse hinter ihr liegt. Deshalb spielen materielle Aspekte, die tragenden Säulen heutiger Lebensqualität, wie die Versorgung mit Konsumgütern und leibliches Wohlergehen, bei Spengler noch gar keine Rolle. Wohlstand ist in der Kultur noch nicht gleichbedeutend mit „Glück“, erst in der Zivilisation. Die unbestreitbaren Vorzüge materieller Überversorgung, die der Westen allen anderen Kulturkreisen voraus hat, mußte Spengler eher als Bedrohung denn als Paradies verstehen. „Der Westen ist, mit einem Wort, eine ‚reife‘ Gesellschaft an der Schwelle dessen geworden, was künftige Generationen einmal als ein ‚goldenes Zeitalter‘ betrachten werden.“ Damit hat Huntington zweifellos recht. Allzu gern vergessen wir, daß die äußeren Bedingungen für ein – nach materiellen Maßstäben – „gutes Leben“ noch nie so günstig waren wie heute im Westen. Und das wird nicht so bleiben. Soziale Absicherung, Lebensstandard und medizinische Maximalversorgung für alle haben ihren Höhepunkt erreicht. Auch das Lohnniveau. „Die Wahrheit ist: Für mehr Arbeit wird es künftig weniger Geld geben.“
Große Übereinstimmung zwischen Huntington und Spengler besteht dagegen in der Beurteilung von Selbstzensur und Sprachverboten, die im Westen die Diskussion über brisante Fragen weitgehend ersetzen. Auf gespenstische Weise, fast unmerklich, hat sich bewahrheitet, was Spengler schon 1922 kommen sah: „Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit.“ Unliebsame Bücher oder Menschen müssen heute nicht mehr verbrannt werden. „An Stelle der Scheiterhaufen tritt das große Schweigen.“ Die Medienkartelle entscheiden nach wie vor, trotz Internet, darüber, was „wahr“ ist, was gesehen, gehört und gelesen werden soll. Sie können jede „andere Wahrheit“ ins Leere laufen lassen, indem sie ihre Vermittlung an die Welt nicht übernehmen, „eine furchtbare Zensur des Schweigens, die um so allmächtiger ist, als die Sklavenmasse der Zeitungsleser ihr Vorhandensein gar nicht bemerkt“.

Spengler heute

Spengler ist ein politischer Dichter des weiten Blicks und der großen Perspektiven. „Das Buch ist nicht allein historische Deutung, sondern politische Ethik. Der Schlüsselbegriff für beide ist der Schicksalsgedanke. Es geht darum, die Lage zu erkennen, die ‚aus der Geschichte vergangener Jahrhunderte mit Notwendigkeit hervorgeht, um unausweichlich auf gewisse Formen und Lösungen zuzuschreiten‘.“ Wo jemand versucht, „nicht für Monate oder das nächste Jahr, sondern für die Zukunft“ zu schreiben, liegen Anachronismus und Überzeitlichkeit nah beieinander. Wer über die Existenz und Moral seiner Zeitgenossen hinausdenkt, sie also gewissermaßen übergeht, darf auch nicht erwarten, von ihnen gefeiert zu werden. „Ich sehe schärfer als andere, weil ich unabhängig denke, von Parteien, Richtungen und Interessen frei.“ Damit hatte sich Spengler zwischen alle Stühle gesetzt. Dort sitzt er bis heute. […]
Gottfried Benn schrieb im November 1946 an den Freund Oelze: „Übrigens, der interessanteste Denker seit Nietzsche: nicht Keyserling, nicht Klages, nicht Bergson, sondern Spengler wäre heute genauso unerwünscht und schwarzbelistet wie er es bei den Nazis war.“ Benn sollte recht behalten. Denn er kannte den Typus, die Tendenz des 20. Jahrhunderts nur zu gut, wußte, daß der „Demokrat“ nur der harmloseste und leiseste jener drei Brüder sei, der seine Herkunft jedoch nicht allzu lange würde verbergen können.
Im Phänomen gegenwärtiger Gesinnungs- und Sprachverordnung, euphemistisch political correctness genannt, tritt die Herkunft des „Demokraten“ wieder unverhohlen ans Licht: er ist ein Sproß der Feindschaft gegen alles Unterscheidende, Ranggebende, Eigene, Distanzierte und Vornehme. Er will die Verkleinerung und Begradigung all dessen, was sich seiner Vereinheitlichung widersetzt, weil es von anderer Natur ist. Er duldet „Freiheit“ nur unter Gleichen – und hebt sie dadurch auf.
Bassam Tibi, syrischer Kultur- und Politikwissenschaftler und Alt-68er, setzte sich, ähnlich wie Spengler, zwischen alle Stühle, als er der Linken vorwarf, daß sie heute, da sie ihren „Marsch durch die Institutionen“ erfolgreich abgeschlossen habe, nur noch verbiete, ausgrenze und denunziere, statt zu argumentieren. „Als ein vor orientalischen Despoten nach Europa geflohener Muslim verstehe ich unter Freiheit einen Zustand, in dem ich meine Gedanken angstfrei entfalten und mich unzensiert äußern kann.“ Dieser Zustand sei unter der Herrschaft der „Wortpolizei der Multikulturalisten, Kulturrelativisten und Feministinnen“ nicht mehr gegeben. Ein jüdischer Freund und Psychoanalytiker zu Bassam Tibi: „Die Deutschen wollen alle nur bestraft werden. Sie wollen gar nicht, daß man ihnen verzeiht; die gehören eigentlich alle auf meine Couch. Wie hältst du es unter ihnen aus?“ – Er hielt es nicht mehr lange aus. Im Jahre 2006 hat Bassam Tibi Deutschland für immer verlassen; das Land, das er als seine Heimat empfand. Doch ein Land, in dem freies Denken täglich an den genannten Mächten und Cliquen scheitert, kann keines freien Menschen Heimat sein.
Spenglers Jahre der Entscheidung zu lesen, ähnelt im 21. Jahrhundert mehr denn je einem Test, der verrät, wie es um die eigene geistige Dressur bestellt ist, wie weit angelernte Reflexe das eigene Bewußtsein steuern und welchem Typus man eher angehört, dem populären oder dem distanzierten. Der eine wird rufen: „Ächten! Der da spricht, ist keiner von uns!“ Der andere dagegen vielleicht mit Voltaire sagen: „Hören wir ihn an. Und teilten wir seine Auffassung auch nicht, so wollten wir doch alles dafür tun, daß er sie äußern darf.“
Goebbels hatte am 5. Dezember 1933 angeordnet, „es ist unerwünscht, die Diskussion über Spengler fortzusetzen. Die Regierung bittet, von diesem Manne keinerlei Notiz mehr zu nehmen“. Dennoch blieben alle Titel Spenglers bis zum Ende des Dritten Reiches lieferbar. 1936, 1937 und 1941 kamen sogar noch weitere Schriften hinzu.
Spätestens ab 1934, nach dem Massaker im Zusammenhang mit dem sogenannten „Röhmputsch“, zog sich Spengler resigniert in private und prähistorische Studien zurück. „Wir wollten die Parteien los sein. Die schlimmste blieb.“ Er war gebrochen, hielt den Versuch einer „nationalen Erhebung“ endgültig für gescheitert. „Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis zur Selbstaufhebung übersteigert. Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie.“ Auf die Ausführung des zweiten Teils von Jahre der Entscheidung verzichtete er, da er „Bücher nicht zu der Beschlagnahme schreibe“. Als die Schwester und August Albers ihm 1934 rieten, das Land zu verlassen, soll er gesagt haben, „das wäre feige, jetzt fortzugehen“. Zwei Jahre später starb er an Herzversagen.

Optimismus ist Feigheit

Wer heute Jahre der Entscheidung liest und sich dabei vor Augen führt, welche große, begeisterte Resonanz das Buch vor fast 75 Jahren erfahren hat – es übertraf an verkauften Exemplaren noch den Untergang des Abendlandes –, wird sich vielleicht des gewaltigen Unterschieds bewußt, der zwischen zwei Zeitaltern liegen kann, selbst wenn diese keine drei Generationen voneinander trennt. Und er wird vielleicht ergriffen auf den Prozeß blicken, der ein globaler ist und der sich deshalb nur schwer erklären, noch weniger aufhalten läßt, und sich fragen, welche Gesetze oder Kräfte im Menschen wirken, die ihn offenbar zwingen, jenen Lauf zu nehmen, den die Geschichte vorgibt.
Der dreifache Revolutionsspuk, 1917, 1933, 1968, von dem jeder alsbald in Absurdität und Terror abkippte, hat ein völlig verstörtes und ausgezehrtes Jahrhundert hinterlassen, das gar nicht anders enden konnte als in der Leere, die das aus dem kollektiven Rausch erwachte Individuum auf sich selbst zurückstieß.
Der Individualismus, gern als Fluch oder als die „Ideologie des Westens“ (Miegel) verurteilt, ist die Lebensform der Zivilisation, die geistig zur Ruhe gekommen ist, weil sie endlich nicht mehr von utopischen Träumen zerrüttet wird. So entstand jener Narzißmus, der jedoch mehr mit Melancholie zu tun hat als mit bloßem Egoismus. Ein Narzißmus aus Erfahrung und Erkenntnis, daß es kein Gemeinsames gibt unter Menschen, das nicht auf irgendeine Weise erzwungen wäre. Erst das 20. Jahrhundert hat diese Ahnung, die natürlich viel älter ist, zur Gewißheit gemacht.
Und Gewißheiten entfalten dann ihre volle Wirkung, wenn sie sich nicht mehr poetisch verbrämen lassen, sondern sie auszusprechen als banal empfunden wird. Damit ist dem einzelnen auch der Trost der Klage genommen. Er weiß, es gibt nur ihn. Und es folgt ein Narzißmus aus Stolz, der wiederum ein Trotz ist und besagt, wo mehr als zwei Menschen beieinander sind, beginnt Vulgarität. – All dies hat Spengler gedanklich vorweggenommen zu einer Zeit, als viele, vielleicht die meisten, noch glaubten, man könne der historischen Entwicklung, der geistigen Evolution in den Rücken fallen.
Heute liegen die „Jahre der Entscheidung“ hinter uns. Die großen Fragen sind – auch hier sollte sich niemand etwas vormachen – für Europa längst entschieden. Jetzt kommt es darauf an, in dieser Situation Haltung zu bewahren; vor den Realitäten nicht ängstlich die Augen zu verschließen, sie aber auch nicht schönzureden. Nichts anderes hatte Spengler gemeint, als er etwas überpointiert den vielzitierten Satz ausrief, Optimismus sei Feigheit. Wer dies kurzerhand als Pessimismus abtut, wird der Sache nicht gerecht. Im Kleinen bleibt noch viel zu tun. Die Freiheit zur Courage hat jeder. Zu allen Zeiten. Wäre Spengler Fatalist gewesen, hätte er Jahre der Entscheidung nicht geschrieben. Er wollte wirken. Mutig stellte er sich, trotz geringer Aussicht auf Erfolg, den politischen Kartellen seiner Zeit entgegen. – Darin ist er bis heute ein notwendiges Vorbild geblieben.

 
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