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Frontal gegen die Moderne

Von Hans Thomas Hakl

Die integrale Tradition

Taucht das Wort Tradition auf, denkt der moderne Mensch zuerst einmal an die Bewahrung althergebrachter Gebräuche, Lebensregeln oder Sitten. Genau das meint die sogenannte Integrale (d. h. vollständige) Tradition jedoch überhaupt nicht.
Sie sieht sich vielmehr als eine universale, durch und durch spirituelle Geisteshaltung, deren Ursprung im Transzendenten, im absoluten „göttlichen“ Seinsgrund, also jenseits von Menschen, Völkern und Geschichte liegt. Damit ist sie in ihrem Selbstverständnis uranfänglich (primordial), einzig und allumfassend. Alle metaphysischen Weltanschauungen und Religionen seien ihr entsprungen und bezögen sich auf sie zurück. Sie würden allerdings wie zerbrochene Teile eines matt und blind gewordenen Spiegels nur noch Einzelaspekte der ursprünglichen Ganzheit und ihrer überirdischen Einheit reflektieren. Trotzdem sei es möglich, diese Urtradition auch heute noch zu rekonstruieren, indem man sich auf die angeführte transzendente Einheit der Religionen, d. h. ihre höhere, sich den geographischen, historischen und menschlichen Zufälligkeiten entziehende gemeinsame Geistigkeit konzentriert. Natürlich bedürfe es dazu entsprechender spiritueller Führung und Feinfühligkeit.

Die Integrale Tradition ist in diesem Sinne also keine Erfindung von Menschen, sondern sei uns sozusagen von „göttlicher“ Seite übergeben worden, und wir können nur versuchen, sie möglichst „rein“ zu erkennen und dann weiterzutragen. Da sie „göttliche“ Herkunft beansprucht, ist sie letzte Instanz, kann nicht in Frage gestellt werden, ändert sich nicht und bildet die absolute Norm, nach der sich alles zu richten hat. Sie steht jenseits alles Menschlichen und jenseits alles Zeitlichen. In diesem Sinne ist sie ewig. Die moderne Welt in Form der westlichen Zivilisation und Technik, die auf rein materiellen, chemisch-physikalischen Grundlagen beruht, wird als das genaue Gegenteil dieser Tradition angesehen. Einer der bekanntesten Vertreter der Integralen Tradition, Julius Evola, spricht sogar von zwei „gegensätzlichen apriorischen Kategorien“, die nichts, rein gar nichts, gemein haben. Die eine Kategorie ist nämlich diejenige des überweltlichen Seins und die andere diejenige des irdischen Werdens. Metaphysik und Physik stehen sich gegenüber.
Die Integrale Tradition, die demnach hier auf Erden nie vollkommen realisierbar ist und nur ein anzustrebendes Ideal bilden kann, beruht auf einem streng hierarchischen (hieros und arché: griech. heilig und Herrschaft) Denken, wobei der oberste Rang dem Transzendenten zukommt und mit zunehmender Vermaterialisierung die Stufen nach unten gehen. Die moderne Welt hingegen ist vom Gleichheitsgedanken beherrscht. Aus dieser Prämisse des absoluten Vorranges von allem Spirituellem und Transzendenten ergeben sich notwendigerweise eine Reihe von unvereinbaren Gegensätzen zur Moderne.

Die traditionale Gesellschaft

So kann die Führerschaft in einer traditionalen Gesellschaft (ich verwende das Adjektiv traditional, um im Unterschied zu traditionell etwas die Integrale Tradition Betreffendes auszudrücken) nur jemandem zukommen, der als Bindeglied, als pontifex, d. h. Brückenbauer, zur Transzendenz zu wirken vermag, denn nur „dort“ sind Sinn und Ziel einer solchen Gesellschaft zu finden. Ein Priesterkönig wird diesem Führerideal am ehesten entsprechen. Die Demokratie hingegen ist für die Integrale Tradition unannehmbar, da diese die Führerschaft vom Volke her, als von unten nach oben postuliert und damit eine völlige Umkehrung der traditionalen Wertordnung darstelle.
Eine weitere Konsequenz dieser spirituell geprägten Hierarchie ist die Einteilung der Menschen nach ihrem inneren Vermögen, sich der traditionalen Geistigkeit anzunähern und sie weiterzutragen, wie sie sich besonders deutlich im indischen (hinduistischen) Kastenwesen herausgebildet hat. Dort werden vier Kasten oder eigentlich Menschentypen unterschieden, deren angeborenes Wesen sich deutlich unterscheidet und nach jeweils anderen Zielen strebt. An oberster Stelle steht die Priester- oder Brahmanenkaste, die sich rein spirituellen Aufgaben widmet und die Kontemplation pflegt. Das „Ewige“ ist ihr Ziel. An zweiter Stelle kommt die Krieger- oder Kshatriyakaste, deren Kraft in der dynamischen Aktion und in der Charakterfestigkeit liegt, wo sich gebändigte Aggressivität und Großzügigkeit ausgleichen sollen. Sie strebt nach Selbstüberwindung, Ehre, Ruhm und innerem Adel, wo Pflichterfüllung vor der Bewahrung des eigenen Lebens steht. Als drittes kommt die Kaufmannsklasse, die sich materiellen Werten verbunden fühlt, damit geschickt umzugehen weiß, sie auch anderen Menschen zur Verfügung stellt und durch Reichtum, Sicherheit und Wohlleben befriedigt wird. An vierter Stelle sind die manuellen Arbeiter zu nennen, für die alles Körperliche im Mittelpunkt steht. Ihre Qualifikation besteht im Verrichten notwendiger, die Basis unseres irdischen Lebens bildender gleichförmiger körperlicher Tätigkeiten. Ihr Streben ist auf körperlich-sinnliche Genüsse gerichtet.
Da insbesondere nach hinduistischer Auffassung diese unterschiedlichen Anlagen des Menschen angeboren sind, sein Schicksal ausmachen und den tieferen Sinn, ja die zu lösende Aufgabe seines Lebens (Sanskrit: dharma) darstellen, handelt derjenige, der aus seiner Kaste ausbricht, schließlich gegen sich selbst und sein eigenes Glück. Er verstößt nämlich damit gegen die kosmische Harmonie, die ihm gemäß seinem Talent und inneren Vermögen einen bestimmten Rang und Platz zugewiesen hat. Er verliert Sicherheit und Schutz und wird zum Kastenlosen. Ein manueller Arbeiter, der seiner Kaste getreu lebt, wird deshalb höher geachtet als ein Brahmane, der, statt nach Geistigkeit zu streben, materiellen Gütern und Machtfülle den Vorzug gibt. Der Gegensatz zu unserer modernen Gesellschaft, für die soziale Aufstiegsmöglichkeiten und ichfixierter Individualismus geradezu Kennzeichen sind, könnte größer nicht sein.
Ebenso unterschieden sind die Geschlechter. Der Mann steht in der traditionalen Auffassung dem Himmel und der Spiritualität näher und ist daher zum geistigen Führer der Familie berufen. Die Frau ist mit der Erde und dem Weitergeben des irdischen Lebens verbunden. Beide Geschlechter haben daher auch unterschiedliche Aufgaben. Sie sollen also nicht miteinander im Widerstreit liegen, sondern sich ergänzen.

Qualität gegen Quantität

Übergreifend ist der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne in den Begriffen Qualität und Quantität faßbar. Quantität ist Vermehrung oder Verminderung im rein irdischen Bereich, also in der Horizontalen, währenddessen die Qualität, d. h. der in einer Sache „enthaltene“ spirituelle Anteil nach oben oder unten, also in die Vertikale weist. Zusammen bilden Vertikale und Horizontale das Kreuz als übergreifendes allumfassendes kosmisches Symbol.
Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied zwischen traditionaler qualitativer und moderner quantitativer Auffassung im Bereich der Zahlen. Für die Moderne sind Zahlen und Ziffern vollständig gleichförmige Einheiten. Zwischen der Eins, der Zwei und der Drei gibt es keinen qualitativen Unterschied. Der einzige Unterschied liegt darin, daß sie eine jeweils andere physische Menge zum Ausdruck bringen. Ganz anders die Tradition. Neben den verschiedenen Mengenverhältnissen verweisen die Zahlen ebenso auf völlig unterschiedliche Qualitäten. Die Eins ist die Zahl der Einheit, die alles und damit auch anscheinend Gegensätzliches in sich vereint und damit die höchste Einheit, das Göttliche, anzeigt. Die Zwei bringt den Riß in diese Einheit und wird zum Symbol für den Zwie-Spalt, für das „Dia-bolische“, das Entzweien im ursprünglichen griechischen Wortsinne, wohingegen die Drei wiederum eine höhere Einheit, also eine Synthese zweier Gegensätze zum Ausdruck bringt. Jede Ziffer und Zahl bedeutet also nicht nur eine ganz bestimmte Menge, sondern trägt gleichzeitig eine besondere Qualität in sich. Wenn man nun weiß, daß in antiken Kulturen die Zahlen gleichzeitig auch Buchstaben waren – Reste haben sich bis heute in den römischen Ziffern, wie M=1000, C=100 usw. erhalten –, sieht man, daß auch die Buchstaben weit mehr darstellten als eine bloß zufällige schriftliche Fixierung von Lauten. Am tiefgründigsten ausgeprägt findet sich diese Gleichstellung von Buchstaben und Ziffern in der hebräischen Kabbala.
Analoges gilt in der Integralen Tradition für den Jahreslauf. Heute gilt ein Tag gleich einem anderen. Die Tage des Jahres drücken nur eine unterschiedliche Menge an bereits seit dem 1. Januar abgelaufener Zeit aus. Abgesehen davon ist es „qualitativ“ gleichgültig, ob man eine bestimmte Handlung am 7. Februar oder am 3. März setzt. Völlig anders wiederum die Tradition. Alle Tage weisen dabei eine besondere eigene Qualität auf. Montag ist z. B. der Tag des Mondes (franz. Lundi, ital. Lunedi) und damit weiblich-intuitiv bestimmt, und der Dienstag ist eben vom Gotte Thyr, franz. mardi, und ital. martedi, d. h. vom Mars her geführt. Daß man also, simplifiziert gesprochen, eine Kriegshandlung nicht am Montag ansetzt, ergibt sich von selbst. Im Zuweisen von besonderen Heiligen für die einzelnen Tage des Jahres vor allem in der katholischen Kirche hat sich ein Rest dieser unterschiedlichen Qualitäten erhalten. Diese ergeben sich zwangsläufig aus der an jedem Tag unterschiedlichen Stellung der Planeten und Fixsterne, die alle ihren besonderen Charakter tragen. Handlungen müssen also, um erfolgversprechend zu sein, je nach Planetenstand, d. h. im Einklang mit dem gesamten Kosmos gesetzt werden. Wie oben so unten heißt der auch aus der sogenannten Esoterik bekannte Grundsatz. Die unsere heutige Welt dominierenden Maschinen, die solchen Einflüssen nicht unterworfen sind und aus wirtschaftlichen Gründen möglichst Tag und Nacht, wochen- und feiertags laufen müssen, machen es allerdings dem Menschen unmöglich, auf solche „kosmische Harmonien“ Rücksicht zu nehmen.

Transzendenz

Das Achten auf unterschiedliche Qualitäten und die Ausrichtung nach der Transzendenz sind auch vorrangige Ziele einer traditionalen politischen Gemeinschaft und ihrer Führung. Quantitatives Wachstum darf nur im Rahmen des für das irdische Überleben absolut Notwendigen gefördert werden. Das Ziel einer solchen traditionalen Gemeinschaft ist also ein anagogisches, d. h. ein nach oben führendes und weisendes. Der Mensch soll durch die Erziehung das Trügerische rein materieller und egoistischer Bestrebungen und Wünsche erkennen und sich spirituellen Aufgaben widmen. Die Kunst, von der Musik über die Malerei bis hin zur Architektur, soll den Menschen erheben, dem Göttlichen zuwenden. Aber auch alle anderen menschlichen Tätigkeiten, vom Handwerk bis zum Ackerbau, sollen von Spiritualität und tiefer Symbolik durchdrungen sein. Ziel ist die Spiritualisierung des gesamten Lebens. Riten dienen hier als Bindeglied zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde.
Dementsprechend ist auch die überragende Bedeutung der Mythen, die religiöse Tiefenschichten und das im Menschen angelegte Streben nach einer Wiedervereinigung mit dem göttlichen Urgrund ansprechen. Nicht um die Wiedergabe rein materieller Fakten kann es daher in der traditionalen „Geschichtsschreibung“ gehen, sondern um die Vorbildwirkung des Berichteten, weshalb auch hier das Studium antiker Mythen vor demjenigen archäologischer Fundstücke steht. Ideen im platonischen Sinne, also Archetypen in einem dem Irdischen entrückten, aber ihm hierarchisch vorgelagerten Bereich, sind die mächtigen Leitbilder.
Der Mensch ist nach traditionaler Auffassung von zweifacher Natur und hat sowohl am Erdhaften wie auch an der metaphysischen Überwelt Anteil und ist deshalb auch des Überganges vom einen zur anderen fähig. Die Initiation, durch die der Zugang zur Transzendenz eröffnet wird, erfordert eine Abkehr von der Identifikation mit dem Äußerlichen und eine Konzentration auf den inneren universalen „Gottesfunken“. Nur in diesem Sinne ist sie Askese. Das kann, je nach Deutung, durch kontemplative Praktiken, durch eine wesensverwandelnde Magie oder Alchimie, aber auch durch „heroische“ Taten geschehen, wo nicht das eigene Ich, sondern das „Zeitlose“ im Mittelpunkt steht. Wie es eine initiatische Kette gibt, die nach oben weist, so gibt es nach traditionaler Auffassung auch eine „gegeninitiatische“ Kette, die nach unten zieht und den allgemeinen Prozeß des Niederganges beschleunigt. Aufgabe des traditionsbewußten Menschen ist es, diese gegeninitiatischen und antitraditionalen Kräfte, die primär geistiger Natur sind, in sich selbst und außerhalb zu bekämpfen.

Reichsidee

Ausgangspunkt der Tradition auf unserer Erde soll ein hyperboräisches Urzentrum gewesen sein, das in der vorzeitlichen Arktis lokalisiert wird. Literarisch sei noch in der griechischen Antike darauf hingewiesen worden, wo man vom arktischen Urzentrum Thule sprach. Dort hätten in einem Goldenen Zeitalter Göttermenschen geherrscht, die durch eine kosmische Katastrophe vertrieben worden seien und sich dann über die gesamte Welt verstreut hätten. Daher stammt die ausgeprägte Polarsymbolik in traditionalen Kulturen und die Ausrichtung nach dem im Norden gelegenen Polarstern.
Die Durchsetzung all dieser Bestrebungen sei gesellschaftlich am ehesten in der Ordnung des „Reiches“ gegeben, das als Heiliges Imperium und Spiegelbild des Himmlischen Reiches um ein auf transzendenten Prinzipien beruhendes Zentrum aufgebaut ist. Seine spirituelle Kraft allein muß genügen, um alle Gliederungen und Sektoren des Reiches von oben nach unten zu durchwirken. Kosmische Ordnung und menschliche Ordnung, himmlisches Jerusalem und irdisches Jerusalem, Makrokosmos und Mikrokosmos sollen eins sein. Daraus ergibt sich der Gegensatz zum totalitären Staat, der auf physischen und psychischen Zwang sowie auf Lüge und Manipulation angewiesen ist, um sich zu behaupten. Julius Evola spricht auch vom transzendenzbestimmten „organischen Staat“ als traditionaler Ordnungsform der menschlichen Gesellschaft, der in Analogie zum menschlichen Körper eine unterschiedliche hierarchische Funktion und Stellung der einzelnen Staatsglieder vorsieht. Die Nation allein ist als politische Gesellschaftsform hingegen nicht geeignet, da sie sich vorrangig nach volksmäßigen und damit bloß herkunftsbestimmten Gesichtspunkten ausrichtet und nicht nach transzendenten Prinzipien. Das Reich wird demgegenüber als völkerübergreifend gedacht, da es das gemeinsame spirituelle Ziel aller Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Das Kali Yuga

Zur Integralen Tradition gehört ebenso ein zyklisches Geschichtsverständnis, nach dem die Entwicklung sowohl auf der Erde wie im gesamten Kosmos nicht linear nach vorn wie beim Fortschrittsgedanken verläuft, sondern in Zyklen. Dabei geht die Entwicklung von einem spirituellen Urzentrum aus, vermaterialisiert sich immer mehr, um dann am Extrempunkt umzuschlagen und auf einer anderen Ebene und in einem anderen Sinne neuerlich spirituell zu beginnen. Wir kennen solche zyklischen Geschichtssysteme aus Indien ebenso wie aus der griechischen Antike, wo auf das Goldene zunächst das Silberne dann das Eherne und schließlich das Eiserne Zeitalter folgen.
Im letzten und tiefststehenden Zeitalter, auf Sanskrit Kali Yuga genannt, würden wir gemäß dieser Sicht heute leben. Im „schwarzen“ Kali Yuga also, wo nach dem schon vor Jahrhunderten in Indien entstandenen Vishnu-Purâna nur noch der materielle Reichtum den Rang der Menschen bestimmt und nicht mehr die innere Haltung sowie das innere Gesetz. Wo nach derselben Prophezeiung die Führer, statt ihre Untertanen zu beschützen, sie ausrauben, wo die Lust das einzige Bindeglied zwischen den Geschlechtern bildet, die Falschheit der einzige Erfolgsweg im Wettstreit ist und priesterliche Gewänder an die Stelle der priesterlichen Werte treten.
Wie man sieht, betrachtet die Integrale Tradition den weltgeschichtlichen Ablauf nicht als Aufstieg, sondern als Abstieg und zunehmende Entfernung vom göttlichen Ursprung. Im heutigen Kali Yuga nun sei die Linie der Tradition endgültig abgebrochen, es gäbe keine Verbindung mehr zur uranfänglichen Überlieferung und daher stelle diese Zeit auch die absolute Negation des traditionalen Geistes dar. Nur ein völliger kosmischer Zusammenbruch sei noch möglich, worauf allerdings ein neuer Zyklus mit einem neuen Goldenen Zeitalter beginnen würde. Wo, wann und wie ist unbekannt.
Die Integrale Tradition sieht sich, wie bereits erwähnt, selbst als übergeschichtlich an und stellt demnach einen Idealtypus dar, der nur im mythischen Goldenen Zeitalter im vollen Umfang gegeben war. Trotzdem gab es in der Antike, im chinesischen Reich, im katholischen Mittelalter und am längsten im klassischen Japan noch letzte Ausläufer dieser Geistigkeit. Historisch kritisch gesehen ist die traditionale Weltanschauung jedoch eine moderne Erscheinung, denn nur im Gegensatz zur Moderne konnte sie sich ihrer selbst bewußt werden und zu ihrer Ausformulierung gelangen. Erste Ansätze dazu finden sich bereits in der Renaissance, als der vatikanische Bibliothekar Agostino Steuco 1540 den Begriff der „philosophia perennis“, der „ewigen Philosophie“ schuf, um die zentralen Einsichten von Marsilio Ficino zu erläutern, der ein Jahrhundert vorher die Platonische Akademie in Florenz geleitet hatte. Ficino hatte bereits einen gemeinsamen Ursprung aller Religionen postuliert.

Hauptvertreter der Tradition

Als tatsächlicher Begründer der Integralen Tradition im Sinne der vorhin skizzierten geschlossenen Weltanschauung muß jedoch René Guénon bezeichnet werden. Geboren 1886 in Blois, Frankreich, studierte er Mathematik und Philosophie. Seine Dissertation über den Hinduismus wurde wegen Unwissenschaftlichkeit abgelehnt. Eine intensive Beschäftigung mit der Theosophischen Gesellschaft, der Freimaurerei und verschiedenen okkultistisch-esoterischen Gruppierungen zeichneten ihn aus. 1930 reiste er nach Kairo, wo er bis zu seinem Tode 1951 verblieb, zum Islam übertrat, sich dem Sufismus zuwandte, eine Familie begründete und wie ein Araber unter Arabern lebte. Die von seinen Anhängern postulierte Einweihung Guénons durch fernöstliche initiatische Kreise, die ihm die Grundfesten der traditionalen Anschauung geoffenbart hätten, ist historisch nicht nachweisbar. Faßbar hingegen sind Einflüsse der Theosophischen Gesellschaft, die nicht nur die vergleichende Analyse verschiedener Religionen förderte, sondern auch ihren gemeinsamen transzendenten Ursprung lehrte. Ebenso verwies sie auf die „antike Weisheit“ des Ostens und insbesondere der Veden, die für Guénon die vielleicht zentralste Inspirationsquelle darstellten. Den für die Integrale Tradition gleichfalls konstituierenden Gedanken der Initiation lernte Guénon im Freimaurertum und im Martinismus kennen. Es ist also durchaus möglich, die Integrale Tradition als eine eigenständige Kreation Guénons zu verstehen, die – natürlich – auf seinen intensiven vorgängigen Studien beruht. Auf überweltliche Quellen muß man dabei nicht zurückgreifen.
Ein zweiter, im deutschen Sprachraum viel bekannterer Vertreter der Integralen Tradition ist Julius Evola. Geboren 1898 in Rom, zuerst futuristischer und dadaistischer Schriftsteller sowie Maler, dann Philosoph des „magischen“ Idealismus mit dem Anspruch auf Schaffung eines „absoluten Individuums“, wo bereits Einflüsse aus dem Tantrismus, Taoismus sowie der Mystik eines Meisters Eckhardt spürbar sind, kurzzeitige Mitarbeit in der unabhängigen theosophischen Loge Ultra in Rom, worauf die ihn später prägende Bekanntschaft mit dem Gedankengut René Guénons erfolgte. Danach Leitung der „Gruppe von UR“, die eine transzendenzzugewandte „Magie“ mit dem Ziel einer Umwandlung des menschlichen „Bleis“ in überweltliches „Gold“ lehrte. Darauf folgte die Beschäftigung mit zeitgenössischen spirituellen Bewegungen, mit dem Gralsmysterium, der Alchimie und später auch mit dem Buddhismus sowie einer Metaphysik des Sexus. Politisch ein Vertreter des Gedankenguts der Konservativen Revolution, lernte er Leute wie Gottfried Benn, Edgar Julius Jung, Karl Anton Prinz Rohan, Carl Schmitt und Corneliu Codreanu kennen und übersetzte Ernst Jünger. Aus seiner Beschäftigung mit Rassentheorien ergab sich eine Bekanntschaft mit Benito Mussolini, aber wahrscheinlich auch mit höheren SS-Kreisen. Durch einen Bombenangriff 1945 in Wien schwer verletzt, blieb er bis zu seinem Tode 1974 an den Rollstuhl gefesselt. Im Nachkriegsitalien war er zweifelsohne eine große Inspirationsquelle für kleinere Gruppierungen traditional-rechter Ausrichtung. Evola hat auch Bedeutung für die Religionswissenschaft, da er als erster in Italien den Tantrismus und Zen-Buddhismus beschrieb und mit Religionswissenschaftlern und -historikern vom Schlage eines Mircea Eliade, Giuseppe Tucci, Raffaele Pettazzoni, Franz Altheim oder Karl Kerényi mehr oder weniger gut bekannt war.
Evola darf nicht als bloßer Epigone Guénons angesehen werden, da er sehr eigenständige Wege ging, denen Guénon, mit dem er korrespondierte, nicht immer zustimmte. So unterschied ihn vor allem sein kampfbereiter Geist vom viel kontemplativeren Guénon.
Als dritten Vertreter möchte ich Dr. Ananda K. Coomaraswamy nennen, dessen Vater ein ceylonesischer Tamile und dessen Mutter eine Engländerin war. Seine Erziehung war jedoch anscheinend rein englisch. An der Universität studierte er Geologie und Botanik. Als er einen Direktorenposten in Ceylon angenommen hatte, wurde ihm die Reichhaltigkeit der dortigen Kultur bewußt, woraus sich eine gewisse Form von antikolonialistischer Attitüde entwickelte. Trotzdem kehrte er nach England zurück. Die völlig negative Haltung zu indischer Kunst in dortigen Kreisen veranlaßten ihn zu einem intensiven Studium dieser Kunst, die er auch zu sammeln begann. Ein amerikanischer Mäzen kaufte schließlich die Sammlung und brachte sie ins Boston Museum of Fine Arts ein, wo Coomaraswamy dann zum Kurator für indische Kunst wurde. Zur Tradition kam Coomaraswamy über sein Studium des englischen Mystikers, Malers und Dichters William Blake und die Lektüre des englisches Neuplatonikers Thomas Taylor. Er war auch ein Freund des von Blake beeinflußten irischen Dichters, Magiers und Mystikers William Butler Yeats. Nach dieser Vorbereitung war er offen für die Ideen Guénons, den er begeistert rezipierte und auch propagierte. Sein herausragender Ruf als Kunstexperte machte es möglich, daß ihm daraus kein Schaden erwuchs. Er starb 1947.
Als letzten möchte ich noch Frithjof Schuon vorstellen. Er ist der heute wahrscheinlich einflußreichste integrale Traditionalist. 1907 in Basel geboren, ging er mit einem anderen bekannten Traditionalisten, nämlich Titus Burckhardt zur Schule. Er kam bereits im 16. Lebensjahr mit einem Buch Guénons in Berührung und war sofort begeistert. Durch den frühen Tod seines deutschen Vaters mittellos geworden, zog seine französische Mutter mit ihm in den Elsaß, von wo er bald nach Paris übersiedelte. 1931 kontaktierte er Guénon. In Paris arbeitslos geworden, ging er in die Schweiz und von dort über Marseille nach Algerien, wo er sich einem Sufi-Scheich anschloß. Bald mußte er zurück nach Europa, war aber anscheinend innerlich völlig gewandelt. Nach einem weiteren Aufenthalt in Algerien bekam er eine Art Einweihungsbefugnis und gründete seine erste Sufi-Gruppierung. 1938 traf er Guénon zum ersten Mal. Sein Orden wuchs immer mehr, bewegte sich aber auch immer weiter weg von Guénons Vorstellungen, da er christliche Elemente und eine Marienverehrung aufnahm. Die Stimmung zwischen den beiden verschlechterte sich, bis es zum Bruch kam. Sein langes Interesse an indianischer Spiritualität veranlaßte Schuon schließlich 1981, in die USA auszuwandern, um sich auch dieser Form der Geistigkeit zuzuwenden. 1998 starb er.
Weitere Namen von bedeutenden, zum Teil noch heute lebenden Traditionalisten möchte ich nur kurz erwähnen: Titus Burckhardt, Leopold Ziegler, Michel Valsan, Martin Lings, Marco Pallis, Whitall Perry, Philipp Sherrard, Joseph Epes Brown, Prof. Dr. Walter Heinrich, Prof. Dr. Huston Smith und Prof. Dr. Seyyed Hossein Nasr. Obwohl der Einfluß der Integralen Tradition heute sicherlich größer ist als zu Zeiten Guénons und Evolas kann von einer echten Breitenwirkung nicht die Rede sein. Rezipiert, wenn auch nicht in reiner Form, wurde das Gedankengut sicherlich in beschränkten religionswissenschaftlichen Kreisen. Mircea Eliade, Huston Smith und Seyyed Hossein Nasr, als ehemaliger Leiter der Imperial Iranian Academy, wären hier zu nennen. Unbedingt erwähnenswert ist aber der von der englischen Blake-Expertin und Poetin Kathleen Raine inspirierte traditionale (wenn auch nicht im ganz engen Sinne) Temenos-Kreis, dessen Patron Prinz Charles, der Prinz von Wales, ist.

Das traditionale Denken heute

Zahlreiche Zeitschriften fördern heute noch, wenn auch in mancherlei Variante, das traditionale Denken: in den USA z. B. Sophia und Parabola, in Kanada Sacred Web, in England die Temenos Academy Review, in Frankreich Connaissance des Religions, Science Sacrée oder Vers la Tradition, in Italien Arthos oder Viator, um nur einige wenige anzuführen. Der deutsche Sprachraum ist nicht so gut bestückt. Es gab zwar mehrere Versuche, aber geblieben ist eigentlich nur die unregelmäßige Herausgabe des Rundbriefes Kshatriya aus Wien mit der gleichnamigen Website. Die Literatur zur Integralen Tradition füllt schon ganze Bibliothekswände. So gibt es allein über Guénon über fünfzig Bücher bzw. buchdicke Sondernummern von Zeitschriften und über Evola an die fünfzig. Die Grundwerke der wichtigsten hier angeführten traditionalen Autoren sind in vielen Sprachen und im Originaltext seit Jahren so gut wie vollständig lieferbar, und die einschlägigen Websites im Internet sind kaum noch überschaubar.
Kann man also von einer Art Siegeszug sprechen? Sicherlich nicht. Das Denkgebäude der Integralen Tradition ist viel zu elitär, was in einer demokratisch geprägten Zeit kaum erfolgversprechend ist. Zudem steht doch heute bei den meisten materielles Wohlleben und Genießen der Freizeit im Vordergrund. Die Integrale Tradition hingegen verlangt Opfer und „Askese“. Und trotzdem übt sie eine Faszination auf bestimmte, meist jüngere Menschen aus. Worauf ist das zurückzuführen? Hier kann ich nur einige kurze Skizzen vorlegen, wobei ich natürlich über verborgene transzendente Ursachen, wie sie die Traditionalisten selbst angeben, nichts auszusagen vermag. Ohne allzu sehr psychologisieren zu wollen, dürfte man doch einige Gemeinsamkeiten bei den sich bekennenden Traditionalisten feststellen können.
Grundsätzlich kann es sich nicht um Mitläufertypen handeln, denn so deutlich und noch dazu in kleiner Gruppe gegen den Strom zu schwimmen, erfordert ein gehöriges Standvermögen. Es sind also eher Menschen, die ihre Identität in der Opposition ausbilden, wie das bei jungen Leuten eigentlich selbstverständlich ist, auch wenn heute, anders als in der Zeit der Hippies und der 68er Generation, weltanschauliche Fragen keinen so hohen Stellenwert mehr einnehmen.
Dazu muß ein tiefer religiöser Drang kommen, der in den herkömmlichen Religionsgemeinschaften keinen Widerhall findet. Die dort gebotenen Lehren und Aufgaben erscheinen dem hier besprochenen Typus als viel zu „gewöhnlich“ und zu abgestanden. Es fehlen einfach – und ich meine das sicherlich nicht spöttisch – das „Mysterium“ und die Herausforderung. Traditionalisten wollen in einem weit größeren, möglichst umfassenden zeit- und ortsübergreifenden, ja „ewigen“ Ziel eingebettet sein. Handelt es sich doch häufig um sehr intelligente, kritische Geister, die alles hinterfragen (auch sich selbst), dabei immer unsicherer werden und nach enttäuschter, oft langer spiritueller Suche schließlich die „endgültige“ Frage nach der „Wahrheit“ stellen wollen. Nur allumfassende Konzeptionen vermögen da zu befriedigen, denn nur sie können die „Angst“ vor Irrtümern nehmen und die Sicherheit und Ruhe geben, die ihr großer und gewollter Einsatz erfordert.
Daher rührt auch die keine Zweifel erlaubende „absolute Gewißheit“, die für Aussagen von Traditionalisten so charakteristisch ist. Genauso wie die klar definierten Feindbilder der Traditionalisten und ihre oft grelle Schwarz-Weiß-Malerei. Dies alles sind meiner Meinung nach Indizien für eine trotz aller „Gewißheit“ noch weiter bestehende grundlegende „Unsicherheit“, die Ursache eines immensen inneren Kampfes ist. Ein Kampf, wie ihn Gottessucher bekanntlich seit jeher zu bestehen haben. Nur Hingabe an etwas weit Größeres und somit Hinschwinden des Ich-Wollens, das sich auch oft in einem Missionierungsstreben äußert, vermag ihn zu beenden und tiefen Frieden zu schenken.
Das ist schon bei den großen alten Geistern wie Guénon und Evola festzustellen, die nach Jahren der Suche und Frustrationen endlich in der Tradition einen nicht mehr logisch auszuhebelnden Fixpunkt und wenn schon nicht Frieden, so doch hoffentlich Ruhe fanden. Der eine in Kairo, weit weg von allem, was er fürchtete, der andere – man verzeihe mir das Ketzerische dieser Aussage – im Rollstuhl, den er herausgefordert hatte und den er vielleicht deswegen so geduldig ertrug. Beide wollten alles und mußten sich schließlich allein mit der (hoffentlich) gefundenen Ruhe zufriedengeben. Niederlagen sind unvermeidlich, wenn man das eigene verzehrende Streben auch auf andere projiziert und nicht im Selbst auf sie „hört“. Verzehrend ist aber jedes Denken und Streben, das die eigene Person zur „Göttlichkeit“ erheben will, jedoch darauf vergißt, daß davor der Höllengang zu stehen hat, wie es seit jeher die „kosmische Symmetrie“ und der Mythos verlangen. Zuerst muß in Jungschen Worten eben die Integration des Schattens vollzogen werden.
Will man nach oben, muß man genauso das Unten achten und darf es nicht leugnend verdrängen. Klar zu sehen bei Evola, der die Angst vor der eigenen femininen Seite (für ihn „unten“), mit der er in Jugendjahren vielleicht Bekanntschaft gemacht hatte, in übertriebene Virilität (für ihn „oben“) umzupolen versuchte. Und der dazu noch unter dem faszinierenden Einfluß Otto Weiningers das Weibliche mit dem Jüdischen gleichsetzte, was im Verein mit dem Zeitgeist seinen Antijudaismus miterklärt. Der übrigens umso erstaunlicher ist, als Evola nach eigener Aussage in der Jugend tiefste Eindrücke von drei Juden empfing, nämlich Carlo Michelstaedter, Otto Weininger und Tristan Tzara. Welch einen titanischen Kampf hat Evola wohl zeit seines Lebens gegen sich selbst geführt? Aber und jetzt kommt das große Aber: Ist nicht gerade exzessive Einseitigkeit ein wesentliches Kennzeichen des Genies? Oder um es pointierter auszudrücken: Ist das Genie nicht der Gegensatz des Weisen? Das Genie: einseitig. Der Weise: nach allen Seiten ausgeglichen, alle Tiefen und Höhen kennend und daher lächelnd?
Aus der mangelnden inneren Sicherheit, wie sie übrigens bei fast allen feinfühligen, intelligenten und daher an sich selbst zweifelnden Menschen selbstverständlich ist, ergibt sich auch die von Außenstehenden vielfach gerügte „Sehnsucht nach Autorität“. Diese Sehnsucht läßt sich jedoch nicht durch das übliche bloß autoritäre, aber eben nicht autoritative Gehabe sogenannter Führer befriedigen. Sie verlangt nach „kosmischen“ Maßstäben. Autoritätssehnsucht als bewußte Unterwerfung unter eine höhere spirituelle Macht.
Noch einen Punkt möchte ich hier aufgreifen, der für viele sehr anziehend ist: die Ästhetik der Integralen Tradition. Nicht ohne Grund fühlen sich häufig künstlerisch Berufene von ihr angesprochen. Man denke an Julius Evola und Frithjof Schuon, die beide malten und dichteten, an Ananda Coomaraswamy, den Sammler und Kurator indischer Kunst, an Titus Burckhardt, den Herausgeber hervorragender Kunstbände und heutzutage an den Temenos-Kreis, wo bildende Künstler und Dichter die Leitung innehaben. Guénon selbst war zwar kein Maler oder Dichter, aber er fühlte sich einer mathematischen Ästhetik verpflichtet, wie man z. B. seinen Studien zur Symbolik des Kreuzes deutlich entnehmen kann. Die Integrale Tradition als klares kosmisches Gesetz kann bei längerer Betrachtung tatsächlich mit der Schönheit eines geistigen Mandalas verglichen werden, dessen harmonische, symmetrische Wirkung von innen nach außen geht, um dann den Geist wiederum von außen nach innen zu lenken.
Der Gedanke des Mandalas führt automatisch zur Interpretation von C. G. Jung, der im Mandala ein Symbol des tiefstinneren Selbstes sieht, das er mit dem alchimistischen Gold und der Erlösergestalt Christi korreliert und als Zielpunkt des menschlichen Individuationsweges bezeichnet. Spricht also die Integrale Tradition mit all ihrer Symbolik des „Wie oben, so unten“ in uns gelegene Archetypen an, die angeblichen Marksteine unserer spirituellen Entwicklung? Die Tradition als „Sehnsucht nach der verlorenen Mitte“?
Und weil das alles so drängend wichtig ist, ja den Kern des eigenen Lebens betrifft, fehlt auch der Humor in der traditionalen Weltanschauung, obwohl Humor und Weisheit sich keineswegs ausschließen müssen. Auch die Angst vor allem „Niederen“ ist hier zu erwähnen, das einen „hinunterziehen“ könnte aus spirituellen Höhen. Und dazu gehört nun einmal auch die Natur, die sich oft genug in Schleim, Exkremente und körperliche Wollust hüllt. Kommt daher die zwar vordergründig nicht so klare, aber dem näheren Beobachter doch offenbare Naturfeindseligkeit der namhaften Traditionalisten?
Noch einige wenige Worte zu den politischen Visionen der Integralen Tradition: Die Konzeptionen eines traditionalen organischen Staates mögen ästhetisch berücken, archetypischen Sehnsüchten genügen und für manche die ewige Sinnfrage lösen, aber daß sie unser Leben hier auf Erden verbessern, bezweifle ich. Sie beachten nämlich nicht die unweigerliche Fehlbarkeit des Menschen. Und diese würde, so fürchte ich, statt zur erwarteten kosmischen Harmonie in kurzer Zeit zu einem üblen Totalitarismus führen. Zwangsmaßnahmen würden nämlich unweigerlich ergriffen werden müssen, sobald ernste Gefahr für die hochgesteckten spirituellen Ziele droht. Kein Staat kann aber heute mehr allein für sich existieren und sich abschotten. Wirtschaft und Kommunikation sind nun einmal weltweit vernetzt. Widerläufige Meinungen sind damit unvermeidbar. Trotzdem sehe ich viel Positives in der traditionalen Weltanschauung. Allein schon deswegen, weil sie das Gegenbild zu jetzt üblichen Denkgewohnheiten bildet, somit zum Widerspruch herausfordert und auf diese Weise provokativ das Nachdenken fördert.
Und eine letzte Frage: Wo sind denn heute die Menschen, die freiwillig die für diese Ziele notwendigen Opfer bringen? Bei meiner Einschätzung weiß ich mich sogar im Einklang mit der alten indischen Tradition, die klar und deutlich sagt, daß im Kali-Yuga ein traditionale Gesellschaftsordnung unmöglich ist. Die TRADITION mag sehr wohl eine große „innere Wahrheit“ sein oder in sich bergen. Aber sie mit einer „äußeren Wahrheit“ zu verwechseln, dünkt mich gefährlich.
Ich achte den Idealismus und die Religiosität der Traditionalisten und kann die Ästhetik und Sinnerfüllung ihrer Lehre nachempfinden. Doch Gutes zu wollen und Gutes zu tun, sind zwei verschiedene Dinge. Nicht ohne Grund heißt es, daß der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Die Geschichte lehrt es seit langem.

 
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