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Metaphysik der Schuld

Von Martin Schmidt

Zur offiziellen Geschichtspolitik in Deutschland

Auf der Suche der Deutschen nach nationaler Selbstvergewisserung scheint das Volk mittlerweile ein ganzes Stück weiter zu sein als die Politiker. Am deutlichsten ließ sich das während der Fußball-Weltmeisterschaft beobachten, als der patriotische Funken von den begeisterten Massen auf die Machthabenden übersprang, sei es aus wirklicher Begeisterung oder aus Kalkül. Daß diese Patriotismuswelle weit mehr als ein kurzfristiges Partyphänomen ist, belegt eine im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durchgeführte Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Allensbach. Demnach lieben drei Viertel der Bundesdeutschen ihr Land, zwei Drittel sind stolz darauf, Deutsche zu sein. 74 Prozent der Befragten zeigen sich überzeugt, daß die Nation auch im Rahmen EU-Europas die entscheidende Identifikationsebene bleiben werde.
Doch trotz der unterschwellig fortwirkenden schwarz-rot-goldenen Begeisterung des „deutschen Sommermärchens“ (so schmücken im Alltag nach wie vor erheblich mehr Fahnen die deutschen Städte und Dörfer, als dies jemals zuvor in der Nachkriegsgeschichte der Fall gewesen ist) knüpft die unionsgeführte schwarz-rote Koalition in punkto Geschichtspolitik an das an, was die vorangegangenen Bundesregierungen vorexerzierten: Sie verweigert eine gründliche Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts in der DDR, zögert bei der Wahrung nationaler Interessen und hält an den Grundpfeilern einer Erinnerungskultur im Zeichen einseitiger „Vergangenheitsbewältigung“ fest.

Der Umgang mit dem „Fall Grass“, sprich mit der 60 Jahre lang verschwiegenen Mitgliedschaft des Schriftstellers in der Waffen-SS, zeigt darüber hinaus den bleibenden Einfluß linker Geschichtsdeutungen in den Medien. Weder nahmen diese – von Ausnahmen abgesehen – die von Günter Grass selbst inszenierte Enthüllung zum Anlaß, das Wesen und die militärische Bedeutung der Waffen-SS als kämpfende Eliteeinheit vorurteilsfrei darzustellen, noch wurde die perfide Instrumentalisierung der Waffen-SS-Zugehörigkeit gegen politische Widersacher in den Nachkriegsjahrzehnten problematisiert, wie sie gerade Grass als einer der wichtigsten deutschen Vergangenheitsbewältiger praktizierte. Statt dessen beschränkten sich die Meinungsmacher weitgehend auf die Kritik des „unmoralischen“ Verschweigens der Mitgliedschaft in einer inkriminierten militärischen Truppe, ohne deswegen freilich soweit zu gehen, das angebliche „Gewissen der Nation“ medial zu ächten.
Ähnlich vielsagend für die von jahrzehntelanger Vergangenheitsbewältigung und anti-nationalem Selbstverständnis geprägte Haltung bundesdeutscher Politiker und Medien sind mehrere, im folgenden skizzierte überregionale Debatten der letzten Monate sowie zwei geschichtspolitisch bedeutsame Berliner Diskussionen des Vorjahres.

Gedächtnis Buchenwald und Sachsenhausen

Nur wenige Wochen nach dem kollektiven Taumel der Fußball-WM wurde eine vom stellvertretenden Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Hermann Schäfer, am 25. August gehaltene Eröffnungsrede zum Weimarer Kunstfest als „Skandal“ aufgebauscht. Schäfers Fauxpas war es, daß er das ihm gestellte Thema „Gedächtnis Buchenwald“ nicht auf die Judenverfolgung bezog, sondern das Vertreibungsunrecht an Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte. Das an jahrzehntelange ideologische Ausblendung deutscher Opfer gewöhnte Weimarer Publikum unterstrich die eigenen Demokratiedefizite, indem es den Vortragenden durch Buhrufe und lautes Klatschen am Weiterreden hinderte.
Wenig Fairneß bewiesen in den folgenden Tagen auch Teile der bundesdeutschen Presselandschaft, indem sie die Tatsache unterschlugen, daß Festspielleiterin Nike Wagner die Akzentuierung des Vertreibungsthemas vorgegeben hatte. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, nannte die Rede eine Zumutung, und der Weimarer Oberbürgermeister Stefan Wolf (SPD) sprach von einer „Beleidigung der Opfer und der Überlebenden“. Schäfer mußte sich für seine Nichteinhaltung der erwarteten Gedenkrituale sogar Rücktrittsforderungen anhören, die erst verstummten, als der Getadelte eine jener in Sachen Vergangenheitsbewältigung längst ebenfalls ritualisierten Entschuldigungen abgegeben hatte.
Der Vorfall in Thüringen reiht sich ein in eine ganze Kette ähnlicher „Skandale“ in Mitteldeutschland, deren empörender Charakter in Wahrheit darin begründet liegt, daß sich in ihnen eine breite Tendenz zur Verharmlosung kommunistischen Unrechts offenbart. Erst im April dieses Jahres war es der brandenburgische Ministerpräsident Jörg Schönbohm (CDU), der eine Welle medialer Entrüstung lostrat, als er auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des NS-Konzentrationslagers Sachsenhausen anmahnte, auch jener zu gedenken, die am selben Ort zwischen 1945 und 1950 umgekommen waren. Der damalige Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen-Komitees (ISK), Hans Rentmeister, nannte diese Aufforderungen eine „Zumutung“ und begründete dies mit der durch die Forschungslage nicht abgedeckten Behauptung, daß sich unter den sowjetischen Nachkriegshäftlingen in Sachsenhausen zahlreiche „Mörder“ seiner Mitinhaftierten befunden hätten. Mittlerweile wurde Rentmeister als ehemaliger Leiter der Kreisdienststelle der Stasi in Berlin-Lichtenberg enttarnt und als ISK-Generalsekretär entlassen. Doch die zwischen Elbe und Oder allgegenwärtigen Straßenbenennungen nach Karl Marx, Friedrich Engels, Ernst Thälmann oder Clara Zetkin sind geblieben. Weder führende SPD-, Grünen- und FDP-Politiker noch kommunale Amtsträger der CDU stören sich daran, von der postkommunistischen PDS ganz zu schweigen.

Mauertote

Bezeichnend für die politischen Folgen der von einschlägigen Fernsehsendungen und einem erheblichen Teil der Druckmedien mitgetragenen „Ostalgie“-Welle ist der bizarre Streit um die Zahl der Mauertoten, wie er sich in diesem Sommer in Berlin abspielte. Vor dem Hintergrund des 45. Jahrestages des Mauerbaus veröffentlichte das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) am 8. August eine gemeinsam mit der Mauergedenkstätte Bernauer Straße veröffentlichte Studie. Demnach seien nur 125 Mauertote (plus 81 noch zu klärende Fälle) statt der bis dato von beiden Einrichtungen angenommenen 268 Todesopfer nachzuweisen. Die neuen Zahlen stießen auf den massiven Widerspruch Alexandra Hildebrandts, der Leiterin des Mauermuseums am Checkpoint Charlie sowie der Arbeitsgemeinschaft 13. August. Hildebrandt war deutschlandweit bekannt geworden, als sie am Checkpoint Charlie in eigener Initiative 1067 Kreuze für die Mauertoten errichten ließ und damit eine von Touristen aus aller Welt stark beachtete Gedenkstätte schuf. Die Kreuze mußten allerdings im Juli letzten Jahres aufgrund fragwürdiger Einwände der Behörden und mit Billigung des Berliner SPD-PDS-Senats beseitigt werden.
Entsprechend ihrer neuesten, Mitte August veröffentlichten Recherchen geht die Sprecherin der entschieden antikommunistischen Arbeitsgemeinschaft 13. August von 1.201 Toten an der innerdeutschen Grenze aus. Das entspricht einem Anstieg der bekanntgewordenen Opfer von 66 Fällen gegenüber dem August 2005. Alexandra Hildebrandt wirft dem ZZF und der Mauergedenkstätte nun vor, die üppige Bezahlung der Studie durch die frühere rot-grüne Bundesregierung (satte 260.000 Euro) habe die verantwortlichen Historiker zu einer von den Auftraggebern mutmaßlich erwünschten Herunterrechnung der Mauertoten veranlaßt.

17. Juni

Typisch für die weitverbreitete Verharmlosung kommunistischen Unrechts ist auch ein weiterer Berliner Eklat. Im Juni 2005 entfernten städtische Arbeiter am Bundesfinanzministerium trotz heftiger Proteste anwesender Demonstranten und anderslautender Wünsche der hauptstädtischen CDU-Fraktion 40 Fototafeln zur Erinnerung an den 17. Juni 1953. Die Anbringung der Tafeln anläßlich des 50. Jahrestages des Volksaufstandes 2003 war vom Finanzministerium noch genehmigt worden. Sie sollten einen Gegenpol zu dem ebenfalls an der Fassade montierten monumentalen Wandmosaik bilden, mit dem das SED-Regime in der „Deutschen Demokratischen Republik“ verherrlicht wurde. Während letzteres erhalten blieb, mußten die großflächigen Bildtafeln weichen, was einen älteren Mann veranlaßte, vor dem Finanzministerium in den Hungerstreik zu treten. Als Symbole seines Widerstandes gegen die rot-rote Staatsgewalt bedeckte er sich mit Rosen und einer Deutschlandfahne.

Vertreibungsunrecht

Da der in Weimar ausgebuhte Hermann Schäfer auch als Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn amtiert, gibt es von seinem Fall direkte Verbindungslinien zu einem anderen derzeit heftig diskutierten Tabubruch, nämlich der Darstellung des millionenfachen Vertreibungsunrechts an Ost- und Auslandsdeutschen im Gefolge des Zweiten Weltkriegs. Unter Schäfers Verantwortung war im Dezember 2005 in besagtem Bonner Museum eine Wechselausstellung „Flucht, Vertreibung und Integration“ eröffnet worden. Zwar wurde dort unübersehbar die „Alleinschuld“ der nationalsozialistischen deutschen Kriegspolitik für das Vertreibungsunrecht behauptet und die Mitverantwortung der alliierten Siegermächte sowie der Vertreiberstaaten minimiert oder ganz geleugnet, dennoch erschien den Vorkämpfern der politischen Korrektheit offenbar schon die Thematisierung deutschen Leids in einem solch bedeutenden Museum nicht hinnehmbar. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei der Bonner Ausstellung um eine vorweggenommene Antwort auf die am 10. August im Berliner Kronprinzenpalais eröffnete Schau „Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ handelte.
Auch diese vom Bund der Vertriebenen (BdV) organisierte Ausstellung nimmt deutlich Rücksicht auf die veröffentlichte Meinung. Sie zeichnet sich nicht nur durch eine schwerpunktmäßige Behandlung von Massenvertreibungen aus, deren Opfer keine Deutsche waren, sondern vor allem durch ihre in einem allzu nüchternen, ja kühlen Ton abgefaßten Texte. Mit dem Vertreibungsthema sollen bloß keine Emotionen geweckt werden, schon gar keine kollektive Trauer über deutsche Opfer. Dieser Ansatz ist nicht nur eine Folge strategischer Überlegungen des BdV und seiner Präsidentin Erika Steinbach, die das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) in Berlin allen Widerständen zum Trotz unbedingt durchsetzen will. Vor allem entspricht er dem geschichtspolitischen Denken maßgeblicher Unionspolitiker, von deren Unterstützung man abhängig ist. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder betonte beispielsweise am 18. September auf einer von seiner Partei organisierten Berliner Gedenkveranstaltung „Sechzig Jahre Vertreibung – Sechzig Jahre Wege zur Versöhnung“ die unveränderte Bedeutung der Bewußtmachung der „Singularität“ der deutschen Verbrechen in der Zeit des Dritten Reiches. Erst nach dieser Vorrede forderte Kauder, selbst Kind ungarndeutscher Flüchtlinge, die öffentliche Anerkennung des Unrechts der Vertreibung an 15 Millionen Landsleuten, obwohl diese als „Reaktion“ auf anderes Leid erfolgt sei.
Seine Kollegen in der Unionsführung haben, angefangenen bei Kanzlerin Merkel, immer wieder ihre prinzipielle Zustimmung zum „Zentrum gegen Vertreibungen“ öffentlich bekundet und eine vage Absichtserklärung im schwarz-roten Koalitionsvertrag durchgesetzt. Doch konkrete Hilfen etwa bei der Erwerbung einer geeigneten Immobilie sind von ihnen offenbar nicht zu bekommen.
Weder die breite thematische Konzeption und die nüchterne Darstellung der als Probelauf gedachten Berliner Vertreibungsausstellung noch die häufig viel zu zaghafte Fürsprache von CDU/CSU konnten die zahlreichen polemischen Reaktionen – und zwar längst nicht nur aus Polen und Tschechien – verhindern. Unablässig polterten der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel, seines Zeichens Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe sowie der Stiftung deutsch-polnische Zusammenarbeit, und andere Protagonisten deutscher Schuldpolitik gegen die Erinnerung an die Opfer des eigenen Volkes. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse mutmaßte sogar, daß die Thematisierung der Vertreibung den Holocaust „relativieren“ könne.

Der ideologische Hintergrund

Letzterer Gedankengang veranlaßte Thorsten Hinz in der Jungen Freiheit zu Überlegungen über die derzeit maßgebliche Geschichtspolitik: „Die westliche Welt (zu der heute auch die Staaten Ostmitteleuropas zählen) hat sich auf eine ‚Große Erzählung‘ über die Geschichte des 20. Jahrhunderts geeinigt, die zu einer politisch-historischen Metaphysik geworden ist. Elemente davon gehören auch zum ideologischen Überbau des modernen Rußland. Die deutschen Politiker beugen sich dieser Erzählung. Sie hat zwei Bestandteile: den Holocaust in seiner Unvergleichlichkeit (der Zweite Weltkrieg als seine faktische Voraussetzung ist darin eingeschlossen), der allen anderen geschichtlichen Ereignissen ihre sekundäre Bedeutung zuteilt. (…) Der zweite, komplementäre Bestandteil sind die Deutschen als die Verursacher und damit als Verkörperung eines gleichfalls die Regeln der menschlichen Welt sprengenden ‚radikal Bösen‘. Damit fallen auch sie aus der Geschichte heraus und haben das Recht verwirkt, die eigene Leidensgeschichte autonom zu erzählen.“
Demgegenüber ließen sich Beispiele für einen souveräneren Umgang mit der Zeitgeschichte finden. Etwa in Ungarn, wo am 21. Oktober bei Budapest nicht nur ein privat finanziertes zentrales Denkmal für die Opfer des Weltkommunismus eingeweiht wurde (sowohl einige um Spenden gebetene deutsche Ministerpräsidenten als auch die unionsnahe Konrad-Adenauer-Stiftung zeigten sich an einer Förderung bezeichnenderweise desinteressiert), sondern wo bereits seit dem 18. Juni dieses Jahres eine zentrale Gedenkstätte für die rund 200.000 ungarndeutschen Vertreibungsopfer existiert. Derartige Emanzipationen von überlebten Geschichtsbildern werden hierzulande jedoch nur selten und dann tunlichst ohne Verweis auf die deutschen Verhältnisse öffentlich gemacht.
Während einzelne führende Politiker wie der aus einer bessarabiendeutschen Familie stammende Bundespräsident Horst Köhler, Journalisten wie Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek oder Schriftsteller wie der Rumäniendeutsche Richard Wagner zu erkennen beginnen, daß die Nachkriegszeit mit all ihren Begleiterscheinungen endet und die einseitige Vergangenheitsbewältigung alten Stils ein Auslaufmodell ist, halten andere mit aller Macht an ihrem ewiggestrigen anti-nationalen Weltbild fest. Zu ihrem ideologischem Unterbau zählen Bücher wie das erst kürzlich erschienene Werk „Der lange Schatten der Vergangenheit“ von Aleida Assmann (Verlag C. H. Beck). Die grundsätzliche Bedeutung einer kollektiven Erinnerung wird darin zwar anerkannt und ihre Notwendigkeit betont, jedoch in bezug auf die Geschichtspolitik im heutigen Deutschland mit einer ideologischen Vorgabe versehen: Dreh- und Angelpunkt müßten der Holocaust und die Bewältigung der NS-Vergangenheit bleiben, so Assmann. Die politisch Handelnden stünden diesbezüglich in Verantwortung gegenüber einer von der Autorin völlig unkritisch ins Zentrum der Betrachtung gerückten sogenannten „Weltöffentlichkeit“.
Wen angesichts derartiger Vorstellungen und des moralisierenden Gutmenschentums, des Opportunismus und der anti-nationalen Gesinnungsschnüffelei von Grass, Meckel und Konsorten Schauder und Resignation befallen, der sollte sich mit einem Blick auf die Zukunft der „Berliner Republik“ trösten: Eine negative Erinnerungskultur ist auf Dauer nicht tragfähig, ja sie kann es nicht sein, weil sie keine vitale Identität stiftet und weil die Menschen auch und vor allem nach Vorbildern in der Geschichte verlangen. Wer dem Volk „aufs Maul schaut“, kann den bevorstehenden Koordinatenwechsel in der Erinnerungskultur bereits erahnen.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com