Nun also auch Günter Grass: Der hochgejubelte Schriftsteller, Mitglied der „Gruppe 47“, Wahlhelfer der SPD und Gefolgsmann Willy Brandts, der gefürchtete Moralist Westdeutschlands, der von seiner Heimatstadt Danzig nur als „Gdansk“ sprach, hat zugegeben, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Jetzt, nach mehr als sechzig Jahren. Weil er der „Enge seines Elternhauses“ entfliehen wollte. Gab das ein Aufsehen in der politisch korrekten Bundesrepublik! Zugleich enthüllte sich dabei ein weiteres Mal die dort herrschende Doppelmoral.
Ein CDU-Abgeordneter hat sich nicht entblödet, von Grass die Zurücklegung des Nobelpreises zu verlangen. Seine peinlich berührten linken Verteidiger hingegen meinen, Grass sei damals 17 Jahre alt gewesen, und überhaupt müsse man zwischen Person und Werk unterscheiden – eine Auffassung, die im Falle anderer Künstler freilich nie zur Anwendung kam – man denke nur an die momentane Aufregung um die Breker-Ausstellung in Schwerin.
Grass hat entweder mit seiner dick aufgetragenen Moral jahrelang geheuchelt und gelogen, oder er will Publicity für sein neues Buch machen. Dazu schreibt die Journalistin Nadira Hurnaus: „Günter Grass peppt sommerliche Nachrichten-Dürre mit Waffen-SS auf. Endlich hat das Sommerloch sein Thema. Gebeten und ungebeten kommentieren, kritisieren, analysieren, exkulpieren oder karikieren alle, die sich des Deutschen mächtig wähnen, Grass’ öffentliches Waffen-SS-Bekenntnis.“
Besser hätte nicht einmal die Coca-Cola-PR mit viel Geld einen neuen Spot plazieren können. Die unbezahlte und unbezahlbare Propaganda-Maschine läuft auf Hochtouren. Die Bestellungen für das neue Grass-Buch boomen. Der Verlag reagiert blitzschnell: Die Bücher werden statt am 1. September sofort ausgeliefert. Und die Redakteure schauen ungläubig auf die späte Sperrfrist für ihre ungeschriebenen Rezensionen.
Auch Literaturkritiker Hellmuth Karasek kommentiert. Nicht das Buch, aber die „Beichte“: Daß Grass mit siebzehn Jahren zur Waffen-SS gehört habe, sei eine Lappalie. Damit hat er recht. Doch später – so Karasek weiter – sei er derjenige gewesen, der die Moralkeule am häufigsten geschwungen habe. Und damit hat er doch noch mehr recht. Günter Grass, der Moral-Macho der Vergangenheitsbewältigung, kann nicht jahrzehntelang lauthals Geständnisse von vermeintlich ins Dritte Reich Verstrickten erzwingen wollen und dann mit knapp achtzig Jahren selbst ein wenig von der eigenen Verstrickung gestehen.
Manifestiert sich so das ganz normale Erinnern und Erzählen eines alten Mannes über seine schmerzliche Jugend? Oder manifestiert sich so die Publicity-Geilheit eines sich selbst überschätzenden egomanischen Pseudo-Intellektuellen? Oder manifestiert sich so die gezielte Werbekampagne eines macht- und geldbesessenen Parvenüs und seines Verlages? Oder wollte er nur, wie manche Kommentatoren zu wissen glauben, der bevorstehenden Veröffentlichung seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft von dritter Seite zuvorkommen?
Einer – nur ein einziger – und auch der steht nicht im Ruf, uneitel zu sein – verweigert jeden Kommentar. Das ist Marcel Reich-Ranicki. Warum? Man weiß es nicht. Aber es tut gut. Vielleicht, weil er das neue Buch genauso schlecht findet wie „Ein weites Feld“. Und weil er die ganze Diskussion für läppisch hält.
Die Wiener „Presse“ titelte am 16. August: „Günter Grass behält den Nobelpreis. Diesen Artikel muß man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Seine Aussage ist nicht mehr und nicht weniger, als daß Grass den Nobelpreis nie bekommen hätte, wäre seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS bekannt gewesen – ein schönes Beispiel für die im Kunstbetrieb herrschende antifaschistisch-mafiose Grundhaltung im allgemeinen und für die „politisch korrekte“ Gesinnung des angeblich politisch neutralen Nobelpreiskomitees im besonderen. Am deutlichsten wird Martin Walser in der „Stuttgarter Zeitung“: „Der mündigste aller Zeitgenossen kann sechzig Jahre lang nicht mitteilen, daß er ohne eigenes Zutun in die Waffen-SS geraten ist. Das wirft ein vernichtendes Licht auf unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch.“