Das Allensbach-Institut ermittelte, daß anläßlich der Fußballweltmeisterschaft 58 Prozent der unter Dreißigjährigen sich ihr Kraftfahrzeug oder Domizil mit Nationalemblemen geschmückt hatten. Ein ähnlicher Prozentsatz genoß das Gemeinschaftsgefühl, das eine sichtbare Identifikation mit dem eigenen Land stiftete. Mit der Sommerhitze sind auch die letzten Relikte der Deutschlandbegeisterung aus den Tagen der WM-Euphorie gewichen. Die Halbwertzeit von schwarz-rot-goldenen Hemden erwies sich – voraussehbar – als kurz. Der Alltag hat uns, und wir haben die Fahnen eingeholt. Dennoch läßt uns das Land nicht los – wie auch?
Dies scheint seit einiger Zeit, unabhängig von der kurzweiligen WM-Zäsur, auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Deutschland scheint derzeit selbst für seine Inländer jenen Platz auf der geistig-moralischen Out-Liste preisgegeben zu haben, den es dort so lange behäbig eingenommen hatte. Gab es in den vergangenen Jahrzehnten je einen solchen Ausstoß an Büchern, die die Hin- oder Rückwendung aufs Eigene, aufs Eingemachte predigten und priesen, wie heute?
Die Besinnung auf Nation, Heimat und das auch geistig verstandene Qualitätsemblem „Made in Germany“ hat Konjunktur unter Literaten und Intellektuellen. Matthias Matusseks positiv gestimmtes „Wir Deutschen“, Florian Langenscheidts Wirtschaftswunderhommage „Das Beste an Deutschland“, das erstaunliche Werk des Schriftstellers Richard Wagner „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“, Florian Illies’ mit einem Hauch Wehmut und Sehnsucht durchzogenen Heimatnotizen unter dem Titel „Ortsgespräch“, die schöne Serie in der Tageszeitung Die Welt über „Deutsche Orte“: Überall geht es um eine Rückeroberung von Heimat. Auch in großen Internetforen wie dem von Spiegel-online füllt die Diskussion über einen „Neuen Patriotismus“ Dutzende von Seiten.
Vor allem – es fehlen in der Öffentlichkeit weitgehend die noch vor Jahren üblichen mahnenden Gegenstimmen. Die alarmistischen Rufe einer Jutta Ditfurth, eines Ralph Giordano oder Hans-Christian Ströbele haben sich mit einem Nischendasein abzufinden. Wie jämmerlich ging beispielsweise die GEW mit ihrer Nationalhymnenkritik unter! Harald Schmidts Witz, wonach sich Günter Grass angesichts des weltmeisterschaftlichen Nationaltaumels wieder gefühlt habe „wie mit 17“, beruht auf Assoziationen, die lachen machen, doch nicht wirklich verfangen.
Man sieht ein neues Nationalgefühl entstehen, weit entfernt davon, sich nationalistisch zu gebärden. Statt dessen wird ein unverkrampfter, unverordneter, gelassener Patriotismus verortet, der sich gern mit dem Prädikat „weltoffen“ schmückt. Die Ankunft in der Normalität nennt man das.
Ist es das? Der verdiente Abschluß einer jahrzehntelangen Vergangenheitsbewältigung, ein Auf zu neuen Ufern, in wohlgemerkt durch und durch friedvoller Absicht? Man täusche sich nicht. Solche Leichtfüßigkeit wäre zu undeutsch, um von Dauer zu sein.
„Schwarzrotgold jedenfalls“, schreibt Spiegel-Autor Reinhard Mohr in seinem Buch „Das Deutschlandgefühl“, „ist keine Bedrohung für den Weltfrieden mehr, sondern Spielmaterial für eine Dauerparty.“ Darin trifft sich der Altlinke Mohr groteskerweise mit der Bewertung des derzeitigen Deutschlandhypes durch die Chefdenker der NPD. Jenen erscheint das Spiel mit nationalen Versatzstücken zu flach, diesem – Mohr – flach genug, um es hämisch dem Spott preiszugeben. „Patriotismus ist Party!“ und: „Ich empfinde dieses schöne Wir-Gefühl als ein globales“, erklären Internetdiskutanten ihre nationale Befindlichkeit.
Nun wäre gegen solche Harmlosigkeit wenig einzuwenden. Skeptischer stimmt die Flachheit solcher Attitüde. Das Deutschlandgefühl unserer Tage gleicht dem Affekt spielender Kinder. Das Bewußtsein, dem es entspringt, ist keiner Verpflichtung, keiner Verantwortungsbereitschaft geschuldet, sondern erwächst aus einem Bedürfnis, einem Mangel. Insofern steht es auf denkbar tönernen Füßen. Denn das Fundament ist porös, es ist die längst postnationale Identität des allseits flexiblen, mobilen, habituell unerwachsenen Bundesbürgers.
Nie zuvor war eine Generation so international wie diese: kaum ein Studiengang ohne obligatorische Auslandsemester, kaum ein Dreißigjähriger, ob Maurer oder Büromensch, ohne vielfache Fernreiseerfahrung. Wo, wenn nicht im Rückgriff auf Familie und Vaterland, sind denn Halt und Orientierung zu finden in den Weiten des Internets, den allseitigen Koof-mich-Offerten, im ethischen Voluntarismus; kurz, im so trügerisch breitgefächerten Angebot der Möglichkeiten bei tatsächlicher materieller wie geistiger Begrenztheit? Insofern bildet der „Neue Patriotismus“ einen Haltepunkt ab, doch längst keine Haltung.
Die Beschwörung von Orten der Kindheit (Illies), die Glorifizierung deutscher Wirtschaftsmarken (Langenscheidt) kennzeichnen eine pragmatische Strategie des Überlebens in einer Welt, deren Unübersichtlichkeit längst festgestellt wurde. Daß diese patriotische Gefühligkeit jegliches historisches Bewußtsein jenseits der Weltkriegs-Zäsur entbehrt, wurde schon durch die „Du bist Deutschland“-Kampagne deutlich oder durch das zweifelsohne anrührende „Wir sind Wir“ eines Paul van Dyk. Bei aller Hymnisierung der Nachkriegsgeschichte fehlt der Blick auf die eigene Geschichte in ihrer Gesamtheit und somit jegliches Sendungsbewußtsein, jeder positive deutsche Lebensentwurf, der tragfähig für die Zukunft sein könnte. Horst Köhlers stolzer Rekurs auf „uns Deutsche“ meinte stets nur die Deutschen nach 1945.
Besser als nichts, besser als die altbekannte Negierung jeglichen Nationalbewußtseins, mag mancher meinen. Vielleicht aber verstellt dieses Nationalgefühlchen aber auch nur die Sicht – unter anderem darauf, daß ihm jeder Niederschlag in der politischen Welt fehlt.
Mitten im WM-Jubel, dem sich bis hin zu Autonomen-Kreisen kaum einer verschloß, hatte der avantgardistische Künstler Markus Lüpertz der Zeit ein Interview gegeben, das man als melancholisch, zersetzend oder wahrhaftig empfinden mochte. Lüpertz beurteilte den Fahnenrausch der Deutschen nicht deshalb als schal, weil er ihn für bedrohlich gehalten hätte. Er sah ein trunken taumelndes Volk ohne wahre Hoffnung, ohne Ziel: „Ich sehe nirgendwo liebenswürdige Anbindungen. Ich glaube, daß unser Volk auseinanderbricht. Es gibt nichts, was es zusammenhält, ein Problem wie die aktuelle Wirtschaftskrise zu überwinden. Es gibt trotz WM-Euphorie keine nationale Identität.“
Die meisten, bedauerte Lüpertz, könnten mit ihrer „freien und befreiten Gesellschaft“ doch gar nichts anfangen, sie nutzten ihre Freiheit allenfalls, um nach Mallorca zu fliegen. Deutsche Wimpel am Ballermann: Mancher mag auch dies als patriotischen Ausdruck verstehen.