Der folgende Beitrag versucht nach einer kurzen Zusammenfassung der Ereignisse, die zum Ende des Heiligen Römischen Reiches geführt haben, das Wesen des Reichsgedankens, ausgehend von jungkonservativen Stimmen der Zwischenkriegszeit, zu erfassen und abschießend die Frage zu beantworten, ob eine Renaissance der Reichsidee in Europa denkbar ist, ja sinnvoll wäre.
Am 20. April 1792 erklärte die französische Assemblée Législative dem 24jährigen Habsburgersproß Franz den Krieg. Dieser war damals zwar schon Erzherzog von Österreich, König von Böhmen und König von Ungarn, aber noch nicht gewählter deutscher Kaiser, da sein Vater Leopold I. erst wenige Wochen davor verstorben war. Den Anlaß für den Krieg hatte eine diplomatische Intervention Leopolds gemeinsam mit Friedrich Wilhelm II. von Preußen zu Gunsten des französischen Königs geliefert. Die Armee des revolutionären Frankreichs konnte die österreichischen und preußischen Truppen rasch zurückdrängen, die österreichischen Niederlande (Belgien) und weite Teile des linksrheinischen Deutschland wurden erobert.
Im selben Jahr radikalisierte sich auch die Revolution in Frankreich selbst. Es kommt zu den ersten Massenhinrichtungen und zur Einführung einer neuen Zeitrechnung. Am 21. Jänner 1793 wird Ludwig XVI. ermordet. Daraufhin schließen sich die meisten europäischen Mächte zu einer antifranzösischen Koalition zusammen, ohne den Worten freilich Taten folgen zu lassen. Auch die deutschen Großmächte Preußen und Österreich verfolgen in erster Linie ihre eigenen Interessen, ohne sich um die des Reiches sonderlich zu kümmern: Schon 1792 vereinbart Preußen mit Rußland die zweite polnische Teilung, drei Jahre später wird Polen in der dritten Teilung unter Beitritt Österreichs nahezu vollständig von der Landkarte gelöscht. Preußen sieht nun keinen Grund mehr, den Krieg gegen Frankreich weiterzuführen und schließt einen Sonderfrieden, in dem es Frankreich sogar die eroberten linksrheinischen Gebiete des Deutschen Reiches zusichert! Auch die anderen norddeutschen Reichsstände schließen sich diesem Sonderfrieden an, sodaß der Reichskrieg gegen Frankreich nur mehr durch Österreich und einige süddeutsche Länder geführt wird.
In Frankreich hat der terreur inzwischen ein Ende gefunden, innenpolitisch ist weitgehend Ruhe eingekehrt und die 1793 eingeführte levée en masse, die allgemeine Wehrpflicht, führt zu einer ungeheuren Dynamisierung des Krieges. Das französische Volksheer setzt sich fast überall siegreich durch – nur am Rhein kann ihm Erzherzog Karl anfangs begegnen –, Oberitalien wird vom jungen korsischen Feldherrn Bonaparte im Sturm erobert. 1797 muß auch der Kaiser Frieden schließen. Österreich verliert das spätere Belgien und die Lombardei, außerdem verzichtet Franz II. auf das linksrheinische Deutschland. Das Reich erhält dafür keine Entschädigung, Österreich freilich schon: die Republik Venedig samt Dalmatien und dem zu ihr gehörigen Teil Istriens.
Im Reich stellte sich nun die Frage der Entschädigung der linksrheinischen Stände für ihre territorialen Verluste. Obwohl seine Funktion auch die eines Schutzherren der Kirche im Reich war, stimmte der Kaiser zu, daß diese Entschädigung vor allem zu Lasten der geistlichen Fürstentümer gehen sollte – der Weg zum Reichsdeputationshauptschluß war frei. Durch ihn verloren im Jahre 1803 110 Reichsstände ihre politische Existenz, vor allem die geistlichen Territorien und die meisten Reichsstädte. Anstelle der alten geistlichen Kurfürstentümer wurden neue Kurwürden geschaffen. Hauptgewinner waren Bayern, Baden und Württemberg, die weit mehr an „Entschädigung“ erhielten als sie linksrheinisch verloren hatten und deren Einwohnerzahl und Territorium sich um ein Vielfaches vergrößerte. Auch das Fürsterzbistum Salzburg wechselte damals seinen Herrn und wurde erstmals habsburgisch. Schon mit dem Reichsdeputationshauptschluß war also das Ende des alten Reiches gekommen.
Nur ein Jahr später, im Mai 1804, ließ sich Napoleon – durch ein Plebiszit legitimiert – zum erblichen Kaiser der Franzosen proklamieren und ersuchte zugleich um Zustimmung von Kaiser und Reichstag. Dies war mehr als eine diplomatische Geste. Es sollte deutlich machen, daß sich Napoleon als Nachfolger Karls des Großen sah und ein Auge auf das Reich selbst geworfen hatte. Die Zustimmung konnte ihm Franz II. nicht verweigern, dies hätte einen neuen Krieg bedeutet. Er konterte mit der Proklamierung einer eigenen österreichischen Kaiserwürde am 11. August 1804, und zwar ohne den immerwährenden Reichstag in Regensburg zuvor auch nur in Kenntnis gesetzt zu haben. Am 2. Dezember desselben Jahres krönte sich daraufhin Napoleon selbst zum Kaiser der Franzosen, ließ sich aber auch von Papst Pius VII. salben, um damit erneut die Brücke zum sakralen Kaisertum Karls des Großen zu schlagen. Franz II. hingegen hatte auf eine eigene Krönungszeremonie verzichtet. Sein Schritt war vor allem deshalb nötig geworden, weil angesichts der revolutionären Veränderungen und durch die Neuzusammensetzung des Kurfürstenkollegiums, in dem nun die Protestanten eine Mehrheit hatten, eine nochmalige Wahl eines Habsburgers zum Kaiser unwahrscheinlich geworden war.
Schon 1805 kommt es erneut zum Krieg, als Österreich einer Koalition mit England beitritt. Und wieder bleibt Preußen neutral. Bayern, Baden und Württemberg, die Gewinner des Reichsdeputationshauptschlusses, stellen sich jedoch sogar auf die Seite der Franzosen. Im Mai kassiert Napoleon die verschiedenen, vom revolutionären Frankreich geschaffenen italienischen Republiken und erklärt sich zum König von Italien. Und wieder knüpft er an Karl den Großen an und läßt sich mit der eisernen Krone der Langobarden krönen. In dieser Situation trägt ihm der ehemalige Kurfürst von Mainz und nunmehrige Reichserzkanzler Carl Theodor von Dalberg die Krone des Heiligen Römischen Reiches an.
Als Österreich in der Drei-Kaiser-Schlacht von Austerlitz endgültig geschlagen und Wien von den Franzosen besetzt wird, muß Franz II. außer Venedig Tirol, Vorarlberg und die habsburgischen Vorlande herausgeben, die nun Bayern, Baden und Württemberg zugeschlagen werden. Napoleon geht noch einen Schritt weiter und erhebt, obwohl das Recht dazu nur dem Kaiser des Reiches zugestanden hätte, Bayern und Württemberg zu Königreichen und Baden zum Großherzogtum.
Es ist beschämend, daß in dieser Situation in Wien tatsächlich überlegt wurde, zu Gunsten Napoleons auf die Reichskrone zu verzichten und dafür einige Vorteile für das österreichische Kaiserreich herauszuschlagen. Diese Herabwürdigung der römisch-deutschen Kaiserwürde zum „Handelsobjekt“ haben Historiker wie Karl Otmar von Aretin Franz II./I. zu Recht vorgeworfen.1
Doch alle diese Überlegungen werden zunichte gemacht, als sich die drei süddeutschen Mittelstaaten und weitere dreizehn Reichsstände am 12. Juli 1806 zu einem Rheinbund unter französischem Protektorat zusammenschließen. Nur zehn Tage später fordert Napoleon ultimativ die Abdankung Franz II., und am 1. August erklären die sechzehn Rheinbundstaaten ihren Austritt aus dem Reich. Am 6. August gibt Franz II. bekannt, daß er durch diesen Schritt das Band des deutschen Reiches als gelöst ansehe und das reichsoberhauptliche Amt und dessen Würde als erloschen. Das Wort „Abdankung“ kommt in diesem Dokument nicht vor. Der Kaiser entbindet jedoch alle Reichsstände von ihren Pflichten gegenüber dem Oberhaupt des Reiches. Damit legt er nicht nur persönlich die Krone zurück, sondern löst zugleich das Reich als solches auf – widerrechtlich, wäre ein solcher Schritt doch dem Reichstag vorbehalten gewesen.
Das „Reich“ ist eine der zentralen politischen Ideen der Deutschen seit ihren Eintritt in die Geschichte. Wenn nun „Reich“ nichts anderes als die Bezeichnung für den deutschen Nationalstaat, wie das von Teilen der nationalen Bewegung gesehen wurde, handelte es sich um eine Tautologie, um austauschbare Begriffe. Es hat nur dann einen Sinn, vom „Reich“ zu sprechen, wenn damit etwas wesentlich anderes gemeint ist als bloß ein deutscher Nationalstaat nach dem Muster der westeuropäischen Nationen. Der Blick auf die Geschichte macht deutlich, daß sich das Reich in dreierlei Hinsicht vom (National-) Staat unterscheidet:
lDas Reich geht über die Nation hinaus und bezieht per definitionem mehrere Völker in seine Ordnung ein. Im Mittelalter umspannte das Heilige Reich seinem grundsätzlichen Anspruch gemäß den ganzen christlichen Erdkreis. Wie der Papst in geistlichen Dingen war der Kaiser in weltlichen Dingen der Stellvertreter Gottes. Er empfing das weltliche Schwert als Symbol seiner Macht direkt von Christus und nicht, wie es die Kirche seit dem Investiturstreit immer wieder behauptet hat, über die Vermittlung des Papstes. Das Reich verwirklichte damit die transzendente, also die das bloß Irdische überschreitende Idee des Gottesreiches unter den Bedingungen der Zeitlichkeit auf dieser Welt, natürlich nicht in idealer Form, aber dieser nie erreichbaren Idealform nachstrebend. Freilich konnten die Kaiser den Geltungsbereich des Reiches nie auf die ganze römisch-katholische Christenheit ausdehnen, wenngleich Ungarn, Polen, Dänemark und sogar England in unterschiedlich enger Bindung lange Zeit unter der Lehensabhängigkeit des Kaisers standen.
lZweitens zeichnete sich das Reich durch eine föderale Ordnung aus. Es war niemals, auch dann nicht, als es de facto schon fast ausschließlich auf die deutsche Nation beschränkt war, ein einheitlicher Staat wie die westeuropäischen Nationalstaaten mit einer einheitlichen, von einer Spitze ausgehenden Ordnung. Zum Reiche gehörten ebenso große Fürstentümer – in denen die Herrscher absolutistisch schalteten und walteten wie die unabhängigen Könige Westeuropas – wie kleine ritterschaftliche Territorien, die sich als letzte Reste mittelalterlicher Lehensordnung dem Zugriff der landesfürstlichen Territorialstaaten entzogen hatten und dem Kaiser unmittelbar unterstanden, und sogar Republiken, die von gewählten Körperschaften regiert wurden, nämlich die freien Reichsstädte; schließlich sogar große Gebiete mit einer theokratischen Ordnung, deren Landesherr ein Bischof oder Abt war. Zum Reiche gehörten überdies katholische, lutheranische und kalvinische Territorien, liberale und konservative Staaten, deren Souverän ein ausländischer Potentat war wie der englische König als Kurfürst von Hannover, und Länder, deren Landesherr zugleich eine fremde Krone errungen hatte, wie der Kurfürst von Sachsen als König von Polen.
lDrittens versucht das Reich, wie oben bereits angeklungen, seine innere Gestalt nach der Seins- bzw. Schöpfungsordnung auszurichten, ruht also im Transzendenten. Das muß nun nicht unbedingt christlich verstanden werden, wenngleich dies im ersten Reiche der Fall war. Der Nationalstaat hingegen ist rein innerweltlich-immanent orientiert, seine Ordnungskonzeption ist utilitaristisch, also nach der bloßen Nützlichkeit ausgerichtet und daher auch viel beliebiger wandelbar.
Der Traum vom Reich erlosch nicht mit der Abdankung Franz II. Noch der große preußische Reformer, nämlich Freiherr vom Stein, träumte von Kaiser und Reich. Das revolutionäre Frankfurter Paulskirchen-Parlament wählte 1848 den österreichischen Erzherzog Johann zum Reichsverweser, und der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte im selben Jahr die ihm angetragene deutsche Kaiserkrone nicht nur ab, weil er sie aus den Händen der Revolutionäre nicht entgegennehmen wollte, sondern weil in seinen Augen das Kaisertum des wieder zu errichtenden Reiches mit dem Hause Habsburg verbunden war.
Das dann von Bismarck errichtete Kaiserreich der Hohenzollern war im Sinne des ersten Punktes obiger Definition kein echtes Reich, als es letztlich nur ein Staat der Deutschen sein wollte. Im Unterschied zu den westeuropäischen Nationalstaaten hatte es insofern eine reichische Struktur, als es nach wie vor ein Bund verschiedener Staaten war und große und kleine Königreiche und Fürstentümer sowie Stadtrepubliken vereinte. Die reichische Struktur wurde auch im Wahlrecht deutlich. So hatte Preußen als größtes Land innerhalb Deutschlands, das weit mehr als die Hälfte der Landesfläche bedeckte, bei seinen Landtagswahlen nach wie vor ein Kurienwahlrecht, in dem Adelige und besitzende Schichten weitaus bevorzugt waren, während bei Reichstagswahlen ein einheitliches und gleiches Wahlrecht galt.
Als eigentlicher Nachfolger des alten Reiches muß der Vielvölkerstaat der Habsburger-Monarchie gesehen werden, der im Zeitalter des siegreichen Nationalismus seine übernationale Ordnungsidee jedoch immer weniger vermitteln konnte. Als aber der angebliche „Völkerkerker“ nach dem Ersten Weltkrieg auseinandergebrochen war und sich statt dem einen, großen, mehrere kleine Vielvölkerstaaten gebildet hatten, die mit denselben nationalen Konflikten und Minderheitenproblemen zu kämpfen hatten wie zuvor die Donaumonarchie, erlebte der Reichsgedanke gerade in national gesinnten deutschen Kreisen eine Renaissance.
Die Tatsache, daß Millionen Deutsche in den neu entstandenen Staaten Ost-Mitteleuropas selbst zu Minderheiten geworden waren, ließ die Vorzüge der reichischen Ordnung wieder deutlich hervortreten. Und tatsächlich ließ und lassen sich im buntscheckigen Mitteleuropa Nationalstaaten westeuropäischen Musters nicht errichten, auch heute nicht, trotz aller blutigen Austreibungen und ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts.
Diese Erkenntnis formulierte der Soziologe Gunther Ipsen in einem 1932 von jungkonservativen Kreisen herausgegebenen Sammelband wie folgt:
„Man verstehe recht: nicht daß das nationalitäre Prinzip möglichst zuungunsten der Deutschen angewandt wird, ist entscheidend; sondern dieses Prinzip selbst bedeutet radikales Unrecht und unendlichen Hader in einem Bereich, der in Wahrheit keine abendländischen Völker, sondern nur Volksgruppen und Völkerschaften kennt. In dieses Mitteleuropa aber reicht das deutsche Volk mit Millionen hinein, die einem deutschen Nationalstaat immer unerreichbar sind.
Das Prinzip des Nationalstaates widerstreitet der deutschen Bestimmung, wie es der Struktur Mitteleuropas zuwiderläuft.“2
Auch für Wilhelm Schäfer ist das Reich der Raum des Abendlandes, in dem verschiedene Völker unbedrückt in ihrem Volkstum wohnen können. Auf es hinzuarbeiten ist die Aufgabe des deutschen Staates: „Der Staat aber ist die Gestalt und die Gewalt, die unser Volk haben muß, an diesem Reiche mitzubauen, das es nicht nur für sich, sondern auch für die anderen und darum im Kampf mit ihnen erringt.“ Für Schäfer ist „das Reich Lohn, der Staat aber Dienst“.3
Der katholische Publizist Albert Mirgeler stellt im soeben erwähnten Sammelband fest, daß die nationalstaatliche Ideologie dem übernationalen Gedanken des Reiches „fassungslos“ gegenüberstehe, da sie jedes übernationale Gebilde nur als militärische Vergewaltigung eines oder mehrerer Völker durch das Reichsvolk denken könne und daher alle verfügbaren moralischen Argumente gegen diesen „Imperialismus“ mobil machte. „Dabei entgeht es ihr, daß Imperialismus immer nur eine Verfalls- oder eine Ersatzform des Reiches darstellt.“4
Friedrich Alfred Schmid Noerr definiert im selben Buch die Idee des Imperialismus in einer Weise, die uns unwillkürlich an die heutige EU denken läßt: Imperien wollen „niemals einen religiösen Raum, niemals einen Reichskosmos, weder in der geographischen Kreis- noch in der geschichtlichen Tiefen-Anordnung. Alle Imperien wollen nur Verwaltungs-, Verkehrs- und Tauschsitten-Einheit: sie wollen den bürokratisch beherrschten Wirtschaftsraum, der aus einem machtgesicherten Zentralbüro heraus verwaltet wird.“5
Für Schmid Noerr und andere katholische wie evangelische Publizisten ist das Reich die Verwirklichung des christlichen Ordnungsgedankens:
„‚Das Reich‘ stellt sich dar als die Herabholung einer eigentlich religiösgeschauten Wirklichkeit in die irdische, hier in die europäische, deutsch-volkliche Wirklichkeit. – ‚Das Reich‘ braucht den mitteleuropäischen Raum (den Raum zwischen den beiden Tragflächenpaaren des europäischen Kontinentalkörpers) als seinen geschichtlichen Atmungsraum … ‚Europa oder die Christenheit‘ hat Novalis, der Tiefwissende, Seherische, diese deutsche Wunschidee genannt. Er hat damit nicht behaupten wollen, daß die Idee des Reiches die politische, die Faustherrschaft der Deutschen über Europa bedeute. Vielmehr wollte er daran erinnern, daß ein wesentliches Stück des Glaubens der Deutschen an ihre geschichtliche Bestimmung über ein Jahrtausend lang darin bestanden hat: das wehrhafte Priestervolk, man möchte wohl sagen, der mit dem Schwert und der Binde gegürtete Levitenstamm des Heiligen (um einer weltgeschichtlichen Fühlung willen ‚Römisch‘ genannten) Reiches zu sein; die erste Dienerschaft am irdischen Gleichnis des himmlischen Reiches Christi. Und nur aus diesem tiefen Sinn heraus bestand mehr denn ein Jahrtausend lang der Anspruch aus dem Raum der europäischen Mitte hervor: daß dies Amt der priesterlich-königlichen Führung eines gesamteuropäischen Reiches der Christenheit bei der deutschen Nation sei.“6
Viele konservative Publizisten der Zwischenkriegszeit erkannten, daß es die spezifische Siedlungslage des deutschen Volkes im mitteleuropäischen Raum war, die den Reichsgedanken für die Deutschen auch im 20. Jahrhundert zur Aufgabe werden ließ. Freilich vermochten nicht alle eine geradezu religiöse Berufung des deutschen Volkes zum Reich zu erkennen und versuchten, nüchternere Erklärungen dafür anzubieten, warum diese spezifische Ordnungsvorstellung gerade im deutschen Volk erwachsen war. So schrieb der Historiker Erwein Freiherr von Aretin:
„Die Verschiedenheit der Völker und der Stämme in einem großen Frieden und einer großen Freiheit zusammenzufassen, das war der Gedanke des Reiches. Es war kein Zufall, daß er auf dem Boden unseres Volkes entstanden war, das von alters zu Uneinigkeit und zum Zwist mehr neigte als ein anderes und daher seine geschichtliche Existenz nur dadurch retten und bewahren konnte, daß es den Überstaat erdachte, der die Freiheiten der Stämme schützte und ihrem Mißbrauch wehren konnte.“7
Tatsächlich war es ja so, daß Deutschland nicht als ein Territorium in die Geschichte eintrat, dem ein siegreicher Stamm, ein siegreiches Volk seine Herrschaft aufgezwungen hatte (wie die Franken Frankreich oder die Normannen England), sondern als Zusammenschluß verschiedener Stämme, die ihre Eigenart wahren wollten und in der Geschichte auch zu bewahren wußten. Und als später die religiöse Einheit zerfiel, begünstigte die föderale Struktur des Reiches einerseits die Herausbildung unterschiedlich-konfessioneller Territorien, konnte aber andererseits Deutschland nur durch seine reichische Struktur eine Einheit bleiben, statt in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden zu zerfallen.
Der neue Blick in die Geschichte zeigte nun auch, daß die Romfahrten der deutschen Kaiser des Mittelalters und ihre Italienpolitik nicht die Kräfte des Reiches geschwächt und vergeudet hatten, sondern gerade der Glanz der Kaiserwürde zur Stärkung des deutschen Königtums beitrug. Otto I. war daher auch ein stärkerer König als sein nicht zum Kaiser gekrönter Vater Heinrich I.; Heinrich III., der 1046 auf der Synode von Sutri Päpste ab- und einsetzte, eine größere Gestalt als sein Vorgänger, der erste Salier Konrad II., und auch der erste Staufer Konrad III. hätte niemals einem Heinrich dem Löwen entgegentreten können, wie dies sein zum Kaiser gekrönter Sohn Friedrich Barbarossa vermochte.
Auch die Sendung Österreichs und des Habsburgischen Herrscherhauses wurde dadurch wieder positiver beurteilt als dies in der deutschnationalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts üblich war. Besonders bemüht hat sich darum die sogenannte gesamtdeutsche Geschichtsschreibung, für die etwa der Wiener Heinrich Ritter von Srbik steht, der über ihre Ziele folgendes ausführte:
„Sie war eine wissenschaftliche Bestrebung, die nicht zufällig in Österreich, dem echten Erben des alten Reiches und deutschen universalistischen Denkens und dem großen Beispiel von Völkerführung und Völkergerechtigkeit, einen ihrer Ursprünge hatte und ihren besten Lebenssaft aus dem Bewußtsein tausendjähriger Verbundenheit Österreichs mit dem deutschen politischen Gesamtkörper hatte. … Sie wollte die Verkennung und Mißachtung des alten Heiligen Reiches in die rechten Schranken verweisen und der oft empörenden Geringwertung Österreichs in der deutschen Geschichte Halt gebieten.“8
Srbik, der 1938–1945 Mitglied des Reichstages war, betonte noch 1941, wie wichtig der christliche Glaube für das erste Tausendjährige Reich der Deutschen war: „… christlich war der Glaube, dem Reich wohne eine von Gott bestimmte einzigartige Erhabenheit und Weihe, Weiträumigkeit, Gliedhaftigkeit und übernationale Ordnungspflicht inne. Christlich war das Feld gedacht, auf das diese Ordnung sich erstrecken sollte. Das Abendland, Europa, die Welt.
Gliederungen schlossen sich um einen Kernraum in reichen Abstufungen an, eine höhere politische Ordnung unter deutscher Führung war das Reich in seiner Größe und Herrlichkeit. Der christliche Universalismus war dem deutschen Volke nicht als Fremdgut äußerlich aufgeprägt.“9
Die spezifische Politik des Hauses Habsburg erklärte Srbik wie folgt: „…dreifach war ihre Willensrichtung bestimmt: universal im katholischen und im weltweit-dynastischen Sinne, dann mitteleuropäisch-reichisch und südöstlich-eigenstaatlich; Weltpolitik, Reichspolitik und Hausstaatspolitik verbanden und kreuzten sich im deutschen Zweige des Hauses Österreich. Dem Universalismus war auch der zweite, der Reichsgedanke verpflichtet, und das deutsche, nationale Moment verschwisterte das mitteleuropäische Reich und das engere deutsch-habsburgische Staatswesen. Sehen wir die Jahrhunderte seit der Reformation bis zum Sterben des alten Reiches im Jahre 1806 in diesem Lichte, dann können wir der so oft wiederholten Behauptung vom undeutschen Wesen des Hauses Habsburg, des Heiligen Reiches und der Großmacht Österreichs nicht beipflichten. Sie alle waren deutsch, aber nicht im Sinne des nationalen Gedankens einer gänzlich gewandelten Zeit … denn sie waren zugleich und unlösbar verbunden mit ihrem nationalen Wesen übernational; auch dieser Übernationalismus religiöser, reichischer, dynastischer und eigenstaatlicher Art war ideenmäßig mit dem deutschen Wesen verklammert und ist der Weltstellung des deutschen Volkes sowie der Behauptungen und Ausweitung deutschen Raumes und deutscher Kultur keineswegs nur abträglich, sondern auch in vielen Richtungen von hoher positiver Bedeutung geworden.“10
Srbiks gesamtdeutsche Geschichtssicht berührte sich eng mit der österreichisch-katholischen Geschichtsauffassung, wie sie 1934 etwa der Historiker und Priester Hugo Hantsch formulierte, der seinerseits ebenfalls an der reichischen Sendung des deutschen Volkes festhielt:
„Ein Reich findet seine Erfüllung niemals in der Abgrenzung von Territorien, die Menschen einer Sprache und einer Abstammung erfassen; es zieht seine Grenzen darüber hinaus, indem es einem Volk eine Kulturaufgabe zuweist und ihm die geistige Kraft zuspricht, der Kern einer höheren Ordnung zu werden, deren Verwirklichung den gottgewollten Frieden und die gottgewollte Gerechtigkeit hervorbringen soll. Das ist wenigstens der Reichsbegriff, wie ihn Nikolaus Cusanus und später Leibniz fassen, nach Wesen und Ziel in den allgemeinen und höchsten Interessen der Christenheit fundiert. Den Vorrang des wahren Reiches begründet die christliche Idee, die sich im eminenten Sinne im Sacrum Imperium verkörperte. … Nicht Rasse oder Stamm-Merkmale sind es, die dem deutschen Volke einen besonderen Vorrang unter den anderen Völkern und in der ganzen Welt verleihen, sondern weil es zu dieser Führerschaft uns auserwählt erscheint.“11
Hugo Hantsch verankert die Reichsidee wieder im göttlichen Weltplan, doch im selben Aufsatz macht er deutlich, daß es die konkreten ordnungspolitischen Herausforderungen der Habsburger Monarchie waren, die zu einer Wiederbelebung der Reichsidee führten:
„Die Reichsidee als Menschheitsidee kommt in Österreich (im 19. Jahrhundert) zu einer neuen Bedeutung, weil hier die nationalen Verhältnisse so liegen, daß nur der Gedanke der Gemeinsamkeit eine friedliche und allseitige Entwicklung gewährleisten konnte. Hier mußte der Staatsbegriff überwunden werden, damit in dem umfassenden Begriff des Reiches eine neue Organisation geschaffen werde, die zwar ein Vorbild in dem alten imperium romano-germanicum hatte, aber viel mehr wirkliche zivilisatorische Kräfte besitzen mußte.“12
Was in den Jahrhunderten des Absolutismus und Nationalismus als Mangel des Reiches gewertet wurde, nämlich die innere Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit bei gleichzeitiger Schwäche der Zentralgewalt, wurde nun, als – vielleicht einzig mögliche – Ordnungskonzeption für den mitteleuropäischen Raum erkannt. Nur die Reichsidee, so die Überzeugung vieler Jungkonservativer, konnte diesem Raum jene Form geben, die er benötigte, um seine inneren Konflikte zu meistern und um dem Druck der großen Mächte aus West und Ost standzuhalten. Prophetisch mutet es an, liest man heute, was Fritz Büchner 1932 zum Versuch, Europa vom Westen her zu beherrschen, schrieb. Ein solcher Versuch würde Europa in der Mitte entzweisprengen:
„Die Bruchstelle läuft gerade durch Deutschland; es ist die wohl vernarbte, aber nie ganz geheilte Grenz-Linie der alten römischen Welt. Bricht sie auf, wie zuletzt in der napoleonischen Rheinbund-Zeit, dann droht der nordöstlichen deutschen Hälfte die Gefahr, der geographischen Tatsache zu erliegen, daß der russische – und so betrachtet asiatische – Ebenen-Raum bis an das deutsche Mittelgebirge brandet. Dann reiten die Kosaken zur Leipziger Völkerschlacht. Die Wölbung des abendländischen Himmels gerät ins Wanken, die Trümmer des Reiches stürzen in den Abgrund, der zwischen Ost und West sich auftut. Die russische Vorderbühne Asiens rückt bis zur europäischen Mitte vor. Der Westen wird vollends eine zerklüftete Halbinsel an der riesigen asiatischen Festlandmasse.
Das beweist: allein das Reich, der großartige und im Großartigen verlorene, der sehnsüchtige und von der tiefen Mystik seines Ursprungs erfüllte Gedanke der germanisch-christlichen Vermählung, vermag den widerspenstigen Raum und die Vielfalt des deutschen Volkes in der Einheit zu erhalten und mit ihr die neue Mitte einer europäischen Betrachtung in sich zu tragen. Die Krone, die im Rheine verborgen ruht, und an der Donau, in der Wiener Schatzkammer, sichtbar bewahrt wird, birgt seinen unvergänglichen Glanz; Sage und Wirklichkeit verweisen sie in ihren natürlichen Raum. Aber ein Sprung trübt ihre Glätte, quer von Nordwesten nach Südosten. Ein Sprung, der seltsam und schwer begreiflich die Grenzlinie der vorzeitlichen Vergletscherung der nordöstlichen Ebenen nachzieht; der der römischen Limeszone entspricht, die Glaubensspaltung im großen abzeichnet; der im Siebenjährigen Krieg, als Rheinbund und noch 1866 das deutsche Volk in zwei feindliche Lager scheidet; der schließlich selbst im Jahre 1932 auf der Karte der prozentualen Stimmergebnisse der Reichspräsidentenwahl für Hindenburg oder Hitler seltsam und deutlich wieder sich ausdrückte und ihr, gelöst von den Zufälligkeiten des Tages, eine tiefe Bedeutung gab. Der Gedanke des Reiches, heimisch und verwurzelt im Südwesten, erhob sich wider den Begriff des Staates.
Und es wurde deutlich, was widerspruchsvoll erschien; warum der stark katholische Südwesten den protestantischen Preußen Hindenburg, der überwiegend protestantische Nordosten den österreichischen Katholiken Hitler wählte.
Preußen ist ein Staatsbegriff, der gleiche, den Hitler von dem römischen Faschismus bezieht; und den er bekennt, wenn die Büsten von Friedrich dem Großen und Mussolini in seinem Arbeitszimmer stehen. Es ist ein klarer und tüchtiger Begriff von Pflicht und Willen, mit genauen Vorstellungen und deutlichen Grenzen. Er ist streng und mit einer gleichsam nüchternen Leidenschaft in die harte Erde des Gehorsams eingepflanzt. Er trägt die Züge des mit Soldaten und Beamten fest zusammengehaltenen römischen Imperiums; Lagarde, der große Künder des Deutschtums, leitet ihn von einer heidnischen Nichtachtung des ‚unermeßlichen Wertes der Person‘ ab, nennt ihn ‚das zähe, spärlich belaubte, blütenlose Gespinst‘, das die Mittelmeerländer überwucherte. Er setzte im Gegensatz dazu das germanische Staats-Ideal, das die ‚natürlichen Gruppierungen eines Volkes als das Wertvolle‘ betrachtet, ‚welches sich keinem Massenwillen, keiner Regimentierung, keinem Systeme unterordnet’. Das ist das Reich.“13
Hier ist er wieder, der Gegensatz von Reich und Staat, wobei letzterer – greift er über seine Grenzen hinaus und ordnet sich dabei nicht gleichzeitig der Reichsidee unter – nur blanken Imperialismus hervorbringen kann, wie nicht zuletzt das Beispiel des Dritten Reiches lehrt.
Die europäischen Völker müssen zusammenarbeiten. Nur gemeinsam kann das im Laufe der Jahrzehnte immer „älter“ werdende Europa mit seiner schrumpfenden Bevölkerung dem Einwanderungsdruck aus Afrika und Asien begegnen. Nur gemeinsam kann es sich aus der US-amerikanischen Hegemonie lösen, nur gemeinsam die großen Probleme des Umweltschutzes, des Verkehrs und der technologischen Fortentwicklung bewältigen, und zwar auch und gerade wenn die EU, was anzunehmen ist, scheitert. Der zentralistische Ansatz der Brüsseler Bürokratie hat sich als ungeeignet erwiesen, den Interessen der europäischen Völker und Regionen zu dienen. Die hauptsächliche Ausrichtung der EU am Wirtschaftsinteresse hat sie zum Einfallstor für die Interessen des Großkapitals und des (amerikanisch bestimmten) Neoliberalismus zum Schaden der europäischen Volkswirtschaften werden lassen. So ist es durchaus wahrscheinlich, daß die Idee des Reiches als föderale europäische Ordnungsvision, die nicht gegen die kulturelle Vielfalt der Völker dieses Kontinents gerichtet ist, sondern aus dieser erwächst, bald neue Konjunktur haben wird.
In Rußland findet in der neuen eurasischen Bewegung gerade eine Renaissance des Reichsgedankens statt, der seine Westgrenze im wesentlichen in jener der orthodoxen Christenheit sieht. Obwohl tief im Glauben der Orthodoxie verwurzelt, vermag er doch auch die anderen Religionen der in Rußland lebenden Völker, insbesondere den Islam und das Judentum, einzubeziehen und erweist sich so als echter Reichsgedanke.
Auch für den mittel- und westeuropäischen Raum ist nur ein im Christentum, der Religion Europas, wurzelnder Reichsgedanke denkbar und ein vom christlichen Geist erfülltes Reich, das doch zugleich ein Reich aller Europäer, auch jener, die sich vom christlichen Glauben entfernt haben oder anderen Religionen angehören, sein muß. Ein „Reich“ will im Unterschied zur EU kein Überstaat sein, sondern nur dort Einheit herstellen, wo sie notwendig ist, und sonst für den Ausgleich zwischen seinen Gliedern sorgen. Und weil Europa aufgrund der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einig sein muß, muß auch der Reichsgedanke ein gesamteuropäischer sein. Schon gibt es Stimmen in verschiedenen europäischen Völkern, die in diese Richtung weisen.
1 Bettin Mazohl-Wallnig, Zeitenwende 1806, S 258
2 Prof. Dr. Gunther Ipsen, Das Erbe des Reiches, in: Fritz Büchner, Was ist das Reich?, S. 65
3 Wilhelm Schäfer, Der Raum des Reiches und der deutsche Staat, in: Fritz Büchner, S. 89 f.
4 Albert Mirgeler, Das Reich und seine Verneiner, in: Fritz Büchner, S. 43
5 Friedrich Alfred Schmid Noerr, Geheimnis des Reiches im europäischen Raum, in: Fritz
Büchner, S. 32
6 Friedrich Alfred Schmid Noerr, a. a. O., S. 29 f.
7 Dr. Erwein Freiherr von Aretin, Das mißverstandene Reich, in: Fritz Büchner, S. 79
8 Srbik, Geist und Geschichte, S. 347
9 Heinrich Ritter von Srbik, Vortrag, wiedergegeben in: Das größere Reich. Großdeutschland am Anfang des 9. Jahres nationalsozialistischer Staatsführung, Berlin 1943, S. 5 f
10 Heinrich Ritter von Srbik, Österreich in der deutschen Geschichte, S. 33
11 Hugo Hantsch, Österreichische Staatsidee und die Reichsidee, in: Österreichische Rundschau 1 (1934), S.14
12 Hugo Hantsch, a. a. O., S. 6
13 Fritz Büchner, Das Reich als Raum und Geschichte, in: Fritz Büchner, a. a. O., S. 9–11