Ganz gleich, wie man das Zeitphänomen auch bezeichnen mag: Heutzutage trifft man auf ein Novum, das mangels Besserem als „aktualisierter Sozialismus“ bezeichnet werden könnte. Der Begriff „Sozialismus“ hat also keineswegs völlig ausgedient; vorausgesetzt, man rangiert gewisse zeitgebundene Requisiten des Altsozialismus’ aus.
Die (Links-)Radikalen wollen nicht mehr unbedingt eine Verstaatlichung aller Produktionsmittel oder eine durchgreifende Umverteilung des Bruttoeinkommens durchsetzen. Man drängt im Regelfall nicht mehr darauf, staatlicherseits Kaufpreise und Löhne zu regeln oder Renditen im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ einzuziehen. Obgleich der herrschende Sozialismusbegriff diese Übungen nicht unbedingt ausschließt, fordert er keine wahrhaft marxistische Wirtschaftspolitik mehr. Um mit einem naheliegenden Paradoxon zu hantieren: Läßt sich die aktualisierte Version des Sozialismus nicht ebenso gut oder sogar besser mit einem gedeihenden Konsumkapitalismus vereinbaren als mit einer straffen Plangesellschaft? Was bei beiden wiegt, ist das Ziel, die schon schwankende bürgerliche Ordnung weiter zugrundezurichten. Ob man dies mit rasendem, ausschweifendem Konsum oder zwangsweise mit Sozialüberformung schafft, ist nebensächlich.
Um die „Biegsamkeit“ der Linken gewissen kapitalistischen Ausprägungen gegenüber zu begreifen – ausgehend vom Freihandel und der Wanderung von Arbeitskräften über die Staatsgrenzen hinaus –, hilft es, die bedingenden Faktoren in den Blick zu nehmen. Seit den 1970er Jahren sinkt beinahe gleichzeitig in allen westeuropäischen Ländern die Zahl der in Fabriken beschäftigten Arbeitnehmer. In Frankreich und Italien wirkt sich dieser Rückgang so aus, daß die einst mitgliederstarken kommunistischen Parteien bis zu drei Viertel der Mitglieder, die sie in ihren besten Nachkriegszeiten einmal hatten, eingebüßt haben. Heute besteht weniger als ein Drittel der kommunistischen Stimmgeber aus Fabrikarbeitern und Angehörigen der industrieverbundenen Bereiche. Die Mehrzahl der kommunistischen Mitglieder in beiden Ländern machen öffentliche Bedienstete, Erwerbstätige im privaten Sektor, Professoren und Journalisten aus. Die neuen Mitglieder der KP, wie diejenigen der meisten westeuropäischen sozialistischen Fraktionen, scheren sich wenig um den Aufbau einer Wirtschaft, die sich Marxens Blaupause anpaßt. Sie zielen auf etwas Großartigeres: Unter dem Panier einer zeitgeistigen Linken suchen Gruppierungen wie die deutschen Bündnisgrünen, der bürgerlichen Familienmoral und jedem Sinn für die Nation den Garaus zu machen und die eigene Nation im Globalisierungsprozeß aufgehen zu lassen.
Für die Hauptströmung der europäischen Linken, die nicht das Antiglobalisierungssteckenpferd reitet, findet sich keine gähnende Kluft zwischen einer fortschrittlichen Politik und einer sich globalisierenden Gewerbetätigkeit. Was die herrschende Linke von der scheinbar entgegengesetzten Seite trennt, sind erkennbar gegenteilige Haltungen zur US-Hegemonie und verschiedene Grade der Abstandsnahme vom einstigen christlichen Allgemeingut. Solange ein Wohlfahrtsstaat, der erzieht, regelt und Leistungen zahlt, fortbesteht, hat die Linke, wenn so pauschal zu sprechen erlaubt ist, nichts dagegen einzuwenden, daß Händler handeln und Konsumenten verbrauchen. Der Publizist Günter Zehm faßt die umsichgreifende Angleichung der rechts und links Eingeordneten wie folgt zusammen:
„Das, was die (scheinbar rechten) Wirtschaftsglobalisierer wirklich noch von den (erklärten) Sozialglobalisierern unterscheidet, ist der Abstand von den Futterkrippen. Die einen sind bereits dran und wollen dranbleiben, die anderen sind noch nicht dran und wollen drankommen.“
Dieser Gleichstand, so Zehm, könne nicht andauern und früher oder später müsse „das gemeinsame und in der Tat linke Anliegen hervortreten“. Bei allem Respekt für diesen Zeitdeuter greift seine letzte Feststellung zu kurz. So wie sich die Sachlage heute zeigt, hat die Linke die „bürgerliche Rechte“ schon in einem solchen Maß eingeschüchtert, daß diese Mitte-Rechts-Parteien dem linken Gleichheitsdenken unbehaglich, aber doch letztlich jedes Mal folgen, sei es nun beim Thema Schwulenehe, Antidiskriminierungsgesetz oder bei der Einführung und Verschärfung von Zensurmaßnahmen gegen Konservative und Nationale.
Solche „Parteien der Mitte“ mit entbehrlicher „konservativer“ Mogelpackung gibt es in Deutschland, in Frankreich, Großbritannien und bei uns in den USA. Verdächtig, wenn nicht regelrecht verlogen, klingt der Vorwand der Mitte-Parteien, daß sie nicht gerüstet seien, einem gewaltigen Zeitgeist Einhalt zu gebieten. Das aber muß zu einer schlichten und einfachen Erkenntnis führen: Wer eine durch den Staat betriebene Revolution mäuschenstill mit ansieht, trägt auch sein Scherflein zu den Folgen bei. Aus der Feigheit der Mitläufer nährt sich die Antifa-Stimmung.
Hier komme ich schon zu zwei Grundeigenschaften des neueren Sozialismus. Er hat es erreicht, den Kapitalismus als gewaltige Waffe im Kampf gegen die bürgerliche Zivilisation einzusetzen. Dieser Entwicklung geht die Trennung des kapitalistischen Systems von den bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihm verbundenen bürgerlichen Sitten voran. Diese Entkopplung wirkt dahingehend, die Spaltung zwischen der Konsumwirtschaft und ihrer früheren kulturellen Voraussetzung zu vertiefen.
Um nochmals auf Zehms Anmerkung zu verweisen: Ergibt sich nicht aus der geschilderten Umkehr der Linken zu einer aktienfreudigen und freihändlerischen Ausrichtung die begleitende Abneigung gegenüber christlichen Sinnbildern bzw. der christlichen Glaubenslehre? Diese zwei Einstellungen sind voneinander grundverschieden. Das Verlangen nach immer mehr materieller Üppigkeit läuft darauf hinaus, sich von tradierten Bindungen und bodenständigen Pflichtgefühlen abzuwenden und weniger opfervollen Lebenszielen zuzuwenden. Eine derartige Diesseitigkeit, so konservative und altliberale Zeitkritiker, höhlt die Gebundenheit an die Lebenswelt der Vorfahren und die Bereitschaft, Kinder zu bekommen und aufzuziehen und sich der Familie zu widmen, aus. Ins Auge fällt das gegenseitige Angewiesensein zwischen einer Konsumgesellschaft, die auf Nationen und Kernfamilien keinen großen Wert legt, und einem Wirtschaftsprozeß, der die bürgerliche Kultur zersetzt. Das bedeutet beileibe nicht, daß alle Kapitalisten als Gegner der Kernfamilie oder als Multikulti-Verehrer einzustufen sind. Ich will nur verdeutlichen, warum die heutige Linke, die die Bürgerlichkeit dem Faschismus zuordnet, die kapitalistische Produktionsweise sowie die bedarfsgeregelte Warenzuführung abzusegnen geneigt ist. Es gibt keinen Widerspruch mehr zwischen der linken Traumwelt, worin die europäische Vergangenheit verschwindet, und dem, wozu der sogenannte Turbokapitalismus führt. Die Redlichkeit verlangt, diese Korrelation zu vermerken, ohne die leere Hoffnung vorzubringen, daß der heutige Beamtenstaat die traditionelle Ausrichtung bewahren will. Die mit Macht versehene Verwaltung interessiert sich keineswegs für die althergebrachte Familienordnung, die im Gleichklang mit den Kreisen der Schickeria bereits ausgehebelt wird.
Zweitens muß man die zentrale Rolle des verwandelten Staates nachgehen zu können, der das sozialistische Neumodell anwendet, näher untersuchen. Obgleich der heutige Beamtenstaat aus einer Anzahl von bis in das Spätmittelalter zurückreichenden Einrichtungen entsprungen ist, darf man hier von Geschichtskontinuität nicht allzuviel erwarten. Um der Weiterentwicklung des zielbewußten „demokratischen“ Staates nachzugehen, ist vor allem seine gleichheitserstrebende, verwaltungstechnische Seite zu berücksichtigen. Im Unterschied zu allen früheren Modellen geht die „demokratische“ Staatsordnung, die die bürgerliche sowie die ständestaatliche abgelöst hat, darauf aus, ihre Bevölkerung gegen nicht genügend weltoffene Haltungen zu „impfen“. Die Tugendwächter beschränken sich nicht vorwiegend auf solche „Nebendinge“ wie Leistungs- und Rentenzahlungen. Vielmehr sind sie darauf bedacht, gegen anstößige Wertvorstellungen und gefühllose Verhaltensweisen einzutreten. Wer eine zu beschützende Minorität vor den Kopf stößt, muß damit rechnen, behandelt zu werden, als wäre er einer Straftat überführt. Und nicht alle Bewußtseinsinhalte sind einfach austauschbar. Dem angeblich angeknacksten Bewußtsein der verehrten Außenseiter und Minderheiten dem Normalbürger gegenüber muß der Staat eine besondere Achtung schenken. Auf diejenigen Staatsbürger. die sich diesen Prozeß verweigern, gehen die Zuständigen mit voller Wucht los. Wenn die Behörden mit weniger Strenge vorgingen, wäre es angeblich auch schwerer, sich der Erblast der ungerechten, diskriminierenden Vergangenheit zu entledigen.
Da es den Deutschen im Rahmen der Nachkriegsumerziehung beschieden wurde, sich dem jetzt bevorzugten demokratischen Vorbild, wie andere „Versuchskaninchen“ vorher auch, anzupassen, muß meine Darstellung nicht im geringsten verwundern. In den meisten westlichen Ländern basiert die demokratische Ordnung auf dem Ausbau von Massenunterstützung. Die Gegnerschaft dazu war und bleibt in großem Maße eine randständige, die niemals so weit gedieh, medial durchzuschlagen. Die Deutschen, die hier notgedrungen als Schrittmacher dienten, haben das Geschenk ihrer Sieger verewigt, und auch als sich die Gelegenheit bot, ihre teilweise oktroyierte Regierung nach der Wiedervereinigung abzuwählen, entschied sich die Bevölkerung dafür, die schon generationenlange Anlernzeit weiter zu verlängern. Die Mitteleuropäer trauen sich nicht, eine in höherem Maße ungeregelte freiheitliche Ordnung zu errichten, bei der ihrem Denken, Tun und Treiben kein Wächter übergeordnet ist. In seinem Buch „Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik“ zeigt Josef Schüßlburner deutlich, daß die zusehends fortschreitende Verengung der Meinungsfreiheit in Deutschland in mancherlei Hinsicht auf die auf die Deutschen zugeschnittene demokratische Staatsform bezogen ist. Daß Deutsche an der Ausfeilung dieser Techniken mitgewirkt haben, zählt weniger als die Tatsache, daß die Deutschen als Untergeordnete einer fremden Besatzungsmacht gegenübergetreten sind. Man bedenke, wie die Besatzer sich darüber erregt hätten, wenn die Besetzten die Besonderheiten des Plans nicht hätte umsetzen wollen, zum Beispiel „undemokratische“ Fraktionen von vornherein auszuschalten, Richter und Beamte bei der Willensbildung des Parlamentarismus sich einmischen zu lassen, einen unvermeidlich politisierten Verfassungsschutz ins Leben zu rufen, der den Gebrauch der im Grundgesetz gewährleisteten Meinungsfreiheit beschneiden kann, Stimmhürden für Kleinparteien aufzustellen und sowohl „undemokratische“ Werbeblätter als auch „jugendgefährdende Geschichtsliteratur“ aus dem Umlauf zu ziehen. Diese letzten Maßnahmen zur Abwehr des Extremismus gemahnen an den im Dritten Reich geführten Krieg gegen die damals zu verwerfenden Schriften. Heute kommt es allerdings darauf an, das Anstoßerregende einzustampfen, statt es zu verbrennen.
Weder innerhalb noch außerhalb Deutschlands ist die Politkaste willens, die von ihr manipulierte Demokratie zu modifizieren. Der „neue Typ einer demokratischen Staatsform“, die (auch) Schüßlburner als „DDR-light“ im deutschen Fall bezeichnet, ist eine ideologisch unterlegte, die entweder direkt dem „Antifaschismus“ dient oder zumindest unwillens ist, die wahren Bedroher der freiheitlichen Grundordnung in die Schranken zu weisen.
In Deutschland genauso wie in Frankreich, Belgien, Österreich, Kanada und den USA, findet man eine „Weiterentwicklung“ der Wohlfahrtsregierung, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert wurde. Damals wurden Beamte mit der mehr oder minder stillschweigenden Zustimmung der Bürger mit Sozialpolitik weit mehr als zuvor beschäftigt, bis hin zu dem Punkt, daß sie Mitsprache über Familienangelegenheiten erlangen konnten. Die nächste Stufe, deren Auswirkungen wir jetzt spüren, ist die von Amtswegen eingeleitete Herbeiführung einer Multikulti-Wertvorstellung mit Hilfe von Medien und Staatserziehern. Mittels Schulwesen, Publizistik und Verwaltung schwingt sich die Multikulti-befördende Wohlfahrtsregierung zu einer Beherrschung des Soziallebens ihrer Untertanen auf. Widerstand dagegen führt zur beruflichen Ausgrenzung und auch zuweilen zu einem Straftatbestand.
Obgleich die Deutschen einst als Vorreiter für diese Politik galten, wandert die neue Staatsform jetzt weit über Mitteleuropa hinaus. Dabei durchläuft die besagte Regierungsform, die jetzt als die alleinzulässige Demokratie angesehen wird, verschiedene Stufen. Ausgehend von einer Leistungen und Unterhaltszahlungen zuteilenden Staatsordnung, greift sie über die Sozial- und Familienpolitik auf Verhaltensgestaltung hinaus. Entscheidend für das sich im Vormarsch befindliche Modell ist die Schwächung einer entschlossenen auftretenden Opposition. Die qualitativ abnehmenden Widerstandskräfte, die nie weit von der Mitte abzuweichen wagen, bilden eine wankende Front, die auch dem leisesten Anstoß seitens des linken Schrittmachers nachgibt. Nicht nur in Deutschland, sondern quer durch den Westen zeichnen sich jetzt „bürgerliche“ Umfaller-Parteien ab, die die Multikulti-Linke nicht anzutasten wagen. In der Tat überbieten sie manchmal die etablierte Linke als Initiator für die wegweisende Politik.
Im Australien der 1970er Jahren und in den USA unter der Schirmherrschaft des Präsidenten Bush zeichnen sich die „Konservativen“ dadurch aus, daß sie die Zuwanderung aus der Dritten Welt beschleunigen. Fraglich sind die Gründe für das Zurückweichen der mutlosen Mitte-Parteien, ob nämlich Schlaffheit, Schuldgefühl oder bloßes Vorteilskalkül es veranlaßt. Weniger zweifelhaft ist die Wirkung des Versagens, die die Herrschaft der Linken durch Nichthandeln verstärkt.
Ich komme nun im folgenden zu der Frage, die bereits zu Beginn dieses Beitrags gestellt wurde, zurück. Im welchem Maß bezieht sich diese neue Staatsform mit ihrer ideologischen Grundlage auf eine sozialistische Überlieferung? Mit Marxens wissenschaftlichem Materialismus ist sie kaum zu vereinbaren. Multikulti mit oder ohne Konsumkapitalismus weist keinesfalls auf den einfachen, theoretischen Kommunismus zurück, und am allerwenigsten auf eine sogenannte wissenschaftlich-marxistische Methode. Wenngleich die Marxisten nur auf eine Scheinwissenschaftlichkeit setzten, hielten sie darauf doch große Stücke. Die derzeitige Linke, die gegen Bürgerlichkeit, Christlichkeit und Nation emotional zu Felde zieht, hantiert keineswegs mit marxistisch-materialistisch geprägten Geschichtsbegriffen. Ebenso unterschiedlich von der kommunistischen Gangart ist die jetzige linke Tendenz, die hergebrachte Sexualmoral zu verhöhnen. Die alten Kommunisten, das Urgestein Castro voran, haben mit der Homosexualität gar nichts am Hut. Gegen derlei Moden haben sie, ohne auf die PC Rücksicht zu nehmen, heftig angekämpft. Die französische KP, so die Historikerin Annie Kriegel, hat sogar die Parteiführung jahrzehntelang dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Die alten Kader sind der moralischen Lehre der katholischen Kirche weitgehend gefolgt, wenn auch im Gewand eines Kreuzzugs gegen kapitalistische Dekadenz. Ganz ähnlich verhielten sich die italienischen Kommunisten, die gleichzeitig die Kirchlichkeit als „Massenopium“ verspotteten.
Trotzdem ist es vertretbar, eine Querverbindung zwischen der Multikulti-Regierung mit der Denkweise des älteren Sozialismus aufzuzeigen. Zum ersten geraten bei allen Sozialisten gewisse Aspekte der Bürgerlichkeit ins Visier, und die Verfechter rufen ihre Adressaten auf, die aus der Vergangenheit verbliebene Ungerechtigkeit abzuschaffen.
Obgleich die Beschwerden der aufeinanderfolgenden Linken nicht die gleichen sind, gilt es für beide, den Krieg gegen die „herrschende Klasse“ weiterzuführen. Die Übereinstimmung dieser Kriegsziele begründet die Annahme, daß der „Kulturmarxismus“ als Fortsetzung des Normalmarxismus anzusehen ist. Damit zeichnet man einen geradlinigen Weg nach, der vom sozialistischen Modell Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Durchbruch der Multikulti-Ideologie führt. Beide bilden die Stadien einer wesensverwandten, voranschreitenden Linken, deren Ziel es ist, einen bürgerlichen Feind, wie immer man ihn auch begrifflich bestimmt, zu verdrängen. Als Zeugnis für eine solche sich erneuernde Sozialismustradition ist es angebracht, die Frankfurter Schule, deren Vordenker bürgerliche Moralität mit Faschismus in Verbindung brachten, heranzuziehen. Zu den Autoren, die ein solches Feindbild kolportierten, zählen solch bekannte Philosophen wie Theodor Adorno und Herbert Marcuse. Diese und andere Philosophen, die ähnliche Denkfiguren vertreten, stehen für die stürmische Ablehnung der bürgerlichen Kultur als „faschismusbehaftet“ und für eine radikalsozialistische Politik.
Der verstorbene Philosoph Panajotis Kondylis vermerkte einmal, daß sich die massendemokratische Denkweise von der bürgerlichen dadurch absetzt, daß die Demokraten das Gleichheitsprinzip prämieren. Im Gegensatz zu einer Kultur und Gesellschaft von bürgerlicher Ausprägung, die nur begrenzte Gleichheitsbegriffe wie die Gleichberechtigung für Vertragspartner vorsieht, lösen die Verfechter der massendemokratischen Gleichheit eine sich nie ganz erfüllte Sozialgerechtigkeitsspirale aus. Von ihrem Standpunkt aus reicht das demokratische Planieren niemals wirklich aus, bis es restlos umgesetzt wird. Diesem Auftrag zufolge nimmt man sich vor, neben der Einkommensumverteilung eine staatlich geregelte Jugenderziehung von der Wiege ab hin zu „wahrhaft demokratischen“ Grundsätzen in die Wege zu leiten.“ „Demokratisch“ und „sozialistisch“ sind näher verwandt als „demokratisch“ und „altliberal“.
Daran reiht sich meine zweite Betrachtung, nämlich das Angewiesensein der Multikulti-Regierung auf die sozialdemokratische Staatsform. Eine demokratische Wohlfahrtsregierung bereitet den Weg zu einem Nachfolgestaat, der die Vorläufer nicht absetzt, sondern vollendet. Ohne die Zurüstung, die der frühere Wohlfahrtsstaat bereitet hat, wäre es für die Staatsbehörden unmöglich, die verhaltensmodifizierende Phase des Sozialstaates in der Nachfolgezeit anzutreten. In dieser „architektonischen“ Hinsicht findet man eine weitere Kontinuität zwischen der klassischen Sozialdemokratie und einer für die multikulturelle Wende anfälligen Bevölkerung. Selbstverständlich wäre ein Hinüberspringen undenkbar, wenn der Ansatzpunkt zu dieser bezeichnenderweise spätmodernen Staatsform in die bürgerliche Vergangenheit zurückzusetzen wäre. Und bei allem Respekt für Carl Schmitt erklärt sich die angesprochene Entwicklung immer weniger auf dem Weg über einen abstrakten, politikfeindlichen Liberalismus. Nach Schmitts Formulierung durchdringt die Demokratie die liberale Denkwelt als Kulturprinzip in einem Maße, daß beide in der Moderne miteinander verwachsen werden.
Die heutigen Gegebenheiten sind weit davon entfernt. Nicht eine verbriefte Freiheit, sondern die beliebige Weiteranwendung des Gleichheitsprinzips auf internationaler Ebene gibt dem Multikulti-Staat seinen Auftrieb. An diesen massendemokratischen Wendepunkt kann sich eine Rückkehr zu einer vormodernen, demokratischen Gemeinschaftlichkeit schwerlich anschließen. Hier ringt sich eine demokratische Neuform, die den Nationalstaat als verwerflich zurückweist, zum Sieg über alle konkurrierenden Staatsmodelle empor.
Nicht irrig wäre es daher, den Sieger in der postmodernen Ausscheidung als einen „Sozialismus in Neuprägung“ zu bezeichnen.
Prof. Paul Gottfried wuchs als Kind jüdischer Wiener noch mit deutscher Muttersprache in den USA auf und lehrt heute am Elizabethtown College in Pennsylvania.