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Gezeitenwechsel

Von Wolfgang Dvorak-Stocker

Alle Staaten und Nationen haben „Gründungsmythen“, die ihre Existenz erklären, dieser Sinn geben und damit dem Gemeinwesen eine Richtung. Für das neue Deutschland heißt der Gründungsmythos „Auschwitz“, und damit ist nicht der historische Ort und das dortige Geschehen gemeint, sondern der Komplex an Vorstellungen, der damit verbunden ist. „Auschwitz“, das war für den damaligen Außenminister Joschka Fischer „Staatsraison“ und „Fundament“ der Bundesrepublik Deutschland. Noch deutlicher formulierte es Verteidigungsminister Peter Struck am 29. Mai 2009 im Bundestag: „Mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden während der Nazizeit haben die Deutschen unendliche Schuld auf sich geladen – eine Schuld, die niemals vergeht.“. „Auschwitz“, das meint die einseitige Verteilung von Gut und Böse im Zweiten Weltkrieg, die Kollektivschuld der Deutschen, ja ihre geschichtliche Widerlegung als Nation. Das heutige Deutschland lebt, indem es sich von „Auschwitz“ distanziert. Es definiert sich selbst als Gegenbeispiel.

Weil dieses „Auschwitz“ zum tragenden Mythos der BRD geworden war, mußten selbstverständlich all jene Kräfte bekämpft werden, die eine Relativierung oder gar Entthronisierung dieses Mythos bewirken konnten. Daher wurden das Schicksal der Vertriebenen, die Geschichte Ostdeutschlands, die Folgen des Bombenkrieges usw. seit den 70er Jahren immer mehr aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt.

Als 2001 der Film „Soweit die Füße tragen“ in die Kinos kam, faßten das weite Teile der deutschen Medienlandschaft als Tabubruch auf, handelte es sich doch um das Schicksal eines „deutschen Opfers“. Seither hat sich Entscheidendes getan: 2005 wurde die Vernichtung Dresdens in einem Fernsehfilm thematisiert, 2007 die Flucht aus Ostpreußen, 2008 der Untergang der mit Flüchtlingen überladenen Wilhelm Gustloff, und, im selben Jahr, die Gestalt des Roten Barons, also eines deutschen Kriegshelden aus dem Ersten Weltkrieg. Heuer sind die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch die Rote Armee bereits Thema einen Filmes geworden und ebenso die Vertreibung aus Schlesien. Mögen all diese Filme auch deutlich unter den Vorgaben der Political Correctness gestaltet und teilweise sogar historisch unrichtig sein, handelt es sich dennoch um eine echte Trendwende. Sie betrifft nicht nur Film und Fernsehen, auch Bücher, die sich mit deutschen Opfern und Verlusten beschäftigen, stehen plötzlich wieder auf den Bestsellerlisten. Die Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, sprach diesbezüglich von einem „erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel“ und bestand darauf, daß die Shoa und eben nicht die deutsche Leid-Erfahrung zentrales Motiv der deutschen Erinnerungskultur bleiben müsse. Doch diese Mahnung wird wohl ungehört verhallen. Nicht bloß auf erinnerungspolitischem Feld finden die Deutschen langsam wieder zu einem neuen Eigenbewußtsein als Nation. Der Stolz auf die Aufbauleistungen nach dem Zweiten Weltkrieg ist laut Meinungsumfragen seit mehr als 20 Jahren kontinuierlich im Wachsen – obwohl, oder gerade weil der Anteil jener, die ihn aktiv erlebten, stetig zurückgeht. Auch der unbefangene Umgang mit nationalen Symbolen bei Fußballspielen, in dieser Form noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar, verweist auf einen solchen Gezeitenwechsel.

Der Auslöser

Vielleicht hat die deutsche Wiedervereinigung subkutan diese Entwicklung befördert, obwohl die politischen Eliten alles getan haben, genau diese Wirkung zu verhindern. Der eigentliche Auslöser dürfte aber der multikulturelle Alltag in Deutschland sein, die Lebenswirklichkeit, der sich die jungen Deutschen heute ausgesetzt sehen und die alle gutmenschlichen Hohlphrasen der Lehrerschaft und der Journaille hat durchsichtig werden lassen. Daß in dieser Lage auch die Deutschen damit begannen, ihre Identität zu schärfen, war nur folgerichtig. Politisch ist diese Haltung aber noch lange nicht.

Österreich ist da schon einen Schritt weiter. Hier wählt die Jugend rechts, die FPÖ ist unter den Erstwählern die mit Abstand die stimmenstärkste Partei. Vielleicht, weil „Auschwitz“ kein Schatten war, der auf die ganze Kultur und Geschichte des Landes fiel. Da Österreich 1945 aus der deutschen Geschichte auszusteigen suchte, sich selbst zum „ersten Opfer“ Hitlers erklärte und den „bösen Piefkes“ alle Schuld zuschob, konnte „Auschwitz“ hierzulande nicht zu einem negativen Gründungsmythos werden und seine volle Wirksamkeit nicht entfalten. Durch den Ausstieg aus der deutschen Geschichte ist Österreich – ein Treppenwitz der Geschichte – „deutscher“ geblieben als Deutschland selbst. Die ungebrochene Identität ermöglichte dann auch größere politische Freiheit und mehr Selbstbewußtsein, wie es sich beispielsweise bei der Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten oder der Bildung der schwarz-blauen Koalition im Jahre 2000 zeigte. Trotz erheblichen internationalen Drucks ist das kleine Österreich damals nicht eingeknickt, sondern hat standgehalten.

Wie reagieren die Parteien?

Die Jugendlichen, die heute FPÖ wählen und zu ihren Veranstaltungen strömen, verfügen freilich keineswegs über einigermaßen klare politische Vorstellungen. Sie wissen nur, was sie nicht wollen. Sie sind durch die gemeinsame Abwehrhaltung gegenüber einer Entwicklung geprägt, die sie – mit Recht – als Gefahr für ihre persönliche Zukunft betrachten. Doch wie begründet dieses Gefühl auch sein mag, auf Ressentiment und Angst läßt sich keine konstruktive Politik bauen. Will die FPÖ wirklich die Zukunft gewinnen, muß sie versuchen, diese Jugendlichen nach Möglichkeit zu formen und zu schulen. Die allermeisten haben keine echte Beziehung zur eigenen Kultur mehr, amerikanische Fernsehserien prägen ihre Vorstellungswelt und nicht mehr die Sagen, Literatur und Geschichte ihres Volkes. Die jugendlichen Türken und Araber, die sie als Bedrohung wahrnehmen, haben demgegenüber sogar mehr Kultur: Auch wenn ihre Lebenswirklichkeit die von Kleinkriminellen und Straßenschlägern ist, nehmen sie doch ihre Religion, den Islam, ernst. Sie steht nicht zur Disposition, bei ihr hört sich der Spaß auf. (Wer nun verächtlich meint, das lasse sich nicht vereinbaren, sei gewarnt: Die europäische Geschichte kennt ein Beispiel, wo eine solche Kombination Jahrhunderte lang funktionierte, ja einen eigenen Ethos zu schaffen vermochte: das der Mafia nämlich.) Auch an anderen Beispielen, der typisch arabisch-orientalischen Dudelmusik etwa, ließe sich zeigen, daß die autochthone Kultur im Leben dieser Jugendlichen eine größere Rolle spielt, als bei ihren österreichischen Altersgenossen.

Die österreichische Jugend insbesondere der Arbeiterschichten wählt rechts, weil die FPÖ als einzige Partei den Anschein erweckt, sich um ihre Probleme zu kümmern. Das wäre eigentlich die klassische Aufgabe der Sozialdemokratie. Doch bei dieser steht die 68er-Ideologie im Weg. Heute ist sie von der Wählerschicht her völlig überaltert und kann froh sein, daß wenigstens die Pensionisten noch ohne viel nachzudenken ihr Kreuzchen bei den Roten machen. Dabei hat die SPÖ gerade auf lokaler Ebene viele engagierte Politiker, die sehr wohl wissen, wo die Probleme liegen und welche Ursachen sie haben. Es ist durchaus möglich, daß sich diese eines Tages gegen die linkslinken Volksfeinde in der eigenen Partei, die genauso bei den Grünen sitzen könnten, durchsetzen.

Schwieriger ist die Lage der ÖVP. Diese hat ihre christlich-konservativen Stammwähler schon zum Großteil vertrieben. Manche mögen zwar immer noch ÖVP wählen „um Schlimmeres zu verhindern“, viele haben sich jedoch bereits in die innere Immigration der Nichtwählerschaft zurückgezogen. Der harte Kern ist bereit, neue Projekte, wie vor einigen Jahren die CSA (Christlich-Soziale Allianz) oder zuletzt in Niederösterreich „Die Christen“ zu unterstützen.

Auch FPÖ und BZÖ wählen viele. So wurde der „Abendland im Christenhand“-Slogan der FPÖ von der katholischen Laienorganisation Pro Occidente ausdrücklich unterstützt, und das führende Organ dieses Spektrums, „Die Weiße Rose“, hat eine deutliche Wahlempfehlung für die BZÖ-Liste unter Stadler abgegeben. Es ist bezeichnend, daß mit Matthäus Graf Thun-
Hohenstein ein ehemaliger Vorsitzender der hochkonservativen Studentenbewegung Jes, die in den 70er und 80er Jahren von bis zu einem Drittel der Studenten gewählt wurde, nun bei den Europa-Wahlen nicht für die ÖVP, sondern auf der BZÖ-Liste kandidierte.

Andererseits hat der im Jänner in Graz zum Gedenken an den verstorbenen ÖVP-Politiker (und JES-Mitbegründer!) Vinzenz Prinz Liechtenstein abgehaltene Konservative Kongreß gezeigt, daß es in der ÖVP noch immer Politiker gibt, die erkennen, daß eine Neubelebung der christlich-konservativen Tradition auch die richtigen Antworten auf viele heute drängende Zeitprobleme beinhalten würde. In der schwarz-blauen Koalition unter Wolfgang Schüssel hat die ÖVP diese Chance allerdings aufgrund ihres neoliberalen Irrtums vertan.

Noch profitiert die FPÖ

Gezeitenwechsel. Ein großes Wort. Wie immer man es bezeichnen mag, eine tiefgreifende Veränderung der politischen Landschaft bahnt sich an. Noch profitiert die FPÖ davon am meisten. Sie tritt modern auf und weiß, wie man auch die schlichteren Gemüter (die in einer Demokratie immer die erdrückende Mehrheit haben) für sich gewinnt (wobei der Stil der Wahlkämpfe vielen parteinahen Intellektuellen inneren Schmerz bereiten dürfte). Aber die FPÖ fängt die ihr zuströmenden Schichten nicht auf, sie bietet keine inhaltlichen Schulungsprogramme für die Lernwilligen, schafft keine Milieus, in denen kulturell und weltanschaulich affine Inhalte subkutan vermittelt werden.

In den letzten Jahren mögen dafür die Möglichkeiten gefehlt haben. Nach dem Absprung Haiders und der meisten führenden Funktionäre unter Hinterlassung eines riesigen Schuldenberges war die FPÖ mit der bloßen Existenzsicherung beschäftigt. Dann trat der Wettkampf um die Wählerstimmen, das Duell Strache–Haider in den Vordergrund. Mittlerweile hat die FPÖ aber wieder ein Wählerpotential erreicht, das tiefschürfende inhaltliche Arbeit nicht nur möglich, sondern notwendig macht. Früher ist es der Partei zeitweise gelungen, die Themen vorzugeben, die Österreich diskutierte – die Flat tax wäre da ein Stichwort. Jörg Haider war freilich zu sprunghaft, daraus ein konzises Konzept zu zimmern, er zog lieber alle halben Jahre ein neues Stichwort aus dem Hut. Und doch befand sich die Partei damals in lebendigem Austausch mit Experten und Intellektuellen, die ihr im allgemeinen fern gegenüberstanden. Heute kann davon keine Rede mehr sein, auch die Personaldecke ist viel dünner als zu Haiders Zeiten. Wenn die FPÖ aber nicht bloß kurzfristig von den Nöten der Wähler profitieren, sondern langfristig Problemlösung für die Zukunft dieses Landes leisten will, ist es für sie hoch an der Zeit, die inhaltliche Arbeit zu vertiefen, politische Konzepte zu entwerfen und neue Köpfe an sich zu binden.

Das BZÖ wird langfristig nur dann eine Chance haben, wenn es glaubhaft und kontinuierlich vermitteln kann, die bürgerlichere Variante der FPÖ zu sein. Bei der letzten von Haider bestrittenen Wahl deuteten die Wählerstromanalysen genau in diese Richtung. Wenn das BZÖ seine Kräfte nicht im kontraproduktiven Streit mit der FPÖ vergeudet und seine inhaltliche Linie präzisiert, ist es durchaus möglich, daß es noch mehr Zulauf von konservativen Wählern erhält. Ob die ÖVP die Kraft zu einem „Zurück zu den Wurzel“ findet und diese Wähler so wiedergewinnt, ist sehr fraglich. Wahrscheinlicher ist da noch ein „patriotischer Schwenk“ der SPÖ.

Wer langfristig von der Tendenzwende zu profitieren vermag, ist heute also doch unausgemacht. Genauso, ob der Trendwende des Wählers mit Floskeln und leeren Versprechungen begegnet wird – oder ob diese zum Wohle des Landes in konstruktive Politik umgesetzt wird. In Deutschland, das der Entwicklung in Österreich hinterherhinkt, sind diesbezüglich sogar noch mehr Fragen offen.

 
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