New Orleans war in kultureller und mentaler Hinsicht eine Sonnenstadt. Millionen Besucher, die durch die Jazz-Kneipen des Französischen Viertels zogen, waren bereit, den Mythos von der Leichtigkeit des Seins zu übernehmen und weiter zu verbreiten. „The city that care forgot“ textete die sorglose Stadt ihren Gästen vor, aber den meisten von ihnen dürfte sich der funktionale Aspekt der Dauer-Party nicht erschlossen haben: In der von ihren Einwohnern und Jazz-Freunden weltweit „Big Easy“ genannten Metropole gedieh unter niedrigen Dämmen das, was man ein gesellschaftliches Schönwetter-Experiment nennen kann, oder anders: den auf die Spitze getriebenen amerikanischen Gesellschaftskonsens.
Dieser Konsens besteht darin, die tiefen ethnischen, sozialen und politischen Klüfte zwischen weiß und schwarz, arm und reich auf eine für alle akzeptable oder besser: verführerische Weise zu verdecken. Vergnügungs- und Identifikationsangebote verhindern die Aufspaltung der amerikanischen Gesellschaft entlang ihrer ethnischen Bruchlinien, die nicht selten ebenso als sozialer Natur beschrieben werden können, also deckungsgleich sind.
Für New Orleans bedeutete dies: Jazz-Clubs und des Kontinents größte Karnevals-Umzüge. Wer genauer hinsah, konnte das schon lange als den Versuch begreifen, die „politischen und gesellschaftlichen Konflikte im Medium der Kultur vergessen zu machen“ (Berndt Ostendorf, „FAZ“).
Ob einige britische Touristen auf ihrer schlecht organisierten Flucht vor dem Hurrikan in den Superdom, das Football-Stadion in New Orleans, von diesem Hintergrund wußten, ist letztlich unerheblich. Sicher ist, daß sie fünf Tage später im Fernsehsender Sky News nicht mehr von einer Party sprachen. Ihren Aussagen zufolgte waren sie einer Hölle entronnen. Denn der Superdom war zu einer Arche geworden, in der etliche Tausend Eingeschlossene die Tragfähigkeit ihres jahrelang erprobten Zusammenlebens unter Beweis stellen mußten. Zu den Vorgaben des Experiments gehörte, daß Nahrung und Getränke knapp waren und der Zeitpunkt einer Evakuierung unklar blieb.
Innerhalb eines Tages sortierte sich die Gesellschaft: Banden brachten die Lebensmittel und andere Hilfsgüter unter ihre Kontrolle. Sie bekämpften einander mit Schußwaffen und Messern. Sie gewährten Schutz und marodierten im Stammesgebiet der anderen. Sie vergewaltigten.
Das Bandengeschäft war eine rein schwarze Angelegenheit, und die Briten berichteten von den zerschlagenen Gesichtern weißer Männer, die versucht hatten, ihr Recht einzufordern. Daß neben den Banden auch noch so etwas wie eine offizielle Hilfsstruktur im Superdom tätig sein konnte, rettete die Briten. Auf Empfehlung der Helfer gaben sie sich selbst ebenfalls als Helfer aus und arbeiteten tatsächlich in dieser Struktur mit. Nachts schliefen die Frauen in der Mitte, während die Männer sich in einem Kreis um sie herum legten und Wachen postierten. So kam man durch die Tage.
Für das sich allzeit mit einem Saxophon und einem breiten Grinsen präsentierende New Orleans wäre – dem Selbstverständnis nach – doch ein anderes Szenario das angemessene gewesen: Unter den Klängen der vor dem Wirbelsturm geretteten Instrumente hätte jeder im Superdom ungeachtet seiner Hautfarbe und seiner Herkunft eine brüderlich geteilte Ration verspeist. Aber eine Übertragung der Lebenskonzepte satten Friedens in den Ernstfall oder Ausnahmezustand ist nicht vorgesehen, zumal das Gelingen unter den Bedingungen schönen Wetters auch nur ein oberflächliches, ein gern geglaubtes ist. In den Vereinigten Staaten folgt das Leben nicht anders als in Westberlin, Mannheim oder Offenbach den Regeln multikultureller Gesellschaften: Nur als dauerndes Straßenfest denkbar, kleistert sie mit einem Überangebot an Vergnügung und Raum die im Untergrund irreparablen ethno-kulturellen Bruchlinien zu. Ihr Grundgesetz lautet: Konsum. Auch ohne Gegenleistung muß es stets für alle reichen. Solche Konzepte überdauern keinen Sturm.
Was also trägt im Ernstfall? Die Antwort ist nicht besonders inspiriert, aber einfach und richtig: ein gut erzogenes Volk, das keine Bevölkerung ist. Ein Volk nämlich, das sich als Schicksalsgemeinschaft empfindet, also homogen ist, bricht nicht beim ersten Hochwasser auseinander. Und ein Volk, dessen Angehörige auch dann im Sinne der Staatsethik zu handeln bereit und in der Lage sind, wenn der Staat als Souverän den Ausnahmezustand nicht vor Ort mit seinen Organen beherrschen kann, darf als gut erzogen gelten. Selbst solchen Gemeinschaften kann – schlagartig konfrontiert mit der Katastrophe – die Zivilisationsdecke reißen. Jedoch bleibt die gemeinsame Zukunft wie selbstverständlich das Ziel aller Mühe.
Von alledem kann in New Orleans keine Rede sein. Etwas schäumend spricht der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal von einem drohenden Rassenkrieg. Selbst der religiös eingefärbte Patriotismus, der in Amerika gepredigt wird, verschaffte einer Stadt keinen Halt, die seit Jahrhunderten und selbst im tiefsten Frieden die Probleme einer differenzierter nicht denkbaren Multikultur ausbalancieren muß und eigentlich genügend Zeit für die Entwicklung eines modus vivendi hatte. Die Zersplitterung in Deutschland ist hingegen ohne Not hausgemacht, nicht besonders alt und ein sicheres Kennzeichen dafür, daß auch hierzulande nur schönes Wetter eingeplant ist.