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Was von den Verheißungen der Globalisierung geblieben ist

Von Stephan Baier

Wenn wir keine radikale Wende wagen, hat das tödliche Konsequenzen
Nicht die Moral, sondern die Mathematik zwingt zu der Erkenntnis, daß die Fun-Gesellschaft der zurückliegenden Jahrzehnte ein Problem geschaffen hat, das nun unlösbar scheint. In den vergleichsweise reichen Gesellschaften Europas waren Kinder offenbar für viele Menschen ein Luxus, den sie sich nicht leisten wollten. Nun wird die Aufrechterhaltung des Generationenvertrags zu einem Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.

Die Europäer erleben heute etwas, worauf die Menschheitsgeschichte sie nicht vorbereitet hat: hohes Alter. Im „alten“ Ägypten lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 15 Jahren, im antiken Rom bei etwa 20 Jahren. Die Zeitgenossen Goethes hatten eine durchschnittliche Lebenserwartung von 30 Jahren. Heute werden Japanerinnen im Durchschnitt 85 Jahre alt! Wir Europäer des 21. Jahrhunderts leben länger als alle unsere Vorfahren, zudem auch in einer Lebensqualität, die noch vor zwei oder drei Generationen unvorstellbar gewesen wäre.
Als Otto von Bismarck 1889 in Deutschland die Alters- und Invaliditätsversicherung einführte, setzte er ein Rentenantrittsalter von 70 Jahren fest. Ein derart „biblisches“ Alter erreichten damals nur wenige. Seitdem stieg nicht nur die Lebenserwartung rapide an, sondern es sank gleichzeitig das gesetzliche und das faktische Rentenalter. Während die Menschen immer älter werden, steigt der prozentuelle Anteil der Alten in der Gesellschaft hochgeschwindig an. 1995 standen in Deutschland 100 Erwerbstätigen 36 Personen im Rentenalter gegen
über; 2001 waren es bereits 44 Personen und im Jahr 2050 werden es 78 Personen sein. Der Anteil der Alten wächst und wächst und wächst: 2002 waren 16,8 % der Einwohner Deutschlands und 15,9 % der Einwohner Österreichs über 65 Jahre alt.
Dramatischer ist, wie es in den kommenden Jahren weitergeht: In Österreich wird der Prozentsatz der mindestens 60jährigen laut Statistik Austria von 21 % im Jahr 2001 auf 36 % im Jahr 2050 ansteigen. Diese Altersgruppe machte im Österreich des Jahres 1950 nur 15,5 % aus. Die Schaubilder der sogenannten Bevölkerungspyramiden zeigen, daß aus den „Pyramiden“ längst Bäume geworden sind. Und der Wipfel des Baumes wird immer breiter, während der Stamm langsam schmäler wird. Nach einer UN-Prognose wird im Jahr 2050 das Durchschnittsalter in Österreich bei 50,2 Jahren, in Deutschland bei 50,9 Jahren, in Spanien bei 54,3 Jahren liegen.
1965 lag die Geburtenrate in Deutschland bei 2,4 Kindern, ein Jahrzehnt später bei 1,4. Innerhalb des 20. Jahrhunderts nahmen in Deutschland die Geburten um 72 % ab, während die Lebenserwartung gleichzeitig um 83 % stieg. Diese Zahlen sind es, die den Kern unseres Problems beschreiben: Beide Entwicklungen zusammen – die Steigerung der Lebenserwartung und der dramatische Rückgang der Geburten – stellen unsere Bevölkerungspyramide auf den Kopf.

Fehlkonstruktion Generationenvertrag

Der Wohlstand der europäischen Gesellschaften, die Stabilität des Sozial- und mit ihm auch des Rechtsstaates sind in Gefahr, weil die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist. Unser soziales System beruht auf der Voraussetzung eines halbwegs ausgewogenen Verhältnisses zwischen Erwerbstätigen einerseits und noch nicht Erwerbstätigen sowie nicht mehr Erwerbstätigen andererseits. Am offensichtlichsten ist das Problem bei der Finanzierung der Pensionen: Nach dem Umlagesystem wird der Pensionsanteil der Sozialversicherungsbeiträge in Österreich direkt an die Generation der nicht mehr Erwerbstätigen ausbezahlt. Die dritte Generation aber, jene der Kinder und Jugendlichen, wurde in den Generationenvertrag einfach nicht einbezogen. Der Konstruktionsfehler des Generationenvertrags, der die Kinder vergaß und nur zwei der drei Generationen umfaßte, rächt sich heute.
Durch die gestiegene Lebenserwartung werden die Kosten für Pensionen, für Gesundheit und Pflege extrem steigen. Die immer zahlreicher werdenden Hochbetagten, die erwiesenermaßen die höchsten Gesundheits- und Pflegekosten verursachen, werden die Ausgaben der Krankenkassen emporschnellen lassen. Wie aber sollen immer weniger Erwerbstätige diese ins Astronomische steigenden Kosten finanzieren? Will man die derzeitigen Sozialsysteme (bei allen Reformen) irgendwie erhalten, werden Steuern und Sozialabgaben weiter steigen. Die ohnehin schon unter der hohen Abgabenquote stöhnenden Erwerbstätigen werden noch mehr belastet und demotiviert. Durch explodierende Pensionsausgaben und höhere Budgetdefizite wird das Wachstum in der EU sich deutlich verringern. Das wirtschaftliche Gewicht der Europäischen Union in der Welt wird sich nach Expertenprognosen fast halbieren.
Während Kinderreichtum individuell zum größten wirtschaftlichen Problem werden kann, wird Kindermangel mehr und mehr gesamtgesellschaftlich zum größten und immer unlösbareren Problem in Europa. Allein dieses Paradox beweist, daß die Prioritäten der Gesellschaftspolitik falsch gesetzt werden. Eine ideologiefreie, vernünftige Politik würde alles belohnen, was zur Lösung der Probleme des Gemeinwesens nützlich ist, und alles erschweren, was diesen Lösungen hinderlich ist. Wäre unsere Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vernünftig, dann würde sie Rahmenbedingungen zu setzen versuchen, die der Stabilität von Ehen dienen, die die Entscheidung von Paaren für Kinder fördern und mehr Elternzeit mit den eigenen Kindern ermöglichen.
Leider ist unsere Politik aber noch immer so unvernünftig, daß es einfacher ist Kinder abzutreiben, als Kinder zu adoptieren. Durch das Scheidungsrecht ist es leichter, einen Ehemann loszuwerden, als einen Untermieter. Und es ist nicht nur ein lebensgeschichtliches, sondern auch ein wirtschaftliches Abenteuer, eine Familie zu gründen.

Die Tabus der enttabuisierten Gesellschaft

Europa fehlen heute jene Kinder, die in den zurückliegenden drei Jahrzehnten abgetrieben wurden. Nach Angaben der International Planned Parenthood Federation (IPPF), also einer die Abtreibung befürwortenden Organisation, werden jedes Jahr weltweit 46 Millionen Abtreibungen vorgenommen, davon 17 Prozent in Europa. Die Lebensschutzorgansiation Human Life International spricht sogar von 55 Millionen chirurgischen Abtreibungen jährlich.
Die Ideologie von der Gleichwertigkeit der verschiedensten Lebensformen ist politisch falsch und philosophisch unsinnig. Für Kinder ist es besser, in einer heterosexuellen, dauerhaften, monogamen Partnerschaft geboren zu werden und aufzuwachsen. Kindern, die in einer homosexuellen Partnerschaft aufwachsen, fehlt entweder der eigen- oder der gegengeschlechtliche Elternteil, also Vater oder Mutter. Kindern, die den ständigen Partnerwechsel eines Elternteils miterleben, fehlt die Sicherheit und Verläßlichkeit fester Bezugspersonen.
Wer immer das Licht der Welt erblickt, wird als Kind eines Vaters und einer Mutter geboren. Nichts ist deshalb selbstverständlicher und naturgemäßer als Vaterschaft und Mutterschaft. Doch Kinder sind ein zeitintensiver „Luxus“. Wer ihn sich leisten möchte, muß viel Zeit, Kraft und Geld investieren – und dies auf lange Sicht. Bei der Angleichung von weiblichen an männliche Karrieremuster kann man sich diesen Luxus oft nur unter Mühen leisten. Es ist offensichtlich, daß die Mutterrolle heute vielfach ins Hintertreffen geraten ist. Dabei ist Muttersein das denkbar Fraulichste. Hier, allerspätestens, endet nämlich die Austauschbarkeit der Geschlechterrollen: Kein Mann kann diese Rolle je übernehmen. Die kinderlose Gesellschaft braucht eine Renaissance der Mütterlichkeit. Ohne eine neue, vor allem in der jungen Generation aufblühende gesellschaftliche Wertschätzung der Mutterschaft ist die Vergreisung Europas auf keinen Fall zu bremsen: nicht im demographischen und nicht im psychologischen Sinn.
Nichts ist kindgerechter, natürlicher und menschenwürdiger für Kinder, als mit Vater und Mutter, möglichst auch noch mit Geschwistern, aufwachsen zu dürfen. Spielt dann der Vater auch noch tatsächlich eine väterliche Rolle und beschränkt seinen Beitrag zur Familie nicht nur auf deren Finanzierung, kümmert sich die Mutter tatsächlich mütterlich um ihre Kinder, dann hat das Kind die besten Chancen, glücklich aufzuwachsen. Doch die modern-kapitalistische Entfremdung zunächst des Vaters und anschließend – im Namen des Feminismus – auch noch der Mutter von Familie und Kindererziehung ist ein gefährlicher Irrweg. Dessen erste Opfer sind die Kinder. Kinder brauchen Vater und Mutter, weil sie Liebe, Geborgenheit und Vorbilder brauchen. Sie brauchen die Verschiedenheit der elterlichen Rollen, die Verschiedenheit von Frau und Mann, von Mutter und Vater.

Gerechtigkeit für die Familien

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, Kinder seien ein reines Privatvergnügen. Ein Luxus, den sich manche Paare gönnen, während andere statt dessen einen schicken Zweitwagen kaufen oder eine Weltreise buchen. Schließlich wird ja, erfreulicherweise, niemand gezwungen, Kinder zu bekommen. Aber wenn Kinderkriegen reines Privatvergnügen ist, wenn Elternschaft nichts mit der Gesellschaft zu tun hat, dann muß um der Gerechtigkeit willen auch die Alterssicherung privatisiert werden. Es kann es nicht gerecht sein, die Kosten einer Angelegenheit (in diesem Fall des Privatvergnügens „Kinder“) zu privatisieren, dann aber den Nutzen derselben zu sozialisieren. Wenn Eltern die Aufzucht ihrer Kinder privat zahlen müssen, dann sollen die Kinder später auch nur die Alterssicherung ihrer eigenen Eltern zahlen. Kinderlose können ja auf anderen Wegen vorsorgen, also in Aktienpakete, Lebensversicherungen, Immobilien oder Sparbücher investieren.
Trotz aller Almosen, die den Familien im Umverteilungsstaat zufließen, belohnen Staat und Gesellschaft tendenziell weiterhin Individualismus und Kinderlosigkeit; behindern und bestrafen weiterhin Familienbildung und Kinderreichtum. Solange die Eltern sich selbst um die Erziehung, Versorgung und Ausbildung ihrer Kinder kümmern, ist dies ihr Privatvergnügen. Erst wenn sie diese Arbeit delegieren, wird es für die öffentliche Hand teuer: Kinderkrippen, Kindergärten, Ganztagsschulen mit Nachmittagsbetreuung. Ebenso mit der viel verspotteten Hausarbeit: Die sogenannte Nur-Hausfrau wird nicht nur vom Staat so behandelt, als täte sie nichts, sondern ist auch permanent der gesellschaftlichen Zurücksetzung ausgeliefert. Die Arbeit im fremden Haushalt (als Köchin, Putzfrau etc.) wird als echte Arbeit gewertet, die im eigenen Haushalt als Privatvergnügen. Die Erziehung und Betreuung fremder Kinder (als Tagesmutter, Kindergärtnerin, Lehrerin etc.) wird als echte Arbeit gewertet, die der eigenen als Privatvergnügen.
Bei diesen Wertigkeiten ist es nicht nur vom gesellschaftlichen Prestige, sondern auch von den ökonomischen Rahmenbedingungen her naheliegend, Kinder und Haushalt rasch und umfassend an andere – möglichst billigere – Arbeitskräfte zu delegieren, um selbst einer außerfamiliären Erwerbsarbeit nachzugehen. Dadurch aber gerät ins Hintertreffen, worin der zentrale Wert der Erziehungsarbeit besteht, nämlich in dem Ziel, erwachsene und verantwortungsbewußte und nicht nur saubere und satte Menschen heranzubilden.
Eine Gesellschaft, die nicht an Kinderlosigkeit zugrunde gehen will, muß die Familien- und Erziehungsarbeit nicht nur anerkennen, sondern auch bezahlen! Erziehungsarbeit geht über die sicher anspruchsvollen Tätigkeiten eines Tierwärters im Zoo oder eines Lehrers in der Schule hinaus: Sie ist eine hochqualifizierte, komplexe Tätigkeit, die Mutter und Vater vor immer neue psychologische, medizinische, pädagogische, technische, intellektuelle, handwerkliche, sportliche und vor allem auch zeitliche Herausforderungen stellt. Statt die außerhäusliche Erwerbsarbeit zum eigentlichen Lebenszweck und zur Quelle persönlicher Sinnfindung zu erklären, sollten alle gesellschaftlichen Kräfte bestrebt sein, die Erziehungsarbeit in ihrer Komplexität und in ihrer sozialen Bedeutung anzuerkennen.
In unserer materialistischen Gesellschaft funktioniert Anerkennung vor allem durch, aufgrund, und in Form von Bezahlung. Dabei geht es nicht um Almosen, nicht um eine Form der Sozialpolitik, sondern um Leistungsgerechtigkeit und politische Vernunft. Sozialpolitisch ist es lediglich geboten, daß der Staat jene unterstützt, die in eine besondere Notlage geraten und deshalb seiner solidarischen Hilfe bedürfen. Die Entlohnung der Erziehungsarbeit hat damit nichts zu tun. Hier geht es darum, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und Chancengleichheit herzustellen.
Dem Wesen der Familie würde es aber widersprechen, wenn die Eltern zu Angestellten des Staates würden, so als ob es zunächst die Zuständigkeit des Staates wäre, die Kinder zu erziehen. Wäre es so, dann müßten Eltern auch Erziehungsvorschriften der jeweiligen Regierung oder des Gesetzgebers akzeptieren. Bestenfalls würde dann eine Eltern-Gewerkschaft mit den zuständigen Ministerien über Gehaltserhöhungen und Leistungsziele in Verhandlungen eintreten. Logischerweise müßten Behörden in diesem Fall auch die Erfüllung der Erziehungsvereinbarungen überprüfen. Einer restlosen Verstaatlichung des Menschen wäre keine Grenze mehr zu setzen. Die Intimität der Familie wäre dahin.
Ohne diese Gefahr aber könnte man die Familie als Kleinunternehmen anerkennen, denn ihre ökonomische Seite ist unverkennbar. Familien produzieren: vor allem, aber nicht nur Humanvermögen. Familien konsumieren: zum Wohl ihrer Mitglieder, der Wirtschaft und des Staates. Familien sind unter anderem auch ökonomische Zweckgemeinschaften: Sie leisten eine Arbeit, die sonst gegen Bezahlung auf dem Markt erworben werden müßte, und sie bieten Pflegeleistungen, die in diesem Umfang von keiner anderen Solidargemeinschaft finanziert werden könnten. Was läge da näher, als die Familie als Betrieb, als Kleinunternehmen zu bewerten?
Der die Familien- bzw. Erziehungsarbeit leistende Elternteil wäre der Geschäftsführer des Unternehmens. Dank dieser Erwerbsarbeit wären er oder sie selbstverständlich sozialversichert, mit allen Folgen für Altersvorsorge und Krankenversicherung. Familienaufwendungen, wie Familienauto, Wohungsmiete, Gesundheitskosten, Bildungsmaterialien, Versicherungen und hin und wieder ein Geschäftsessen, wären steuerlich absetzbar. Eine einfache Einnahmen-Ausgaben-Aufstellung zur Berechnung von Gewinn oder Verlust der Firma ist für Familienmanager(innen), die ihre Kinder durch Hauptschule oder Gymnasium boxen, keine Schwierigkeit. Die horrenden Mehrwertsteuerzahlungen, die Familien heute für Essen, Kleidung usw. an den Staat entrichten, würden mittels Umsatzsteuererklärung in die Familie zurückgeholt.
Wenn es wahr ist, wie der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Paul Kirchhof behauptet, daß „das herkömmliche soziale Finanzierungssystem zusammenbrechen“ würde, wenn alle Eltern alle ihre Kinder in staatliche Obhut geben würden, dann wäre es nur logisch, die öffentliche Finanzierung bzw. Subventionierung für Betreuungseinrichtungen radikal zu liberalisieren: Anstatt Millionen in ein immer engeres und flächendeckenderes Netz verschiedener Kinderbetreuungseinrichtungen zu pumpen, sollte die öffentliche Hand dieses Geld lieber den Eltern in die Hand geben. Dann hätten die Mütter und Väter nämlich tatsächlich die freie Entscheidung, ob sie sich selbst (hauptamtlich) um Erziehung und Betreuung ihrer Kinder kümmern und das Geld vom Staat als Erziehungsgehalt einstecken, oder ob sie einer außerfamiliären Berufsarbeit nachgehen und mit dem Geld eine von mehreren Kinderbetreuungsmöglichkeiten finanzieren.
Statt die Auflösung der ohnedies schon schwer belasteten Familie weiter voranzutreiben, statt Kinder noch radikaler und noch früher elternlos und heimatlos zu machen, statt die Kommerzialisierung der Familien- und Erziehungsarbeit noch stärker zu entwickeln, bräuchte diese weitgehend kinderlose Gesellschaft eine mutige Wende. Unsere Gesellschaft braucht mehr Kinder, mehr Familien, mehr Zeit der Eltern für die Kinder, mehr Zeit der Kinder mit den Eltern. Wenn junge Paare mehr Wahlmöglichkeiten haben, wenn junge Frauen nicht durch puren finanziellen Druck in die außerhäusliche Erwerbstätigkeit gezwungen werden, dann wird es auch mehr Bereitschaft zu Kinderphasen und darum auch wieder mehr Kinder geben.

Neue Modell sind notwendig

Die Überalterung der Gesellschaft zwingt uns zu einem Bewußtseinswandel, der nicht nur gesellschaftlich notwendig, sondern für den einzelnen auch befreiend wäre: Wenn auf dem Arbeitsmarkt 50jährige nicht mehr – wie absurderweise noch heute – als „altes Eisen“ betrachtet werden, sondern als erfahrungsreiche und dynamische Arbeitskräfte in der Lebensmitte, dann verliert das Altern langsam seinen Schrecken. Länger arbeiten alleine nützt nicht. Es bedarf eines Bewußtseinswandels gegenüber dem Altern und den Alten. Solange Alter als Wettbewerbsnachteil betrachtet wird, werden ältere Menschen in ihrer Produktivität und Leistungsfähigkeit gehemmt. Es bedarf einer neuen Wertschätzung der Erfahrung und der Tradition, umgekehrt aber auch einer Einübung in lebenslanges Lernen.
Nicht nur die Länge unserer Lebensarbeitszeit muß sich durch die demographische Krise verändern. Auch ihr Verlauf muß modernisiert und den Notwendigkeiten angepaßt werden. Es ist absurd, daß Männer und Frauen ausgerechnet in jenem Lebensabschnitt vergleichsweise wenig verdienen, in dem sie eine Familie aufbauen könnten, also Geld für eine Wohnung oder ein eigenes Haus, Geld für Kinder, Geld für eine Unternehmensgründung bräuchten. Und es ist noch absurder, daß Frauen ausgerechnet in jenem Lebensabschnitt Karriere machen sollen, in dem sie Kinder bekommen und ihre kleinen Kinder umsorgen könnten.
Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung ist es hochgradig unvernünftig, daß Frauen ihren entscheidenden beruflichen Aufstieg ausgerechnet in jener Zeit nehmen müssen, in der sie auch Kinder bekommen und eine Familie bilden könnten. Unvernünftig ist ebenso, Frauen mit der Formel „Familie und Beruf müssen vereinbar sein“ die ganze Last dieser einfach behaupteten Vereinbarkeit aufzubürden. Wenn die Frau die Hausarbeit und die Kinderbetreuung auslagert, kostet dies Geld, das gerade in dieser Lebensphase oft knapp ist. Gibt sie jedoch den Beruf für die Familienbildung und Kinderbetreuung auf, kostet sie das noch viel mehr Geld, nämlich kurzfristig den Verzicht auf ein eigenes Einkommen, langfristig oft den Verzicht auf eine Karriere.
Die Folge ist, daß sich viele Frauen zwischen Beruf und Familie zerrissen fühlen, hier wie da von schlechtem Gewissen geplagt werden oder einfach überfordert sind. Die demographisch fatale Folge ist auch, daß junge Paare ihren vorhandenen Kinderwunsch nicht oder nur teilweise realisieren.
Angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung der Europäerin von acht Jahrzehnten muß man die Frage stellen, warum Familie und Beruf unbedingt gleichzeitig vereinbar sein sollen. Wäre es nicht denkbar, Familien- und Erziehungsarbeit in einer Lebensphase den Vorrang zu geben, der außerhäuslichen Erwerbsarbeit und der Karriere in der nächsten? Zeitlich einigermaßen vorgegeben ist diesbezüglich nur die Lebensphase, in der Frauen Kinder bekommen können. Alles andere beruht auf Konvention und Gesetzen, ist also veränderbar.
Warum sollte jemand, der eine Familie mit Kindern, und möglicherweise auch noch mit pflegebedürftigen Großeltern, managen kann, nicht in der Lage sein, eine Supermarktfiliale oder eine Anwaltskanzlei zu managen? Mutterschaft und Vaterschaft sind eine vielschichtige Zusatzqualifikation, denn Mütter und Väter sind Manager, Seelsorger, Pädagogen, Ärzte, Psychologen, Maurer, Köche, Taxifahrer, Ernährungs- und Sportwissenschaftler und in jedem Fall Wirtschaftswissenschaftler. Das Wissen, das sich eine Frau oder ein Mann im Familienmanagement erwirbt, wird an keiner Universität gelehrt und mit keinem Diplom bestätigt. Dieses Wissen ist praxisbezogen, immer kritisch hinterfragt, anwendbar, fächerübergreifend und durch jahrelange Innovation gereift.
Der Gesetzgeber sollte außerdem, statt sich am Erbe der Großväter und Großmütter via Erbschaftssteuer zu bedienen, den innerfamiliären Eigentumstransfer in Richtung der jüngeren Generation fördern. Wenn „Vater Staat“ schon selbst nicht in der Lage ist, seinen „Kindern“ ein schuldenfreies „Haus“ zu hinterlassen, dann sollte er dies zumindest den leiblichen Eltern der viel zu wenigen Kinder in Europa erlauben. Sich mittels Steuer einfach überall dort zu bedienen, wo Kapital oder Vermögen sichtbar wird, ist der Stil einer Räuberbande, nicht der eines Rechtsstaates.

Geistige Wende

Der radikale Individualismus der Selbstverwirklichungs-Ideologie predigt uns: Du hast nur dieses eine Leben, darum nutze es zu deinen Zielen! Alles ist erlaubt, solange es dir dabei gut geht! Heirate oder suche dir einen Lebensabschnittsgefährten, wenn du willst. Trennt Euch wieder, wenn und wann ihr es wollt. Zeugt Kinder und befaßt euch mit ihnen, solange und soviel es euch angenehm und nützlich erscheint! Verwirkliche dich selbst! Du selbst bist dein Weg und dein Ziel. Alles frei nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, wird wenigstens keiner vergessen.
Kein Zweifel, daß an der ungebremsten Selbstverwirklichungs-Mentalität unzählige Ehen zerbrochen sind. Die Konsequenz einer Gesellschaft, in der jeder nur sein individuell Bestes will, in der sich jeder selbst verwirklichen und keiner für den anderen da sein möchte, sind millionenfache Abtreibung von Kindern, die man offen als „ungewollt“ bezeichnet, im Labor gezeugte und gen-geprüfte Kinder, falls ein Kind gerade in die Selbstverwirklichung paßt, Millionen von Scheidungswaisen – und auch die Euthanasie. Es wäre ja geradezu ein Wunder, wenn Kinder, die ihre Eltern jahrelang auf dem Selbstverwirklichungs-Trip erlebten, sich später finanziell oder gar persönlich um die immer zahlreicher werdenden Alten kümmern würden. Die Ellenbogen-Gesellschaft belohnt den Durchsetzungsfähigen und Rücksichtslosen. Die Selbstverwirklichungs-Gesellschaft belächelt den Idealisten und den Opferbereiten.
Der postmoderne Individualismus hat den ohnedies brüchigen ethisch-moralischen Grundkonsens gänzlich in Frage gestellt. Doch eine Gesellschaft, deren verbindliches Recht nicht mehr auf gemeinsamen Werten und ethischen Grund
optionen beruht, zerfällt in pure Interessengruppen. Im Hinblick auf die demographische Entwicklung bedeutet dies: hier die Ältesten, die ein Recht auf kostenlose 24-Stunden-Pflege haben; dort die Alten, die sich einen ruhigen und gesicherten Lebensabend hart erarbeitet haben; dann die Erwerbstätigen, die ein Recht auf persönlichen Genuß des Ertrags ihrer Erwerbsarbeit haben; schließlich die Kinder und Jugendlichen, die ein Recht auf intakte Zukunftschancen haben. Alle haben sie Recht; aber angesichts von Bevölkerungsschwund und gesellschaftlicher Überalterung ist das alles gleichzeitig nicht mehr finanzierbar. Es ist Zeit, umzudenken.

 
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