„Was mich angeht, fühle ich mich nach dem Beispiel meines Vaters unfähig, einer positiven Konfession oder Religion anzugehören. „Dies sagte der hundertjährige Ernst Jünger am 15. Oktober 1995 im Gespräch mit seinen italienischen Übersetzern Antonio Gnoli und Franco Volpi. Am 26. September 1996 konvertiert der evangelisch getaufte Jünger zur römisch-katholischen Kirche, dieser Übertritt wurde aber erst 1998 nach dem Begräbnis Jüngers bekannt.
Die späte Konversion dieses Autors rief Verwunderung hervor. Sie wurde von der Amtskirche und der katholischen Publizistik weithin mit Schweigen übergangen, wohingegen in früheren Jahrzehnten Konversionen deutscher Schriftsteller (Sigismund von Radecki, Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort usw.) groß herausgestellt worden waren. Sichtet man Jüngers Spätwerk in Hinblick auf Häresien (nach katholischer Lehrmeinung), wird man schnell fündig. Andererseits merkt man sehr bald, daß Jünger nicht wie sein Vater „vollkommener Atheist und Darwinist“ war (bei gleichzeitiger formeller Zugehörigkeit zur evangelischen Konfession). Im Gespräch mit den beiden Übersetzern betonte Jünger: „Die Wirklichkeit des Göttlichen ist für mich unleugbar, aber sie ist auch schwer zu definieren und zu benennen … Für mich gibt es in der Natur, im Kosmos eine göttliche, geheiligte Dimension.“ Man muß sich fragen, ob Jünger bei seiner Konversion mit Anschauungen gebrochen hat, die dem Wesenskern des katholischen Glaubens widersprechen, warum er übertrat und warum dies so spät geschah.
Nirgendwo findet man bei Jünger ein Bekenntnis zu dem einen Gott in drei Personen, die Göttlichkeit Jesu bestritt Jünger sogar ausdrücklich. Auf Reisen in andere Kulturräume fühlte Jünger sich angesprochen, wenn er entdeckte, daß die religiöse Verehrung „tief unter die mono- und polytheistischen Gestalten“ hinabreichte. Zugespitzt ausgedrückt: „Noch heute fühlen wir uns in den Wäldern tiefer angesprochen, stärker erinnert als im Dom.“ Den Anspruch einer alleinseligmachenden Kirche akzeptierte Jünger nicht: „Wo das Heil, wie in den Religionen des Nahen Ostens, vom Bekenntnis abhängt und monopolisiert ist, wird auch das Universum angekränkelt und parzelliert.“ Über die Letzten Dinge kann man bei Jünger manches lesen, was sich mit der katholischen Lehrmeinung in Übereinstimmung bringen läßt, aber weder Jüngers Festhalten an der Allerlösungslehre (nach Origines) noch die Annahme, im Tode des Menschen verlösche die Personalität (Überführung in den Typus), sind rechtgläubig im katholischen Sinne.
Durch die Lektüre eines Buches von Huysmans wurde in Jünger nach dem 1. Weltkrieg „eine flüchtige, vielleicht auch in der Erbanlage begründete Neigung für den Katholizismus erweckt“. An der römisch-katholischen Kirche schätzte Jünger die Überformung heidnisch-antiker Elemente, die im Protestantismus durch die Reformatoren weitgehend ausgemerzt worden waren. Der eifrige Leser der Heiligen Schrift und der Kirchenväter hielt wenig von den modernen Theologen beider Konfessionen. Ihm war „der Hauptteil der Theologie ein reiner Streit um Namen und Benennungen“, für noch schlimmer hielt er, daß die moderne Theologie sich in Soziologie und Psychologie aufzulösen trachtete. Wirkliche Lebenshilfe komme von Zeitgeist-Theologen kaum noch: „Die Todesfurcht wächst. Schuld daran tragen außer den platten Materialisten, die es immer gegeben hat, auch die entmythisierenden Theologen, die das Jenseits abbauen, ohne die Armen dafür zu entschädigen.“ Kritische Pfeile richtete Jünger auch gegen bestimmte Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils. Etwa gegen die Zurückdrängung der lateinischen Kultsprache („Selbst die Messe wird nationalisiert.“) oder gegen die Zusammenstreichung des Heiligenkalenders (sofern Heilige nicht geschichtlich nachweisbar sind: „Dichtung durch Wissenschaft kastriert.“).
Letztlich wurde Jüngers Haltung zu Konfession und Kirche durch seine Auffassung vom Anarchen bestimmt, die auf unbedingte innere Freiheit abzielt. Der Anarch bestimmt, „was als Sakrament zu gelten hat, und das Ritual, in dem es vollzogen wird“. Der Anarch nimmt an kultischen Handlungen teil, „falls es ihm beliebt“. Für ihn kann es sinnvoll sein, daß er sich „einem der Kulte anschließt und ihn ernst nimmt – bestimmte Regeln und Riten zu befolgen, bringt inneren und äußeren Gewinn“ (so 1984 in „Autor und Autorschaft“).
Da Jünger seit 1950 in dem katholisch geprägten Wilflingen (Oberschwaben) lebte, lag es nahe, daß der nominelle Protestant sich dem örtlichen Katholizismus annäherte und auch, wie man seinem Tagebuch entnehmen kann, gelegentlich an der katholischen Liturgie teilnahm. Besonders beeindruckend waren für Jünger die katholische Totenliturgie und der katholische Totenkult. Am 29. Juni 1968 notierte er: „Der Nachbar ist gestorben, eines der späten Opfer des Zweiten Weltkrieges …Vor dem Hoftor segnet der Pfarrer die Leiche aus. Er legt Weihrauch auf die glühenden Kohlen, sprengt Weihwasser aus dem Wedel, schlägt das heilige Zeichen mit dem Vortragekreuz. Dann wird der eichene Sarg auf den Wagen gehoben und mit Kränzen umstellt. Der Bauer hieß Reck; er fährt wie ein Wiking zwischen den bunten Schilden von der Hofstellt …“ Ähnlich eindringlich sind die weiteren Notizen über dieses Begräbnis. So wollte auch Jünger einmal begraben werden. Ihn faszinierte, wie er den italienischen Übersetzern sagt, „all das Sakrale des katholischen Ritus“.
Bis zum Requiem und Begräbnis Jüngers wußten die Leser dieses Autors nichts von der bis dahin geheimgehaltenen Konversion. Auch in dem noch nach der Konversion veröffentlichten letzten Tagebuch („Siebzig verweht V“, Erstausgabe 1997) können Jünger-Kenner altvertraute häretische Formulierungen finden. Man geht daher nicht fehl, wenn man annimmt, daß Jünger als Katholik mit einer reservatio mentalis gesprochen hat. Auch nach dem Übertritt zur katholischen Kirche blieb Jünger ein Anarch. Der Eindruck ist sicher nicht falsch, daß auch dieser große Autor, der als Soldat und Schriftsteller zahlreiche Kämpfe bestanden hatte und „nach dem Tod noch viele andere Abenteuer“ erwartete, „wie ein Wiking“ zur letzten irdischen Ruhestätte fuhr. Gläubige Christen dürfen hoffen, daß für den Gottsucher Ernst Jünger die Verheißung Jesu Christi gilt: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ (Joh. 14,2).