„Die Allmacht der Parteien wird durch Volksabstimmungen zurückgeschnitten“, erklärte Chefredakteur Dieter Stein jüngst in der konservativen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (JF 43/10 S. 1). Doch stimmt es, daß durch Volksabstimmungen die Politik vernünftiger wird?
Die schrittweise Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems zugunsten einer Einheitsschule, ein Wunschprojekt linker Schulreformer und vom schwarz-grünen Senat bereits in Angriff genommen, scheiterte kläglich an einem demokratischem Volksentscheid gegen die Koalition aller im Hamburger Parlament vertretenen Parteien. Das Weltbild so mancher Linker geriet damit ins Schwanken. Nachdem schon die Schweizer ihre vielgelobte direkte Demokratie dazu „mißbraucht“ hatten, der Islamisierung ihres Landes ein kräftiges Nein entgegenzusetzen, widerstand nun das Hamburger Wahlvolk der egalitären Nivellierung ihrer Schulausbildung entschlossen. In Bayern jedoch triumphierte die von einem Egomanen angestiftete Rauchverbotskampagne. Statt eines vernünftigen Ausgleichs zwischen Nichtrauchern und Rauchern obsiegte hier die Intoleranz. Und erinnern wir uns an die Abstimmung in Irland, wo das Volk, nachdem es sich in erster Wahl gegen die neue EU-Verfassung ausgesprochen hatte, wegen dieser „Unbotmäßigkeit“ „nachsitzen“ mußte. Die Iren schritten noch einmal zu den Urnen, um diesmal wunschgemäß abzustimmen. Es besteht wohl kein Zweifel: Hätte das irische Volk wieder falsch abgestimmt, hätte es so lange wählen müssen, bis endlich das richtige Ergebnis zustande gekommen wäre. In Kalifornien machte es sich die politische Klasse einfacher: Das direkte demokratische Nein zur Homo-Ehe wurde per Gerichtsurteil als nicht erlaubt außer Kraft gesetzt. Und Eurokraten erwägen jetzt, ob das politisch unkorrekte Wahlverhalten der Schweizer nicht als unvereinbar mit den Grundsätzen der EU annulliert werden könnte.
Fragen wir nach den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der direkten Demokratie und danach, mit welchem Recht von einem Mißbrauch zu sprechen ist. Direkte Demokratie ist die unmittelbare Gestaltung der Politik, also die Entscheidung über bestimmte Gesetze, durch das Volk unter Ausschaltung aller Vermittlungsinstanzen. Das Unmittelbare ist eine allgemeine romantische Vorstellung: die unmittelbare Erfahrung statt der reflektierenden Einsicht in der Philosophie, das Natürliche statt des Schulmäßigen, Regelhaften im Bereich der Kunst. In der Politik sollen nach romantischem Verständnis die Institutionen ausgeschaltet werden, um einem direkt vom Volk gewählten Herrscher das Regierungsamt zu übergeben, der im unmittelbaren Einklang mit der Gesamtheit steht. Es sieht fast so aus, als solle der Staat als politische Organisationsform zugunsten einer unmittelbaren Einheit von Volk und demokratisch gewähltem Herrscher ausgeschaltet werden.
Dem Freund von Wildwestfilmen ist das Prinzip bekannt. Eine aufgewühlte Volksmenge ruft: „Hängt den Mörder!“ Die Lynchjustiz, Negativbeispiel jeder Basisdemokratie, bahnt sich an. Doch der positive Held ist nicht fern und rettet den Unschuldigen vor dem Strick. Ein ordentlicher Gerichtsprozess stellt die Wahrheit noch rechtzeitig fest. Doch das ist Hollywood – oder Jean-Jacques Rousseau. Es ist der Glaube an das natürliche Gute im Menschen, der, wenn er aus der kulturellen Entfremdung der Institutionen befreit ist, ganz von selbst vernünftig und richtig entscheiden wird. Der Mensch weiß demnach unmittelbar, was für ihn und seinen Nächsten gut ist, und auf diese Weise werde sich in der unmittelbaren Volksherrschaft das allgemein Richtige realisieren.
Doch wenden wir uns der konkreten Situation in Deutschland zu. Wieviel Prozent der Wahlberechtigten würden mit Ja votieren, wenn die zur Volksabstimmung gestellte Frage zum Beispiel lautete: Sind Sie für ein generelles Versammlungsverbot rechter Organisationen? Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß eine seit Jahrzehnten durch riesige Anti-Rechts-Kampagnen indoktrinierte Bevölkerung in diesem Fall mit Ja stimmen würde.
Im Kleinen ist das im demokratischen Staat Deutschland bereits zur Routine geworden. Wenn rechten Gruppierungen Kundgebungen gerichtlich erlaubt werden, versuchen sogenannte Antifaschisten aus linken und teilweise auch aus bürgerlichen Kreisen, diese Veranstaltungen mit Gewalt, etwa durch Sitzblockaden, zu verhindern. Daß dadurch das Demonstrationsrecht eingeschränkt wird, macht sogar dem Extremismus-Spezialisten der SPD und „Endstation-rechts“-Betreiber Mathias Brodkorb neuerdings Sorge1. Im Gegensatz dazu erblicken linksradikale Basisdemokraten gerade hier einen Triumph der direkten Demokratie: Das Volk bestimmt unmittelbar, wer sich versammeln darf und wer nicht! Nicht Gesetze, Paragraphen, staatliche Institutionen, sondern der unmittelbare Volkswille artikuliert sich, wenn Wolfgang Thierse auf der Straße sitzt.
Was ist also mit der direkten Demokratie, wenn das Volk sich selbst vergessen hat, wenn es sich selbst so entfremdet ist, daß es seine eigenen Interessen nicht mehr kennt?
Das grundlegende Problem besteht darin, daß das deutsche Volk im nationalen Lager seine Partei nicht mehr erkennt. Wir begegnen hier einem Grundproblem aller avantgardistischen Politikansätze. Unter „avantgardistisch“ ist zu verstehen, wenn eine politische Partei das objektive Interesse einer Gemeinschaft vertritt, das (noch) nicht identisch ist mit dem, was die Mehrheit subjektiv dafür erachtet. Die etablierten Parteien sagen, was ihre potentiellen Wähler hören wollen. Ihre Abneigung gegen die direkte Demokratie hat ihren Grund darin, daß solche Parteien nach der Wahl ungern an ihre Wahlversprechen erinnert werden möchten, um losgelöst davon regieren zu können. Avantgardistische Parteien dagegen, die sich an dem objektiven Interesse des Volkes orientieren, stehen vor einem Vermittlungsproblem: Wie vermitteln wir, daß das, was die Partei sagt, dem objektiven Interesse des Volkes dient? Rechtspopulisten setzen hingegen auf Augenblicksstimmungen im Volke, um sich als deren Sprachrohr zu profilieren – allerdings immer nur kurzfristig.
Die Triumphe direkter Demokratie sind demnach etwas sehr Ambivalentes, da sich in ihnen Augenblicksstimmungen manifestieren, die nicht identisch sein müssen mit dem, was dem Volke als Ganzes Not tut. Die Kunst der „Avantgarde“ besteht darin, einen Mittelweg zwischen elitärer Volksverachtung und einem anbiedernden Populismus zu finden, dem die Stimmungen im Volk zur höchsten Richtschnur geworden sind. Die Stimme des deutschen Volkes ist nicht unbedingt identisch mit den demoskopisch ermittelten Einstellungen von repräsentativ Ausgesuchten und Befragten. Die Stimme des deutschen Volkes ist die Artikulation des deutschen Volkstums, das sich die berühmte Frage Heideggers stellt: Wollen wir noch Deutsche sein? Es ist nicht die basisdemokratisch sich artikulierende Stimme des Plebs, die gestern „Hosianna!“ ruft und morgen „Kreuziget ihn!“.
Geistesgeschichtliche Voraussetzung der direkten Demokratie ist neben einem romantischen Antiinstitutionalismus, der sich gegen die anthropologischen Einsichten Arnold Gehlens richtet, auch der Verlust der Vorstellung, daß das Volk als Volkstum als eigenständige Größe nicht einfach identisch ist mit den Meinungen und Vorstellungen der Bürger eines Volkes. Der Gedanke des Volkes, das sich seiner selbst als Nation und Subjekt der Geschichte erst bewußt werden muß, taucht schon in Fichtes „Reden an die Deutsche Nation“ auf. Es ist heute ersetzt durch die Summe der Wahlberechtigten, die im Idealfall direkt ihren Willen artikulieren, so daß der ausgezählte Mehrheitswille als Volkswille gilt. Die Vorstellung der direkten Demokratie setzt somit die Auflösung des Volkes als Substanz schon voraus. Das macht die Ambivalenz der direkten Demokratie aus nationaler Sicht aus. In ihr kann sich eine Abneigung gegen die etablierte Politik der herrschenden Parteien äußern, aber auch Ressentiments gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen – heute gegen die Raucher und morgen vielleicht schon gegen „die Rechten“.
1 Vgl.: taz, 24./25. Juli 2010, S. 5.