Einem geschulten Beobachter muß der Gegensatz zwischen folgenden, zeitlich weit voneinander entfernten Ereignissen auffallen, nämlich zwischen der gerade beendeten Rußlandreise der deutschen Kanzlerin und einem Zwischenfall, der sich 1966 während einer Veranstaltung zu Ehren des bereits ausgeschiedenen deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Israel abgespielt hat.
Die Kanzlerin eilte nach Rußland, um der Gedenkfeier zum Sieg der Rotarmisten gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zuzujubeln. Dabei bedankte Merkel sich bei den je nachdem betretenen oder belustigten russischen Nationalisten, daß Stalins Streitkräfte den Deutschen die Güte erwiesen hatten, sie vom faschistischen Zauberbann zu „befreien“. Für die Kanzlerin war dies kein Anlaß zu erwähnen, daß die vordringenden Russen eine Million deutscher Frauen und Mädchen vergewaltigt sowie Zivilisten ermordet oder in die sowjetischen Konzentrationslager verschleppt haben. Noch weniger wollte Merkel auf die Zwangsherrschaft aufmerksam machen, die die Russen über Ost- und Mitteldeutsche verhängten. Sie reiste nach Moskau, um einer Scheinbefreiung zu huldigen, die ihre kommunistisch gesinnte Familie damals überglücklich begrüßt hatte. Nach diesem aus Zerknirschtheit und Dankbarkeit gemischten Ritus kehrte Merkel unter dem rauschenden Beifall der antinationalen Medien in die Heimat der Selbstgeißelung zurück.
Im Gegensatz dazu geriet Adenauer, genannt „der Alte“, in Wut, nachdem ein israelischer Amtsträger auf einer Gedenkveranstaltung die Ehre seiner Nation gekränkt hatte. Als die beiden beim Essen ins Gespräch kamen, erkundigte sich der Israeli, was die Deutschen weiterhin vorhätten, um der übrigen Welt die erwartete Bußfertigkeit zu beweisen. Die Frage brachte Adenauer in solchem Maß auf, daß er ergrimmt von seinem Stuhl aufstand und seinem Gesprächspartner barsch entgegnete, er sei keineswegs hergekommen, um die Erniedrigung der deutschen Nation mitanzusehen. Überflüssig hinzuzusetzen, daß niemand außer einigen böswilligen Intellektuellen Adenauer als Nazi-Sympathisanten bezeichnete. Seine harte Opposition gegen das Hitlerreich sowie die früher gegen die preußische Regierung in dem vorwiegend katholischen Rheinland vorgebrachten Ausfälle hatten seine Haltung hinreichend bewiesen. Abwegig ist auch die Einstufung Adenauers als Deutschnationalen, da er nach dem Ersten Weltkrieg auf eine Lostrennung seines rheinischen Heimatlandes vom Deutschen Reich hingearbeitet hatte. Adenauer ist sogar so weit gegangen, sich mit den Franzosen zu verbünden, um sein sezessionistisches Ziel zu erreichen.
Trotzdem fühlte er sich in der Nachkriegszeit als deutscher Staatschef verpflichtet, die Ehre seiner Mitbürger als Deutsche zu beschützen. Und als Mitleidender in zwei katastrophalen Kriegen wollte er sich die Verbundenheit mit seinem Volk nicht nehmen lassen, auch wenn er als Kanzler zu der Aufgabe verpflichtet war, über das Geschick seiner geschlagenen Nation mit den Besatzern zu verhandeln. Wie sehr die Gegner ihm auch einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Amerikanern vorgehalten haben mögen, was laut Kurt Schumacher die deutsche Wiedervereinigung verhinderte, an der deutschfreundlichen Einstellung Adenauers ist dennoch nicht zu zweifeln. Es gibt also keinen Anlaß zu der Vermutung, daß Adenauer Merkel den Weg dazu gewiesen hätte, die Deutschen zu einem minderwertigen Volk herabzustufen oder die Vergewaltiger und Zerstörer seines Landes als „Befreier“ zu bejubeln.
Sicher hätten auch seine Wähler es übel vermerkt, wenn der damalige Kanzler seine Heimat als minderwertig behandelt hätte. Desto rascher hätten sie ihn abgelöst und womöglich in ein Irrenhaus eingewiesen, wenn er Stalins wahllos mordende, frauenschändende Scharen als heldenhafte Befreier tituliert hätte. Um den kulturellen Abstand von dem heutigen antinationalen Mitteleuropa und der Lebenswelt der Nachkriegszeit (geschweige denn der Kaiserzeit) einzuschätzen, muß man solchen gegensätzlichen Erwartungshaltungen genauestens nachgehen.
Diese unterschiedliche Einstellung weist auf die Umerziehung hin, der die ratlosen, unterlegenen Deutschen und in geringerem Umfang die besetzten Österreicher in den Nachkriegsjahren ausgesetzt waren. Caspar von Schrenck-Notzing zeigt in seinem Buch „Charakterwäsche“ den vollen Umfang der zielgerichteten „antifaschistischen“ Propaganda. Mit Hilfe brachialer Gewalt von seiten des reformfreundlichen Militärs haben die überwiegend kulturmarxistischen Umerzieher sich tatkräftig durchgesetzt. Zugewiesen wurden ihnen die Überwachung von Zeitungen, Druckereien, Lehranstalten, und Funknetzen sowie die Steuerung von gefügigen nationalen Parteien zur Willensbildung einer „demokratischen“ Bevölkerung. Schrenck-Notzing stellte fest, daß sich wegen der großangelegten sozialen Umformung von Ende der 40er bis Anfang der 50er Jahre die „Gehirnwäsche“ generationenübergreifend auswirkte.
Hinzu kommt, daß der Umerziehungsplan einer Zeitströmung entsprach, die überall im Westen und insbesondere in den USA stark durchschlug. Dabei handelt es sich um eine plötzliche Auflösung des hergebrachten Gemeinwesens und des familiären Zusammenhalts; ein Vorgang, bei dem die neuerungssüchtigen Amerikaner führend waren. So stellt der Soziologe Robert Nisbet schon 1953 in seiner Studie „The Quest for Community“ unter Beweis, daß die amerikanische Gesellschaft sich so weit von den traditionellen Fixpunkten abgekoppelt hatte, daß sie Gefahr lief, zu einer bürokratischen Diktatur zu werden. Obwohl die heraufkommende Staatsbürokratie als Brücke zu einer neuen Gemeinschaftlichkeit hochstilisiert wurde, sah sie sich gezwungen, im Sinne eines gutgemeinten Gleichheitsstrebens den menschlichen Austausch gleichzuschalten und zu überwachen. Überraschenderweise kann Nisbet mit einer Fülle von Daten belegen, wie die USA mit ihrer „übermächtigen scheindemokratischen Beamtenregierung“ auf „eine hochzentralisierte Diktatur“ zusteuern. Sonderbarerweise eilten die Amerikaner dem gleichen Zersetzungsprozeß entgegen, den sie den Deutschen als Umerzieher aufzwingen wollen. Sie verweigern sich der Einsicht, so Nisbet und andere, daß ihr Modernisierungsansatz bereits ausufert. An dieser Zeittendenz geht die amerikanische Gesellschaft innerlich zugrunde.
Wegen der Machtstellung der kulturmarxistischen Linken geht auch die Erkenntnis unter, daß bereits die Mitte des letzten Jahrhunderts von einer rapiden demographischen und sozialen Verschiebung gekennzeichnet war. Die Sozialhistoriker Allan Carlson und Alan J. Levine haben in ihrer Publikation das Tempo des Wandels in den 50er Jahren in den USA beschrieben. Schon am Vorabend der Bürgerrechtsbewegung für Schwarze in den 60ern und des Aufscheinens einer linken Gegenkultur findet man eine beschleunigte Strömung der Bevölkerung aus den Dörfern in die nahe gelegenen Großstädte. Die Verstädterung der amerikanischen Einwohner, die Auflockerung von traditionellen Haltungen zu Familien- und Geschlechtsfragen und das Aufkommen der heutzutage geheiligten und staatlich festgeschriebenen Menschenrechtsvorstellungen mit einer entsprechenden Aufweichung des christlichen Glaubens waren allesamt bereits in dieser Zeit zu erkennen. Es ist reines Blendwerk, die amerikanische Nachkriegszeit als „reaktionär“ zu schildern; das gilt ebenso für die deutschen Antinationalen, die den relativ fortschrittlichen Kaiser Wilhelm und seine bürgerliche Moderne zu einer Vorstufe für das Dritte Reich umbiegen. Das als „McCarthy-Ära“ bezeichnete und oft belächelte Jahrzehnt bildet eine Brücke zur nachfolgenden Jugendrevolte.
Die damals als „Conservatism“ auftretende Ideologie wollte nach allgemeiner Vorstellung vor einem Vormarsch der sowjetischen Streitkräfte und einer kommunistischen Machterweiterung warnen. Andere Themen läßt man hingegen völlig beiseite. Der Historiker George Nash stellt jetzt erst den vollen Umfang der Anliegen der damals aufstrebenden Rechten dar. Sie beschäftigte sich ebenso engagiert mit der Verkommenheit des Sozialgefüges wie mit dem Vordringen der sowjetischen Armeen in Mitteleuropa. Dem Antikommunismus und zuletzt dem McCarthyismus wandte sie sich nicht zuletzt deshalb zu, um eine Wiedergeburt der amerikanischen Solidarität und eine Rückkehr zur Bürgerlichkeit zu einzuleiten.
Die antikommunistische Rechte ging ins Gericht mit den Ministerien, die damals von kommunistischen Agenten durchsetzt waren, und mit der Demokratischen Partei, die den Spitzeldiensten offenbar den Weg geebnet hatten. Ebenso störend aber war die heraufziehende Dekadenz, die Bildung und Künste schon angesteckt hatte und der Widerstandskraft gegen den kommunistischen Fremdeinfluß abträglich war. In der Abwehr dagegen sind viele konservative Prominente zum Katholizismus übergetreten. In der katholischen Kirche erblickten sie eine Einrichtung, die die Bewahrung der Obrigkeit mit einer antikommunistischen Weltsicht verband. Auch heute wechseln die an den Rand gedrängten Angehörigen der amerikanischen „Altrechten“ aus ihrer protestantischen Geburtsreligion zur römischen Kirche über. Wie die deutschen Romantiker im frühen 19. Jahrhundert sehen sie die Kirche als festes Bollwerk gegen die anbrandenden Zerstörungskräfte der Gegenwart an.
Allerdings fehlte diesem politischen Lager eine feste Basis, die ihm eine generationenübergreifende Dauerhaftigkeit hätte verleihen können. Aus Ermangelung eines Besseren musste sie sich mit wackligen Stützpunkten behelfen. Die katholische Arbeiterklasse in den nördlichen Großstädten, die Weißen in den Südstaaten und die schon dahinschwindende Anti-New-Deal-Bewegung, vorwiegend protestantische Rechte, haben kurz- oder mittelfristig diesem Zweck gedient. Letztendlich aber mußte sich die antikommunistische, konservative Bewegung dem Auftrag stellen, eine eigene, ideologisch gebundene Gefolgschaft aufzubauen. Je weniger sie auf eine Partei der Mitte auf die Dauer angewiesen bleiben konnte, umso stärker wurde es notwendig, sich einen eigenen Daseinsgrund zu geben. Sonst würde sie sich damit begnügen müssen, als Anhängsel der Republikanischen Partei zu gelten.
Daher ist der Wertkonservatismus nach amerikanischem Muster eine Entwicklung, die weder auf einer Volksgruppe, noch auf einer bestimmten sozialen Schicht basiert, sondern auf einem Bündel bestimmter bevorzugter Standpunkte. Daraus erklärt sich auch, weshalb die darauf aufgebaute Wertorientierung und die „conservative movement“ nach links abgedriftet sind. Als der Zeitgeist und die willensbildenden Großparteien in diese Richtung steuerten, mußte sich zeigen, daß der „konservativen“ Bewegung die notwendige Basis fehlte, um als Machtfaktor in den politischen Kampf einzugreifen. Wegen ihrer relativen Machtlosigkeit übersteht sie den Zeitwandel nur als Trittbrettfahrer.*
Erwähnenswert ist, daß die Konservativen nach den 1950er Jahren auf die Republikaner keinen bedeutenden Einfluß mehr ausgeübt haben. Das gilt insbesondere auch für die Reagan-Regierung, die die sogenannten „Knallharten“ beiseiteschob und den Aufstieg der Neokonservativen forcierte. Jedem Versuch seitens der Reagan-Regierung, einen Altkonservativen in eine wichtige staatliche Stelle zu bringen, setzte sich die neokonservative Presse, allen voran das „Wall Street Journal“, demonstrativ entgegen. Die Diffamierung wurde so heftig, daß die Regierung die Avisierten bei der Besetzung von Amtsstellen gegen ihre Überzeugung übergehen mußte. Die „konservative“ Politik des George W. Bush tastet die neokonservative Machtstellung, die schon in den Reagan-Jahren errungen wurde, nicht an. Die damalige „konservative Kampfposition“ besteht aus einer Zustimmung zu der in den 60er Jahren durchgepeitschten bürgerrechtlichen und immigrationsfreundlichen Gesetzgebung; kombiniert mit einer streitbaren Außenpolitik, die darauf abzielt, Israel vor seinen Feinden zu beschützen. Die einzige als „konservativ“ eingeordnete Gruppierung, die eine Kontinuität mit einer älteren Rechtstradition bewahrt, sind die Libertären um Ron Paul. Obwohl sie wegen ihrer individualistischen Ausrichtung mitnichten in ein hergebrachtes europäisches konservatives Raster passen, stehen sie mit einer in den USA seit langem gedeihenden Kritik am Wohlfahrtsstaat in vollem Einklang. Ihre antizentralistische und antisozialistische Stellung sowie ihr Widerstand gegen Auslandseinsätze attestieren dieser Bewegung typisch amerikanische, bodenständige Wurzeln.
Was hierzulande rechts der Mitte geschah, hat sich in Deutschland und generell in Mitteleuropa in noch rascherem Tempo ereignet. Es ist nicht nur zu berücksichtigen, daß die Besatzer den Geschlagenen ihre Gesinnung eingehämmert haben. Ebenso relevant ist, daß die Deutschen nach dem Krieg nicht auf die Aufgabe eingerichtet waren, ihren durch das Hitlerreich und die nachfolgende Umerziehung entwerteten Bezugsrahmen wieder herzustellen. Nach dem Verlust der Monarchie und einem harten Angriff auf die geschichtliche Nation und eine schon meist ausgehöhlte Obrigkeitsstruktur sowie nach dem Siegeszug der Achtundsechziger durch die kulturtragenden Institutionen, war es nicht mehr tunlich, einen Aufruf an ein von alters her überliefertes Volk zu richten. Die Sachlage erschwerend, muss jeder Rechtsstehende mit einer wirkungsmächtigen Linken rechnen, die zum Angriff übergeht, sobald sie dem noch nicht Gleichgeschalteten auf die Spur kommt. Nichtlinke müssen ständig fürchten, den schlummernden Riesen aufzuwecken, und während der letzten vierzig Jahre sind die Unionsparteien ängstlich bestrebt, diese Bestie zu beruhigen.
In dieser historischen Lage fiel es den deutschen Konservativen schwer, einen Wertkonservatismus „made in America“ zu erarbeiten. Sie distanzierten sich von der Tradition der „Konservativen Revolution“ und orientierten sich ausschließlich am amerikanischen Vorbild. Was herauskam, wurde abfällig als „kupierter Konservatismus“ oder „American conservatism light“ bezeichnet.
Die Zeithistoriker Karlheinz Weißmann und Caspar von Schrenck-Notzing erklären in aller Deutlichkeit, daß der Versuch, einen politischen Konservatismus ins Leben zu rufen, in Ermangelung einer nationalen und obrigkeitsbewußten Tradition, die in Deutschland absichtlich zerstört worden ist, vergeblich sein muß.
Das Beste, was die Deutschen in dieser Richtung leisteten, besteht aus der in den 60er Jahren entstandenen Denkschule des Hegel-Fachmanns und langjährigen Münsteraner Professors Joachim Ritter (1903–1974). Zu den Schülern von Ritter zählen Prominente wie Martin Kriele, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Günter Rohrmoser und Robert Spaemann. Nachdem Ritter in der NS-Zeit dem Regime nahegestanden hatte, gestand der Gelehrte nach dem Krieg seine „bedauerliche Entgleisung“ ein. Daraufhin widmete er seine Laufbahn der Verteidigung der Westbindung und der „liberaldemokratischen“ Bundesrepublik sowie der Forschung über Hegels Rechtsphilosophie und Aristoteles’ Begriff des Glücks. Seine Anpassung ist so weit geglückt, daß Ritter während der 60er Jahre für das geisteswissenschaftliche Ressort der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Mittwochsbeilage) verantwortlich zeichnete. Während der letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens gehörte Ritter zum Inventar der CDU/CSU.
Seine Studenten haben bestimmte Schwerpunkte weiter ausgearbeitet; sie hielten an einer liberaldemokratischen Ausrichtung fest, die als Konservatismus gedeutet wird, beschäftigten sich mit christlichen Prinzipien, insoweit sie mit einer demokratischen Wertbindung zu vereinbaren sind, und rangen hart mit den Achtundsechzigern, die als Gegner der bürgerlichen Mitte angeprangert werden.
Die Religion gilt in diesem Zusammenhang als schmückendes Beiwerk, das die demokratische Bürgerlichkeit ergänzen oder, wie im Fall des Sozialdemokraten Böckenförde, als Ergänzung einer links der Mitte stehenden Regierung dienen sollte.
Als praktischer Ersatz für eine traditionsbewusste Weltanschauung diente der Antikommunismus, ein Sammlungspunkt, um den sich bestimmte deutsche Intellektuelle in den 50er und 60er Jahren geschart hatten. Zu diesen Leitfiguren gehören die deutschjüdischen Journalisten William S. Schlamm und Richard Löwenthal, die sich wegen ihres Protests gegen die sowjetische Besatzung Osteuropas und die Freiheitsbeschneidung in der DDR die Wut der Linken zugezogen hatten. Es bleibt allerdings offen, in welchem Maße dieser ausgeprägte Widerstand gegen die Tyrannei mit einem politischen Konservatismus gleichzusetzen ist. Hochprofilierte Deutschnationale, inklusive Wilhelm Stapel, Carl Schmitt und Arnold Gehlen, haben einen anderen Kurs eingeschlagen und eine „amerikahörige“ Westbindung abgelehnt. Sie befürchteten, daß die Deutschen aus einer geschürten Angst vor den Sowjets heraus noch mehr unter die amerikanische Kuratel geraten würden. Bemerkenswert ist dabei, daß nicht alle deutschen Konservativen auf derselben antikommunistischen Linie standen.
Die „kupierte Alternative“, die Frank-Lothar Kroll in einer diesbezüglichen Abhandlung hervorhebt, ist die fehlende oder schwindende Berufung auf eine historisch gewachsene Nation, ein Begriff, der in Ritters Rechtsordnung nicht zu finden ist. Im Gegensatz zu Gelehrten wie Bernard Willms und Weißmann, die dem rechten Rande des Spektrums zugeordnet werden, hantieren Ritter und seine Nachfolger mit Wertbegriffen, die von jedem völkisch-nationalen Inhalt losgelöst sind. Festzustellen ist auch ihre Abhängigkeit vom Kalten Krieg, der den Widerspruch zwischen demokratischen und totalitären Wertvorstellungen in den Vordergrund stellte. Die Ablösung von diesem Szenario verleiht heute der Ritter-Schule ein veraltetes Aussehen. Ein weitblickender Zeitkritiker wie Schrenck-Notzing stellte in den 80er Jahren fest, daß es auf lange Sicht nicht helfen werde, der Kohl-Regierung einen neuen Wertkonservatismus zu empfehlen. Ohne eine lebendige deutsche Nation, so Schrenck-Notzing, bedeuteten die Werte nicht mehr als leere Abstrakta oder flüchtige Wahlparolen.
Im Sommer 2008 erregte Angela Merkel im Verlauf einer Wahlreise bei einem Auftritt in Münster mit ihrer Weigerung, die religiös-sittlichen Grundfesten der Christdemokraten zu erwähnen, bei den Wertkonservativen Anstoß. Stattdessen verweilte die Kanzlerin bei der Gleichheit der Frauen und bei sonstigen Modethemen des linken Flügels ihrer Koalition.
Dazu zwei ergänzende Betrachtungen: Erstens nahmen viele Wertkonservative die versäumte Gelegenheit, die Werte zu betonen, ziemlich nachsichtig hin und gaben Merkels Partei trotzdem Rückendeckung. Dabei siegte die Gewohnheit über den Abscheu, obwohl andere Parteien rechts der Mitte angetreten waren. Zweitens hätte es nichts Wesentliches verändert, wenn Merkel in ihre vorgefertigten Sätze einige Hinweise auf „christliche Werte“ eingestreut hätte. Das würde die Union bestimmt nicht daran hindern, im Fahrwasser der zeitgeistigen Medien zu schwimmen.
In den USA scheut die republikanische Führungsschicht sich nicht, den Wahlspruch „family values“ auf ihre Fahne zu schreiben. Das bedeutet keineswegs, daß sie bereit ist, entsprechende politische Weichen zu stellen, auch wenn sie vom Wähler herrlich belohnt werden. Das Hofieren der Traditionalisten kostet nicht mehr als kleine Zugeständnisse, etwa die Streichung von Haushaltsgeldern, die für staatlich finanzierte Abtreibungen oder Stammzellenforschung vorgesehen sind.
Die Konkurrenzpartei wird die gestrichenen Gelder ohnehin wieder genehmigen, sobald sie erneut handlungsberechtigt ist. Zu einem einschneidenden Kurswechsel jedenfalls wird die Zauberformel von den „Werten“ auf einer Parteiveranstaltung nicht führen, umso weniger, wenn die Mächteverhältnisse das nicht erfordern. Es ist daher überfällig, auf den Unterschied zwischen Wunschdenken und gegenwärtiger Realität hinzuweisen. Ohne einen echten Platz im Leben sind die „Werte“ nur als Begleitmusik
für Wahlkämpfe gut.