Einleitend möchte der Verfasser bekennen, daß es ihm nicht selbstverständlich ist, sich zur Lage in Afghanistan zu äußern. Er ist seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Folglich besitzt er keine Detailkenntnisse bei Themen, die lange die Medien beherrschten – etwa der Angriff auf Tanklastwagen bei Kunduz oder die Frage, ob die ISAF in Afghanistan mehr Kampfpanzer braucht.
Andererseits ist der Verfasser 1952 mit dem Fahrrad durch die Länder jener Region zum Studium nach Indien gefahren und 1954 auf dem Rückweg mit dem Pferd von Pakistan durch Afghanistan geritten. 1962 war er wochenlang in den Nomadengebieten Persiens mit dem Pferd und in den 1990er Jahren mehrmals mit dem PKW in jenen Ländern unterwegs. Er hat demnach mehrfach viele Wochen lang täglich mit Menschen plaudern können, die oft kaum jemals einen Europäer gesehen hatten, und sich so etwas in das Denken jener Menschen einfühlen können. Kenntnisse des Korans und der Geschichte jener Länder treten hinzu. Er glaubt deshalb, über Kenntnisse zu verfügen, die erlauben, tiefer zu schürfen, als es denjenigen möglich ist, die nur die aktuelle Lage kennen.
Damit zum Thema. Nach neun Jahren setzt sich endlich die Einsicht durch, daß in Afghanistan eine andere strategy, also eine andere Taktik und andere Kriegsziele notwendig sind. Das wirft die Frage auf, welche Fehler neun Jahre lang begangen wurden und was mehr Erfolg verspricht.
Landauf und landab sagt man nun, mehr Aufbauhilfe, weniger Ziviltote und wohl auch mehr Truppen seien notwendig. Ob das ausreicht, ist aber fraglich. Immerhin ist Afghanistan nur eines der Länder, in denen der Westen Probleme hat, und viele westliche Länder haben sogar Probleme mit Moslems im eigenen Lande. Also müssen wir wohl weit über Afghanistan hinausblicken, weil wir sonst nicht einmal die dortigen Probleme lösen können. Dabei sollten wir beachten, daß schon Friedrich der Große forderte, „vom Feinde her“ zu judizieren, also das eigene Tun auch aus Sicht des Gegners zu betrachten. Tun wir das, so ergibt sich eine neue Sichtweise.
Beispiel:
-Seit 500 v. Chr. gibt es in heute moslemischen Ländern jüdische und seit fast 2.000 Jahren christliche Gemeinden. Erst jetzt wurden sie vertrieben oder sind gefährdet.
-Als Mehmet II. 1453 Byzanz eroberte, begegnete er dort der orthodoxen Kirche, dem Patriarchen und den ihnen von christlichen Kaisern verliehenen Rechten. Er bestätigte alle diese Rechte, und der Patriarch residiert noch heute in Istanbul.
-Exakt in jenen Jahren aber haben Christen alle Moslems und Juden aus Spanien sowie Süditalien vertrieben, und auch die Juden wurden in moslemischen Ländern aufgenommen.
Der angeblich zum Radikalismus neigende Islam war also lange unendlich duldsamer als die Christen. Dennoch wird heute bei uns selten gefragt, wann und warum sich Teile des Islams radikalisierten. Die Antwort ist unbequem: Die Radikalisierung begann vor etwa 150 Jahren mit der Behauptung christlicher Länder, sie müßten die Christen im Osmanischen (türkischen) Reich, also im späteren Rumänien, Albanien, Bulgarien sowie Armenien schützen und unter diesem Vorwand dort Unruhen schürten. Heute sehen die Moslems, daß die gleichen Mächte nur statt des Kreuzes Freiheit und Menschenrechte auf ihre Fahnen schreiben. Wir können das anders als die Moslems bewerten. Aber wer vom Feinde her judiziert, muß wissen, wie sie unser Tun deuten. Sonst werden wir kaum begreifen, warum sich Moslems gegen „den Westen“ wehren.
Die Politiker sagen uns, wir verteidigten die Menschenrechte und die Freiheit des Individuums am Hindukusch. Aber wiederum ergibt sich ein anderes Bild, wenn wir das aus moslemischer Sicht betrachten.
Zur Freiheit: Schon Ernst Jünger urteilte, je mehr einer von Freiheit rede, desto näher sei der Terror. Das zeigte sich schon in der Französischen Revolution, als liberté auf allen Lippen war – und mit der Guillotine verwirklicht wurde. Skeptisch beurteilt heute Peter Sloterdijk die Rolle der Freiheit, also ein Philosoph, der in aller Munde ist. Schließlich ist es mit der Freiheit derjenigen, die als „rechts“ beurteilt werden, bei uns nicht gut bestellt. Also sollten wir fragen, ob unser eigenes Haus wenigstens so weit in Ordnung ist, daß wir unsere Freiheit anderen Völkern sogar mit Waffengewalt bringen dürfen. Schon Goethe mahnte: „Ein jeder kehre vor seiner Tür – Und rein ist jedes Stadtquartier.“
Gehen wir diesem Gedanken nach, so treffen wir bald auf einen Mahner. Alexis de Tocqueville wird oft als Vorkämpfer und Prophet der Demokratie gerühmt. Aber kaum jemand zitiert, was er vor 170 Jahren in seiner Studie „La démocracie en Amérique“ zur Meinungsfreiheit gesagt hat. Er sagte voraus, es gäbe kaum einen Unterschied zwischen der Meinungsfreiheit in Tyranneien und Demokratien. Der einzige Unterschied: Der Tyrann tötet Abweichler physisch, in Demokratien tötet die vorherrschende Meinung beruflich und gesellschaftlich. Man kann das als übertrieben ansehen – oder aber als Voraussage von Fällen wie Hohmann, Sarrazin, Günzel, Eva Herman und vielen anderen.
Das verstärkt die Frage, ob wir in fernen Ländern als Missionare der Freiheit glaubwürdig sein können. Zwar fordern deutsche Politiker sogar in China mehr Meinungsfreiheit, doch das erlaubt die Frage, ob sie schon etwas von politischer Korrektheit und ihrer Wirkung in den Staaten des Westens gehört haben.
Weiterhin heißt es, wir müßten am Hindukusch die Menschenrechte durchsetzen. Das klingt gut und jeder wird sich freuen, wenn dort Mädchen zur Schule gehen können. Doch wiederum wird es schwierig, wenn wir tiefer graben. So baut und unterhält ein bewundernswerter deutscher Arzt, Dr. Erlös, mit privaten Spendengeldern in Afghanistan Mädchenschulen auch in Gebieten, die von Taliban beherrscht werden. Die lassen ihn ungestört – allerdings nur, solange sich diejenigen Truppen fernhalten, die angeblich Mädchenschulen erst bringen müssen.
Hinzu tritt die Frage, welche Menschenrechte wir durchsetzen wollen. Nicht nur Altbundeskanzler Helmut Schmidt urteilt, die Menschenrechte seien so vielfältig geworden, daß jeder sich aussuchen kann, welches Recht er auf seine eigene Fahne schreibt und, falls er will, als Waffe gegen Mißliebige nutzt.
So wird die Frage unausweichlich, was geschehen soll, wenn andere Kulturen die Menschenrechte anders definieren oder anders gewichten als wir. Geht man dieser Frage nach, so werden essentielle Unterschiede deutlich. Beispiel: Wenn in jenen Ländern ein junger Mann fragt, was seine Rechte und die Rechte anderer seien, ob also eine Tat berechtigt oder unberechtigt, gut oder schlecht sei, oder wenn er fragt, ob er mit seiner Freundin oder gar mit seinem Freund schlafen dürfe, so bekommt er vom Mullah, von den Großeltern, den Eltern, den Stammesältesten und von den Sagen und Liedern seines Volkes die gleiche Antwort. Das macht Gesetze und Regeln so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen; niemand braucht sie sich selbst zu geben.
Grundlegend anders ist es neuerdings im „Westen“. Hier wird fast alles „kritisch hinterfragt“, ist also frag-würdig geworden. Wenn ein junger Mann fragt, ob er mit einer Freundin, mit mehreren reihum oder gar mit seinen Freunden schlafen dürfe, bekommt er von Pfarrern, Großeltern, Medien und Lehrern meist unterschiedliche Antworten, sodaß er sich seine Regeln selbst setzen muß. Dabei ist wichtig, daß viele der heute üblichen Antworten seit uralten Zeiten jeden und noch unsere Väter angeekelt hätten. Sie ekeln in weniger „fortschrittlichen“ Ländern noch heute an – etwa die Selbstverständlichkeit der Abtreibung, die Ehe zwischen homosexuellen Männern oder lesbischen Frauen oder der Zusammenbruch der Familie, der dazu geführt hat, daß in manchen westlichen Staaten und in mehreren deutschen Bundesländern die meisten Kinder unehelich geboren werden und die in einer Ehe geborenen „Kuckuckskinder“ auf zehn Prozent geschätzt werden.
Das sind Ergebnisse der heutigen Definition von Freiheit und Menschenrechten, konkretisiert in der „Selbstbestimmung“, also der „Freiheit von Fremdbestimmung“ und damit auch von Tradition und religiösen Geboten. Sie sind den Moslems bei uns und in den moslemischen Ländern bekannt und werden von unseren Gegnern herausgestellt. Mithin sollten wir uns nicht wundern, wenn Moslems unsere Lebensweise ablehnen. Wir werden demnach in den jenen Ländern nur weiterkommen, wenn wir uns fragen, wie es auf die dortigen Menschen wirkt, wenn wir ihnen unsere neuartige Lebensweise bringen wollen, zudem mit B 52-Bombern, Soldatinnen, Drohnen sowie mit Folterkammern, die eine demokratische Regierung mindestens duldete, wenn nicht einrichten ließ.
Ein weiterer Hinweis: Unsere Politiker sprechen meist von „den“ Taliban und fragen kaum, ob es „die“ Taliban überhaupt gibt, oder ob uns Menschen aus unterschiedlichen Motiven entgegentreten. Eine Unterscheidung dürfte wichtig sein. Schon in beiden Weltkriegen hätten die Befürworter eines vernünftigen Friedens mehr Unterstützung gefunden und den Krieg vielleicht eher beenden können, wenn die Kriegsgegner sich nicht gegenseitig als Hunnen, Boches, jüdisch-bolschewistische Untermenschen oder die Japaner als „gelbe Affen“ pauschal kriminalisiert hätten.
Noch fragwürdiger ist es, von „den“ Irakern und Afghanen zu reden, denn ihre Staaten wurden von fremden Mächten geschaffen und sind multikulturell, multisprachlich, multireligiös sowie multiethnisch. Was aus solchen Staaten wird, sobald die Volksgruppen sprechen können, sehen wir fast täglich in Afrika und zeigten 1990 schon die Tschechoslowakei, die Sowjetunion und Jugoslawien. Zudem rumort es sogar in alten, scheinbar gefestigten Staaten, man braucht nur ins Baskenland und Katalonien oder nach Belgien zu blicken.
Hieran läßt sich ermessen, welche Erfolgsaussichten das Bestreben hat, in Afghanistan eine Zentralregierung mit nennenswerten Befugnissen einzurichten. Zwar ist manch einer befriedigt, wenn er im Fernsehen sieht, wie Analphabeten Finger in Tinte tauchen. Aber Multi-Staaten und noch mehr Vielfach-Multistaaten können nur überleben, wenn sie mit der eisernen Faust eines Stalin bzw. Tito regiert werden oder aber wenn die Regierung über den vielen Gruppen und Grüppchen nur ein lockeres Dach bildet, das allen ihr Eigenleben läßt.
Hierzu ein Beispiel: 1954, Ritt durch Afghanistan. An einem der seltenen und mithin einsam gelegenen Polizeiposten lädt der Kommandant zum Tee ein. Auf dem Flur laute und erregte Unterhaltung, schließlich werden zwei Männer hereingelassen. Bald ergibt sich: dem einen ist der Bruder erschossen worden, auf der Brust des anderen ein durchbluteter Verband. Der Polizeioffizier läßt seine beiden Jeeps mitsamt aufmontiertem Maschinengewehr vorfahren – aber die Frage, ob er die Mörder zu finden hoffe, erregt Verwunderung. Dazu hat er keine Befugnis. Das Innenleben der Stämme sei deren Sache und auch Dispute zwischen Stämmen würden von deren Ältesten nach altüberlieferten Regeln gelöst. Seine Aufgabe sei erfüllt, wenn er die beiden zu ihren Familien zurückgebracht habe. Das illustriert, wie weit die afghanische Regierung damals, ebenso wie die Regierung des Irak bis etwa 1975, ein lockeres Dach war, das allen Gruppen und Grüppchen ihr Eigenleben ließ. Um heute in Afghanistan Erfolg zu haben, müssen wir wahrscheinlich bescheidener werden und die Ziele niedriger setzen, sogar wenn das Demokratie-Fundamentalisten mißfällt.
Damit zu der Frage: Was müssen wir tun? Keineswegs folgt, daß die „westlichen“ Truppen Afghanistan verlassen sollen, sei es auch nur, weil dann vermutlich dort das gleiche Gemetzel stattfinden würde, das dem Abzug der Franzosen aus Algerien und dem der Amerikaner aus Vietnam folgte.
Allerdings ist zweifelhaft, daß das deutsche Engagement in Afghanistan irgend jemand genutzt hat. Hierzu: 1954 wurde der Verfasser in Afghanistan öfters von Nomadenfamilien aufgefordert, am Abendgebet teilzunehmen. Er sei zwar ein Nasrani, ein Nazarener, also Christ. Aber sie wollten heute für Deutschland und seinen „Schah“ beten. Und 1962 ist der Verfasser mit einem Kameraden durch die Nomadengebiete Zentralpersiens geritten. Nach dem Ritt traf er in Teheran den Leiter der amerikanischen Entwicklungshilfe, also einen Mann, der Milliarden verteilte. Er urteilte, keiner seiner Leute und nicht einmal er selbst würde jemals die Erlaubnis zu einem solchen Ritt bekommen; das gestatte Persien nur Deutschen. Diese Beispiele, denen weitere aus neuerer Zeit angefügt werden könnten, zeigen, wie Deutschland früher im Iran und Afghanistan beurteilt wurde. Als von beiden Seiten geachteter Vermittler hätte die Bundesrepublik in Afghanistan wohl mehr genutzt; Kriegsteilnehmer gab es ohnehin genug. Zudem hat sie sich wohl selbst geschadet, da sie die in jenen Ländern verbreitete Auffassung bekräftigt hat, sie sei nur noch ein Anhängsel der USA und Israels. Doch das ist Geschichte. Die Bundesrepublik hat sich dort engagiert und auch dafür gab es Gründe. Mithin kann sie die anderen dort engagierten Staaten nicht im Stich lassen.
Unbestreitbar ist aber, daß die militärische und politische Führung umdenken, also Kultur, Fühlen und Denken der Menschen dort mehr berücksichtigen muß. Zur Illustration: Wenn man sich in jenen Ländern einem Dorf oder Nomadenlager näherte, so war es geboten, vorher kurz abzusitzen und Steine zu sammeln, denn die vielen Schäferhunde sind bissig. Das wird beobachtet, und wenn der Reiter näher kommt, so treten alle zurück. Nur die Ältesten bleiben und empfangen den Fremden, den, so lehrt der Islam, Allah gesandt hat, damit sie ihm durch den Gast Gutes tun können. Es folgt die Begrüßung gemäß uralten Riten: „Der Friede des Herrn sei mit dir – Der Friede des Herrn sei mit dir – Möge dein Pferd dich weit tragen – Der Herr lasse deine Herde wachsen.“ So geht es weiter und endet mit: „Komm und lasse dich nieder im Glanz meiner Augen, denn mehr habe ich nicht zu bieten.“
Den Gegensatz zeigen Fernsehberichte. Da kommt eine Streife in ein Dorf. Schokolade und Kaugummi für die Kinder, ein Schwatz per Dolmetscher hier, ein Schwätzchen dort – so ziehen sie von Haus zu Haus allmählich ein. Aber die Menschen dort denken und fühlen noch hierarchisch; folglich plaudern nur Proleten zuerst mit Kindern und „kleinen“ Leuten und lassen die ehrbaren Ältesten warten.
Noch bedenklicher: Das Fernsehen zeigte, wie afghanische Polizistinnen von „westlichen“ Polizistinnen am Maschinengewehr ausgebildet werden. Vor ihnen stehen Scheiben – das MG rattert – reihenweise fallen die „Pappkameraden“ um. „Hurra“ jubeln die Ausbildnerinnen. Noch unsere Väter hätten hier von „Flintenweibern“ gesprochen. Noch gewichtiger ist die Frage, ob es klug ist, die ohnehin schwierigen Aufgaben der ISAF, was sie auch sein mögen, noch zu erschweren, indem man dort ein sogar bei uns neuartiges Menschenbild einführt. Ob unsere Menschenrechts-Fundamentalisten solche Fragen wenigstens begreifen können?
Noch ein Beispiel: 1996 fragte in Pakistan ein Student den Verfasser nach Möglichkeiten, in Deutschland zu studieren. Zu jedem Vorschlag antwortete er, dazu müsse er seinen Bruder fragen. Daraus ergab sich, daß sein Vater tot war, und an dessen Stelle war selbstverständlich der älteste Bruder getreten. Wiederum: nichts von Selbstverwirklichung und Freiheit von Fremdbestimmung. Man verwirklicht sich, indem man das Selbstverständliche als Pflicht übernimmt. Dieses Lebensgefühl faßte Tagore, indischer Nobelpreisträger, in einem Gedichtlein zusammen: „Ich schlief und träumte / Das Leben wäre Freude / Ich erwachte und sah / Das Leben war Pflicht / Ich handelte und siehe / Die Pflicht war Freude.“
Hierzu als Arabeske: Das Rechtschreibprogramm des Schreibcomputers, auf dem dieser Aufsatz geschrieben wurde, protestierte bei unbekannten Worten – und „Pflicht“ ist ihm unbekannt. Das ist so zu werten wie die Bewegung des Zeigers in einem Instrument: Unwichtig, aber es verweist auf Wichtiges.
Über dem einzelnen steht in jenen Ländern die Familie, dann die Großfamilie, die Sippe, und schließlich der Stamm. Es ist bewegend, den Besuch eines Stammesführers zu erleben. Vieles erinnert an Beschreibungen der Bibel: Nur die Ältesten empfangen ihn – Handkuß – Segnung – Fußwaschen – ein Lamm wird geschlachtet –, und auch der Stammesführer hat sich an die überlieferten Gebote und Sitten zu halten. Über ihm bleibt für eine Zentralregierung wenig Raum, und sie wird abgelehnt, wenn sie sich in das Überlieferte, als selbstverständlich Empfundene einmischt. Wer die neue strategy der NATO festlegt, muß das einrechnen.
Aus alledem folgt konkret:
-Bei der Übertragung von Befugnissen an eine Zentralregierung und deren Armee, Polizei, Verwaltung und Justiz ist weitgehenste Zurückhaltung geboten.
-Die Gruppen und Grüppchen, dabei auch die Taliban und die sogenannten war lords, müssen wir als Verhandlungspartner akzeptieren. Dem steht entgegen, daß Taliban auch Verbrechen begangen haben. Doch wenn man einen Gegner nicht vernichten kann, aber Frieden will, muß man verhandeln. Mithin haben die Westmächte sogar mit Stalin und seinen Nachfolgern verhandelt. Es tritt hinzu, daß nach Ansicht der Taliban auch westliche Truppen Verbrechen begingen und begehen, so in Guántanamo und mit der Folterei.
-Hieraus ergibt sich die Frage, ob Taliban für uns Terroristen und Rebellen sind oder gleichwertige Gegner sein können. Für beides gibt es Gründe. Sie selbst sehen sich nicht als Rebellen oder Terroristen, denn für sie gibt es keinen Grund, sich Herrn Karzaj zu fügen, und ihre Kampfweise ähnelt denen aller Widerstands- und Freiheitsbewegungen, einschließlich derer des Zweiten Weltkriegs.
-Beim Vollzug unserer strategy müssen wir die Gebräuche und Sitten des Landes achten und unsere Grundsätze zurückstellen. Mithin ist es zum Beispiel notwendig, Soldatinnen aus Kämpfen herauszuhalten.
-Vor allem aber müssen wir den Menschen in jenen Staaten eine gute Zukunft zeigen. Letztlich bedeutet das Lohn und Arbeit. Das aber konnten unsere Regierungen sogar bei uns noch nicht voll verwirklichen. Die Menschen dort aber werden Taten von den tatsächlichen Herren, also von uns, fordern. Also wartet eine gigantische Aufgabe, die viele Jahre und immense Summen fordert, über die aber kaum jemand zu sprechen wagt. Ob sie überhaupt lösbar ist, können nur Praktiker darlegen, die über aktuelle Kenntnisse verfügen.
Zusätzlich müssen warnende Tatsachen erwähnt werden. Sie ergeben sich daraus, daß es 2001 nach der Beseitigung der El Qaida ruhig, dann aber von Jahr zu Jahr unruhiger wurde. Vielleicht ist inzwischen die Feindschaft gegen Fremde so tief eingewurzelt, daß auch eine neue strategy zu viel Zeit braucht.
Zudem könnte das Umdenken, damit eine neue strategy, schwierig zu verwirklichen sein. In Afghanistan führen die USA. Sie waren ebenso wie die Briten, so unglaublich es klingt, stets überzeugt, Gottes eigenes Land, God’s own country zu sein, the people oft the covenant, das Volk, mit dem Gott einen Vertrag geschlossen hat, der ihm einen besonderen Auftrag, eine special mission, zuweist. Das galt schon im Ersten Weltkrieg; erschreckende Zeugnisse anzuführen, verbietet nur der Raum. God is with America, Gott ist mit Amerika, wie Präsident Bush damals verkündete. Wer sich den USA widersetzt, widersetzt sich demnach dem Willen Gottes. Die Folgen zeigt Bush sen.: „Who is not for uns, is against us.“ Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Dieses kreuzfahrerische Denken läßt keinen Raum zur Prüfung der eigenen Position und kann nicht zugestehen, daß auch der Opponent Rechte hat. Das macht einen gerechten Frieden unmöglich. Schon das Alte Testament aber lehrte: Pax fructus iustitiae, Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit.
Auch in Deutschland gibt es Schwierigkeiten. Das Land ist durch Hochachtung vor der westlichen Wertegemeinschaft, vor allem aber gegenüber den USA gekennzeichnet. Illustrativ hierfür ist, daß die Bundeswehr sogar dort, wo es unzweckmäßig ist, das amerikanische Vokabular übernahm. Früher haben wir zwischen Streife und Spähtrupp unterschieden, da sie verschiedene Aufgaben haben. Heute werden sie als patrol, Patrouille, zusammengefaßt. Ebenso wird die Trennung zwischen Ausbildung und Training verwischt, weil man nur noch von training spricht. Weitere Beispiele sind leicht zu finden. Auch läßt die Debatte um Kunduz wenig Willen erkennen, die Diskussion um die neue strategy anders als nach Parteiinteressen zu führen. Weiterhin verletzt Teilnahme an einem Krieg ein Tabu, sodaß die Präsidentin der Evangelischen Kirche die biblische und protestantische Lehre vom Gerechten Krieg mißachten und verkünden konnte, Krieg dürfe nach Gottes Willen nicht sein. Und schließlich ist fraglich, ob die Bundesrepublik genügend Männer hat, die einen Krieg durchstehen können. Die Zahl der tatsächlichen, vorgetäuschten oder herbeigeredeten, aber kaum „kritisch hinterfragten“ Trauma-Fälle weckt Zweifel.
Insgesamt sind also die Aussichten auf ein gutes Kriegsende nicht ermutigend.
Zum Schluß: Manch einer wird nun vermutlich urteilen, einige der vorgetragenen Gedanken seien fragwürdig und wichtige Gedanken – z. B. zu Pakistan – fehlten. Das dürfte zutreffen. Schon altindische Mythen, die Upanishaden lehrten, die allumfassende Sicht eines Berges sei nur den Göttern vom Himmel aus möglich, Sterbliche könnten auf der Erde stets nur eine Seite eines Berges sehen. Zweifelsfrei scheint dennoch: Die bisherige Sicht auf die Konflikte der westlichen Welt mit dem Islam, dabei auch auf die Konflikte im Iran, im Irak und in Afghanistan, muß korrigiert werden. Glücklich, wer glaubt, wir hätten Intellektuelle, Medienfürsten und Politiker, die dazu fähig sind.