Mit der Verbreitung des eurasischen Gedankens durch Alexander Dugin konnten erstmals bedeutende Strömungen des patriotischenrussischen Lagers unter dieser Idee zusammengeführt werden. Dem Eurasianismus verpflichtet sehen sich nunmehrneostalinistische Bolschewisten, antikommunistische Konservative, Monarchisten, orthodoxe Fundamentalisten undFaschisten. Dugin selbst beeinflußt und berät wesentliche Machtinstanzen des russischen Staates. Warum fällt der eurasischeGedanke in Rußland auf solch fruchtbaren Boden? Auf welche geistigen Traditionen und historische Ereignisse greifen dieEurasier um Dugin zurück?
In Rußland sind bis zum heutigen Tag Verschwörungstheorien und paranoische Ängste vor dunklen Mächten im Hintergrund weit verbreitet. Der unerwartete Tod einer beliebten Persönlichkeit des öffentlichen Lebens wird häufig auf Mord, Intrigen und verborgene Bünde zurückgeführt. Christliche Eschatologie, eine wortgetreue Vorstellung der biblischen Apokalypse oder Glaube an den leibhaftigen Satan und an Dämonen sind ebenfalls tief verwurzelt. Auch in säkularisierter Form leben Endzeitphantasien als Sonderweg Rußlands fort. Breite Volksschichten fühlen sich vom Gespenst der Russophobie allseits bedroht. Antijudaismus und antifreimaurerische Vorstellungen sind entsprechend weit verbreitet. Bemerkenswert ist das präsente historische Bewusstsein vieler Russen aller Schichten und Altersstufen. Rußlands Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen werden auf Analogien der Gegenwart hin untersucht.1
Skandinavische Waräger nutzten die großen westrussischen Ströme als Handelswege zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Entlang dieser Ströme gründeten sie mehrere Handelsniederlassungen. Daraus entstanden quasiautonome Stadtfürstentümer. Zur Wiege und Namensgeberin der rußländischen Nation sollte das Fürstentum der Kiewer Rus (gegründet 862) werden. Die Rus waren ursprünglich wohl nur ein skandinavischer Stamm, dessen Bezeichnung sowohl auf das beherrschte Umland als auch auf alle Bewohner unabhängig ihrer Ethnie erweitert wurde. Bereits im 10. Jh. war die Slawisierung der Nordmänner abgeschlossen. Der Einflußbereich der Kiewer Rus umfaßte um 1000 das heutige Westrußland, Weißrußland und die Ukraine. Es ist deshalb heute unmöglich festzulegen, ob es sich bei Russen, Weißrussen und Ukrainern um eigenständige Völker handelt oder eher um Stämme desselben Volkes. Gleiches gilt für deren Sprachen; handelt es sich um eigenständige Sprachen oder Dialekte? Diese Grundsatzfragen sind ein Politikum und von Machtinteressen abhängig. Kiews Herrscher Wladimir I. konvertierte 988 jedenfalls zum orthodoxen Glauben, damit wurde eine bis heute andauernde rom- und westfeindliche Haltung eingeleitet.
Im 13. Jh. können die Mongolen Rußland erobern, dabei zerstören sie das kulturelle Zentrum Kiew. Die mongolischen Invasoren tolerieren jedoch russische Eigenart und Orthodoxie. Neues Zentrum wird Moskau, von da aus vollzieht sich die Reconquista als „Sammlung russischer Erde“.
Die gegensätzlichen Orientierungen Rußlands nach Osten oder Westen werden in den beiden Nationalhelden Alexander von Nowgorod (Alexander Newskij) (1220–1263) und Danylo von Halytzkyj (1201–1264) deutlich. Je nach Orientierung steht Alexander Newskij für den eurasischen Typus: Er bekämpfte die katholischen Invasoren (Deutschritter, Polen, Litauer und Schweden) und verbündete sich sogar mit den mongolischen Eroberern (dem „Osten“). Danylo von Halytzkyj dagegen verbündete sich mit den katholischen Polen („Westen“) gegen die Mongolen. Heutige Eurasier sehen in Danylos Handeln Verrat am russischen Wesen. Sie machen ihn für die Herausbildung der Kleinrussen (Ukrainer) und West- bzw. Weißrussen im ethnischen und der Katholisch-Unierten Kirche im religiösen Bereich verantwortlich.2
Von zentraler Bedeutung bleibt das russische Sendungsbewußtsein, im übermenschlichen Auftrag zu handeln. Dieser Umstand erklärt sich aus der eigenen Reichsidee. Als 1453 Konstantinopel (das „Zweite Rom“) als Zentrum des byzantinisch-orthodoxen Christentums von den muslimischen Osmanen erobert wurde, flüchteten orthodoxe Geistliche nach Moskau, dem „Pionier in heidnischer Umgebung“. Der Mönch Philoteus stellte fest: „Zwei Rome sind gefallen, das Dritte steht, es wird kein Viertes geben.“ Damit beanspruchte Moskau, der geistige Leuchtturm der Menschheit zu sein. Mit dem Moskowiter Großfürsten Iwan IV. beginnt die kaiserliche Tradition auf russischem Boden (Kaiser und Zar leiten sich vom lateinischen Caesar ab). Das Moskauer Patriarchat wird dann 1589 unabhängig von Konstantinopel und ersetzt dieses.
Rußland wird fortan als Person gesehen: „Heiliges Rußland“ und „Mütterchen Rußland“.3 Ein Rußland ohne Imperium ist unvorstellbar, das Konzept der Staatsnation – wie das Frankreich des 16. Jh.s –, als westliche Idee verlorfen. Vielmehr existiert eine „Hierogamie“, eine „Heilige Ehe“ zwischen Rußland und dem Himmelreich Gottes.4
Die damit begründete russische Reichsidee – als übervölkische Einheit –, fungiert auch als Brücke zwischen Europa und Asien. Exemplarisch hierfür steht die Symbiose zwischen christlichen Zaren und islamisch-tatarischen Fürsten. Russentum und Russisches Reich sind aber nicht synonym zu verstehen: Wohl prägte das russische Volk den Reichsverband in Verwaltung, Infrastruktur, Kultur und Ökonomie, dennoch gehörten andere Völker und Konfessionen dazu. Zur Veranschaulichung dieser Gewichtung bietet sich die treffende Bezeichnung „Heiliges Byzantinisches Reich Russischer Nation“ an. Grundlage des rußländischen Staatsmodells waren „Orthodoxie – Autokratie – Narodnost“.5
Als absoluter Tiefpunkt russischer Geschichte gilt die „Zeit der Wirren“ (Smuta). Das Reich löste sich im 14. Jh. in einen großrussischen Teil, in einen kleinrussischen Teil (die heutige Ukraine), der von Polen besetzt war, und einen west- bzw. weißrussischen Teil auf, der von Litauern besetzt war. Als nämlich die Reichsidee zunehmend vernachlässigt wurde, zeigten sich bald Auflösungserscheinungen: Bauern- und Kosakenaufstände, vakanter Zarenthron und ungeklärte Nachfolge, Kirchenspaltung und als Demütigung – ein katholischer Pole als Alibi-Zar. Unter Besinnung aller geistigen Ressourcen und Ideale wählte die einberufene Ständeversammlung Michail Romanow zum neuen Zaren. Die Dynastie sollte erst 1917 ihr blutiges Ende finden.
Von ähnlich einschneidender Wirkung erscheint die Westorientierung Peters des Großen (1682–1725). Seine Reformen sind am ehesten mit der Kulturrevolution Atatürks vergleichbar: Nachahmung des Westens, umfassende Veränderungen in Militär, Kirche, Kalender und Verwaltung, Reglementierung der orthodoxen Geistlichkeit und Förderung ausländischer Berater. Deutsch und Französisch dominieren in Militär, Hof, Wirtschaft und Verwaltung. Zentralistische Maßnahmen zerstören den ursprünglichen Reichsgedanken und bringen die ethnischen und konfessionellen Minderheiten gegen Moskau auf. Mit der neuen Hauptstadt Petersburg am Westrand des Reiches manifestiert sich diese Neuorientierung in Stein. Folgerichtig erneuert Peter I. der Große seinen Kaisertitel nach modernen Gesichtspunkten: „aufgeklärter Absolutismus“ statt Autokratie
Das 19. Jh. bringt die wichtigsten politischen und philosophischen Strömungen, welche Dugin und seine eurasischen Mitstreiter prägen. In jenem Jahrhundert schwankt das Zarenreich zwischen Isolation und Westorientierung. Trotzdem ist eine schleichende Verwestlichung des höfischen Lebensstils und des sich entwickelnden Bürgertums nicht mehr aufzuhalten. Immer mehr sickern liberale, atheistische, freimaurerische und revolutionäre Ideen ein. Napoleon wird als westlicher Invasor in der Tradition katholischer Eindringlinge wahrgenommen. Der französische Siegeszug durch Europa und die unmittelbare Bedrohung Moskaus 1812 zeugen von Rußlands Unterlegenheit, der Westen erscheint demgegenüber übermächtig und nachahmenswert. In diesem Klima entstehen die Bewegungen der Slawophilen (Jurij Samarin und Iwan Aksakow) und Potschwenniki (etwa die Bodenverwurzelten). Beide stehen für den russischen Sonderweg unabhängig von Europa, aber auch gegen reaktionäre Erstarrung. Dieser dritte Weg favorisiert orthodoxe Spiritualität und institutionelle Kirchenkritik, zaristische Autokratie und Entbürokratisierung, Hierarchie und Abschaffung der bäuerlichen Leibeigenschaft. Der große Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) bekannte sich zu dieser Gesinnung.
Authentische Eurasier treten erst nach dem Sturz des Zaren 1917 auf. Unter den vor Lenin geflüchteten Exilrussen stehen sie für den exotischen, wenig einflußreichen, aber publizistisch aktiven Typus. Im Gegensatz zu restaurativen, slawophilen und faschistischen Exilrussen, sehen die Eurasier im stalinistischen Bolschewismus ihre Sache vertreten. Stalin wird als Konterrevolutionär und Scheinmarxist gesehen. Er ist für die Oktoberrevolution das, was für die Französische Revolution Napoleon I. war. Tatsächlich erkannte Stalin im Sowjetsystem dessen utopischen nichtpraktikablen Charakter: den wurzellosen neuen Sowjetmenschen ohne Spiritualität, Nationalität und Tradition. Ob aus Überzeugung oder Kalkül: Stalin nationalisierte den Bolschewismus. Sowjetisch sein hieß russisch sein. Er stellte sich sogar in eine Traditionslinie mit Moskowiens Frühzaren, lockerte die Unterdrückung der Orthodoxen Kirche – und nur dieser –, und förderte ab 1945 einen neuen Vaterlandskult. Folgerichtig versöhnten sich viele eurasischen Theoretiker mit dem Sowjetsystem und kehrten aus ihrem Exil zurück.
Von herausragender Bedeutung für die Eurasische Bewegung der Gegenwart sind Nikolai Ustrialov (1880–1937), Lew N. Gumiljow (1912–1992) und Nikolaj S. Trubetzkoy (1890–1938). Die Eurasier der Zwischenkriegszeit würdigen den Islam, Buddhismus und die Turkvölker als Förderer vergangener rußländischer Größe und Einzigartigkeit. Der russische Typus ist nämlich nur der Sprache nach slawisch, darüber hinaus auch mongolisch und turanisch. Damit stehen die Eurasier im Gegensatz zu den Slawophilen.
Diese aus den „Dorfschriftstellern“ hervorgegangene Strömung sammelte alle antiwestlichen, authentisch russisch-orthodoxen Ideen der Vergangenheit (also Slawophile und Potschwenniki) mit dem Ziel, die geistig-moralische Wiedergeburt des Russentums zu erreichen. Die oben dargestellte Reichsidee, mit ihrer charakteristischen Gleichberechtigung und Würdigung aller Völker auf russischem Boden, steht dabei im Mittelpunkt. Alexander Solschenizyn, Nikolaj Berdjajew oder Igor Ogurzow treten folgerichtig für ein neues Zarentum mit orthodoxer Staatskirche ein. Das bestehende kommunistische Sowjetsystem darf also keinesfalls durch westlich-liberale Ordnungskonzepte ersetzt werden. Auch die Neoslawophilen wenden sich scharf gegen den „Westen“ ohne jedoch das asiatische Element (mongolische und turanische Einflüsse) hervorzuheben.6 Noch etwas teilen Neoslawophile mit ihren eurasischen Konkurrenten: die oben angesprochene Neuinterpretation Stalins. Dessen Taten werden zwar verurteilt, aber man würdigt im Stalinismus eine Art säkularisierte Orthodoxie: Moskaus Weltmission und das Goldene Zeitalter der universellen Gerechtigkeit. Der Sowjetkommunismus hat neben seinen linken Zügen (Appell an Vernunft, Fortschrittswahn, Humanismus und Egalitarismus) auch deutlich rechte Akzente (Antiindividualismus, Irrationalismus, Patriotismus und Antiliberalismus), die seit den 1960ern immer mehr zunehmen. Mit der Entstalinisierung 1956 und einer merklichen Schwächung der UdSSR im Zuge der friedlichen Koexistenz steigerte sich die Stalinverklärung noch: Seine Verbrechen werden zu therapeutischen Eingriffen à la Iwan der Schreckliche. Die Zurückdrängung des jüdischen Revolutionselements dürfte daran nicht ganz unschuldig sein.
1991 betritt der Journalist Alexander Dugin (geb. 1962) die politische Bühne Rußlands. Zunächst engagiert er sich für die monarchistisch-faschistische Organisation Pamjat, um dann die „Nationalbolschewistische Partei“ mitzugründen. Danach beschränkte er sich bis Ende der 1990er auf seine Denkschule „Arktogaja“ und publizierte in seinen „Hauszeitschriften“ (Den, Elementy und Politika). Bis dahin setzte der umtriebige Vielschreiber noch keine eigenen Akzente, sondern sammelte und übersetzte ausländische Denker (Vertreter der „Konservativen Revolution“, Evola, Benoist und Jean-Francois Thiriart). Erst vergleichsweise spät entdeckte er auch russische Theoretiker (Slawophile, Potschwenniki, Neoslawophile, Eurasier der Zwischenkriegszeit). Mit der Jahrtausendwende entwickelte Dugin dann sein umfangreiches, eklektizistisches Opus magnum des Eurasianismus.
2003 gründete er zu dessen Verbreitung die „Internationale Eurasische Bewegung“ und die „Eurasische Partei“ sowie weitere Vorfeldorganisationen. Dugins Einfluß ist beträchtlich: er moderiert Radioprogramme, sitzt in Parlaments-Ausschüssen, arbeitet als Publizist für staatstragende Zeitschriften, und einige seiner Bücher sind offizielles Lehrmaterial für Universitäten (z. B. „Grundlagen der Geopolitik“ von 1997). Außerdem arbeitete Dugin als Berater des einflußreichen nationalkommunistischen Duma-Abgeordneten Gennadij Selesnjow. Dugin war mehrmals prominenter Gast in Kasachstan und im Iran.
Es gelingt Dugin, Rußlands Geschichte auf die Zeit nach 1991 zu übertragen. Wieder ist das Reich zerfallen, außer den nichtslawischen Regionen sind auch die Bruderrepubliken Weißrußland und Ukraine – die Wiege des Russentums –, unabhängig. Die orthodoxe Religion ist deutlich geschwächt, wenn auch wieder in der Offensive, die Gesellschaft degeneriert, die Geburten gehen stark zurück; die russischen Minderheiten in Zentralasien verlassen ihre Siedlungen, das Militär versagt als Schule der Nation, ein weit verbreiteter Separatismus und Ausverkauf der Wirtschaft dominiert, das demokratische System erweist sich als unfähig. Besonders die Regierung Jelzins erinnert an die „Zeit der Wirren“.
Im Folgenden soll überblicksartig vorgestellt werden, was die Schwerpunkte des Eurasianismus sind.
Der russische Nationenbegriff definiert sich traditionell räumlich-landschaftlich und religiös-spirituell. Das Konzept einer russischen Staatsnation à la Putin oder das Sowjetsystem widersprechen diesem Ideal und erinnern eher an das römisch-lateinische Feindbild. Ein Russentum auf biologisch-abstammungsmäßiger Grundlage widerspricht gleichfalls jeder rußländischen Tradition. Dugin räumt dem Ethnos zwar eine wichtige Rolle ein, nämlich das russische Volk als Träger der Nation, sieht aber im Biologischen keine absolute Größe. Das wird an seiner Haltung zum Auslandsrussentum deutlich. Alle russischen Emigranten außerhalb Eurasiens (z. B. in Nordamerika oder Brasilien) können keine authentischen Russen mehr sein, ihnen fehlt die Bodenverwurzelung und das Leben im sakralen Raum Eurasien (siehe unten). Zum authentischen Russen gehört zudem die Einheit mit der orthodoxen Kirche (Sobornost) – andererseits macht die orthodoxe Taufe noch keinen echten Russen aus.7
Da sich Dugin auf die russische Reichstradition beruft, sollte er der Orthodoxen Kirche eine privilegierte Sonderstellung einräumen. Die Würdigung der Orthodoxie hat aber keinen religiösen Hintergrund, sondern dient der Identitätsfestigung und antiwestlichen Abgrenzung. Als gelehriger Schüler des italienischen Kulturphilosophen und traditionalen Denkers Evola ordnet Dugin jede Konfession der Integralen Tradition8 unter. Da die Orthodoxie auch eine starke traditionale Strömung integriert – im Gegensatz zum eher liberalen Protestantismus –, gibt es keine Gegensätze.9 Es reicht, wenn die Völker Rußlands die Vormachtstellung der Orthodoxie akzeptieren, sie müssen nicht konvertieren oder können eine Art „Doppelglauben“ (Dvoevenje) leben: Man ist äußerlich Christ und zugleich überzeugter Muslim usw.
Dugin würdigt die orthodoxe Kirche ihres Strebens nach spiritueller Vervollkommnung wegen. Die Römisch-Katholische Kirche demgegenüber strebe nur nach sozialer Integration aller Gläubigen, das Kontemplative bleibt auf der Strecke. Besonders Jesuiten (für den Katholizismus) und Calvinisten (für den Protestantismus) stellen Entartungen dar, die zur Subversion führen müssen. Ebenso unterscheidet Dugin Strömungen im Islam nach traditionaler Kompatibilität: Der schiitische Islam entspricht dem orthodoxen Christentum, die Sunna der katholischen Kirche. Besonders der puritanische Wahabismus mit seiner ritualistischen inhaltsleeren Oberflächlichkeit erinnert an die Calvinisten. Wahabismus nütze nur dem Westen.
Für das künftige Russische Reich (und später ganz Eurasien) favorisiert Dugin eine „Union der traditionalen eurasischen Konfessionen“: Orthodoxie, Islam, Buddhismus, (antizionistisches) Judentum und Schamanismus. Mit dieser konfessionellen Phalanx als Widerstand der Gläubigen soll der Endkampf gegen Säkularisierung, Globalismus und neuartige Sekten gewonnen werden. Zwischenreligiöse Konflikte sollen friedlich und einvernehmlich gelöst werden. Missionierungsbestrebungen sind verboten.10
Immer wiederkehrende Schlüsselbegriffe in Dugins Werk sind die Gegenpole Eurasien und Atlantismus. Eurasien meint hierbei keine Synthese aus Europa und Asien, sondern etwas Drittes, eine neue Qualität. Gemeint ist ein metaphysischer Raum der Ursprünglichkeit. Eurasien wird mit dem Element Erde identifiziert (Stabilität, Dichte, Seßhaftigkeit, Hierarchie, Ideokratie und Werte), die Atlantiker mit dem Element Wasser (Beweglichkeit, Weichheit, Nomadentum, Individualismus, Relativismus und Demokratie).
Persönlichkeiten und Ereignisse der Geschichte werden entweder als eurasisch und traditional oder atlantisch und subversiv eingeordnet. So unterscheidet er zwischen den eurasischen Nationalsozialisten Karl Haushofer (1869–1946) und Goebbels11 und den atlantischen Nationalsozialisten Göring und Himmler. Hitler pendelt dabei zwischen den Polen. Zur Zeit des Nichtangriffspakts mit Stalin war Hitler angeblich eurasisch orientiert. Die nationalsozialistische Rasselehre sei atlantischen Ursprungs, um die eurasische Völkerallianz zu spalten. Die Akteure der „Konservativen Revolution“ werden als eurasisch angesehen (v. a. Ernst Nieckisch).
Der Gegenpol „Atlantismus“ bezeichnet die entfremdete atomisierte Welt der Moderne. Die atlantische Mentalität ist kaufmännisch und materialistisch geprägt. Zu ihr gehör(t)en das Britische Empire, die USA oder auch Napoleon. Eurasier und Atlantiker sind aber nicht an geographische Realitäten gebunden. So kann es russische Atlantiker geben (authentische Marxisten, Liberale, Freimaurer) und angelsächsische Eurasier (z. B. die US-amerikanischen Isolationisten).
Wie Eurasien und Atlantismus haben auch die sakralen Himmelsrichtungen eine metaphorische Bedeutung. Die Himmelsrichtungen stehen für sich absolut und nicht nach geographischem Standpunkt relativ. Dugins religionswissenschaftliche-mythologische Studien sind für diesen Umstand verantwortlich. Demnach steht der Norden für die Urheimat des Menschen, nämlich Hyperboreia, Atlantis oder Thule. Es gibt im Norden keine Gegensätze, Räume oder Zeiten, alles ist vollkommen. Der Süden steht für Dunkelheit, Materialität und Vergänglichkeit. Der Osten ist Hort ewiger Weisheit (Geburtsort der Sonne) und der Westen Heimat von Dekadenz, Oberflächlichkeit, Seelenlosigkeit, Täuschung (die Sonne geht im Westen unter). Norden und Osten sind eurasische Attribute, Süden und Westen atlantische.
Wie stellt sich Dugin den Eurasischen Staat vor? Das Reich Eurasien ist eine Art universelles Russisches Reich. Es gibt Trägervölker (Russen, Deutsche, Perser, Japaner, Mongolen) und gigantische assoziierte Vorposten (Indien, China, Arabien, Türkei). Der dezentrale Staat besteht aus ethno-religiösen Bezirken mit einem maximalen Grad an kultureller, sprachlicher, ökonomischer und juristischer, jedoch keiner ideologischen und außenpolitischen Autonomie.12 Wie es sich mit Vielvölkerregionen verhalten soll, bleibt Dugin seinen Anhängern schuldig. Alle Ethnien und traditionalen Konfessionen (siehe oben) entsenden Vertreter in die Ständekammer. Tatsächlich ähnelt Dugins Staatsmodell dem Korporativ- oder Ständestaat Othmar Spanns (1878–1950).
Dugin bezeichnet seine Staatsform als Aristokratie und „organische Demokratie ohne Parteien“. Der Ständestaat ist streng hierarchisch gegliedert und erinnert an das hinduistische Kastensystem. Evolas Einfluß ist auch hierbei nicht zu übersehen, gleichwohl Dugin das Militär (Kshatriya-Krieger-Kaste) zum Rückgrat des Staates erhebt und nicht den „Brahmanen“. Das Militär steht für Askese, Zucht und Ordnungsdienst; im Gegensatz zum weltabgewandten Brahmanen darf es sich in sozialen Belange einmischen. Die dritte Kaste der Arbeiter und Händler hat keine Möglichkeit der politischen Teilhabe. Sie ist zu materiell orientiert, hat keine Phantasie und Abenteuergeist, ihr Patriotismus entstammt egoistischen Motiven.
Das herrschende eurasische Recht ist metaphysisch begründet: religiöse Gebote christlicher Orthodoxie + Sittengesetze + staatliche Gesetze. Wie dieses Rechtssystem konkret aussieht, bleibt unklar.
Wirtschaftlich favorisiert Dugin einen „Neuen Sozialismus“, der sich auf Friedrich List (1789–1846), Gustav Schmoller (1838–1917), Werner Sombart (1863–1941) und John M. Keynes (1883–1946) beruft. Demnach sind Informationstechnologie, Landwirtschaft, Energie- und Rüstungsindustrie, Bodenschätze, Infrastruktur, Versicherungen und Banken staatlich verwaltet. Landbesitz und Fabriken können als Lehen an Private gehen. Hier zeigt sich Otto Strassers (1897–1974) Einfluß. Die Wirtschaft forciert eine Reagrarisierung und Autarkiestreben, damit wendet sich Dugin gegen die internationale Arbeitsteilung. Im neuen Eurasischen Reich existiert eine Einheitswährung, deren Stabilität durch die Bodenschätze garantiert werden soll. Dugins Staats- und Wirtschaftsverständnis ist am wenigsten ausgereift und spekulativ.
Rußlands Mission im 21. Jh. ist der Kampf gegen die atlantische Fortschrittsidee und monokulturelle Globalisierung. Rußland kämpft mit allen gewachsenen Kulturen (Volksidentitäten und traditionalen Konfessionen) zusammen. Moskau bildet den Kern des eurasischen Imperiums. Wie es indes gebildet wird, bleibt unklar. Deutschland soll Zentrum der Integration Europas sein. Es ist aufgrund seiner zentralen Lage, Größe und Mentalität dafür prädestiniert. Die deutsche Seelentiefe ähnelt der russischen. Von allen germanischen Völkern ist das deutsche das slawischste. Dugin wünscht sich ein christlich-orthodoxes Deutschtum als wahres Drittes Reich.13 Drei Machtachsen bestimmen Eurasien: Die Achsen Moskau–Berlin, Moskau–Tokio und Moskau–Teheran. Japan (Tokio) war fast immer an Mitteleuropa ausgerichtet. Die japanische Außenpolitik war bis zur Zäsur 1945 kontinental ausgerichtet, an der „Großasiatischen Wohlstandssphäre“ orientiert und kann als nicht kolonialistisch (und damit atlantisch) klassifiziert werden. Ganz anders China: Bis auf die Phase des „aktiven Maoismus“ war und ist China probritisch (und damit atlantisch) orientiert.
Indien und die arabische Welt stellen aufgrund ihrer Ausrichtung nach Süden bzw. Nordafrika keine integralen Bestandteile Eurasiens dar, sondern nur proeurasische Vorposten. Ein buddhistischer Nordblock aus Großmongolei, Japan, Tibet und russischen buddhistischen Völkerschaften fungiert als Grenze chinesischer Expansion. Der arabischen Welt mißtraut Dugin aufgrund des dominierenden Sunnitischen Islams und dessen Anfälligkeit für den atlantischen Wahabismus (mit Zentrum Saudi-Arabien). Schwierig ist das Verhältnis zur türkischen Welt (mit den turksprachigen Staaten Zentralasiens). Seit der Kulturrevolution des Freimaurers Atatürk gehört Ankara ins atlantische Lager. Nur eine gründliche Reislamisierung der türkischen Politik garantiert die eurasische Wende.
Die Bewertung Alexander Dugins gestaltet sich sehr schwierig. Sein eurasisches Zukunftsreich ist unklar und unausgereift. Es existieren nur Schlagworte ohne wirklichen Inhalt. An Dugins Ernsthaftigkeit, Eurasien als übernationales Riesenreich zu schaffen, darf gezweifelt werden. Eurasien erscheint vielmehr als ein utopisches Sinnbild orthodoxer Frömmigkeit. Schwer vorstellbar, wie solche unterschiedlichen Kulturen zusammenleben können und auf welche Weise die Integration erfolgen soll. Einige Analysen Dugins sind zweifelhaft und entspringen russischen Machtinteressen.14 Die Wiederbelebung der russischen Reichsidee ohne Russifizierungsprozeß (als Miniatureurasien) kann aber für Rußlands Integrität heilsam sein. Die wenigsten nichtrussischen Völker wollen die totale Separation, sondern nur ihre Identität und Autonomie erhalten. Die wirtschaftlichen Forderungen nach einer gemischten Volkswirtschaft mit hohem Autarkiegrad ist schon jetzt allgemein akzeptiert.
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß Alexander Dugin sehr opportunistisch handelt. Er revidiert häufig Aussagen und wechselt die politischen Fronten.15 Genauso gestaltet sich sein Verhältnis zu Putin. Einmal dient er sich Putin an, ein andermal greift er ihn rücksichtslos an. Grundsätzlich ist Dugin ein Meister der Inszenierung. Genau darum wird er von staatlichen Instanzen (z. B. vom Militärgeheimdienst) instrumentalisiert. Er integriert und moderiert ein breites Spektrum des russischen Nationalradikalismus. Europas Patrioten kommen an Dugins Einfluß vorerst nicht umhin; eine Beschäftigung mit seinen Ideen lohnt sich.
1 Das Ende des Sowjetimperiums wird gern auf eine jüdisch-freimaurerische Verschwörung zurückgeführt, um Rußland dem Westen auszuliefern. Der nur der Theorie nach marxistische Sowjetkommunismus hat – so der allgemeine Tenor –, urrussische Traditionen bewahrt.
2 Die Katholisch-Unierte Kirche des 16. Jh.s folgt byzantinischen Riten, untersteht jedoch dem Papst. Sie stellt ein wesentliches Identitätsmerkmal des Ukrainertums dar.
3 Rußlands Patrioten unterscheiden die Begriffe „Rodina“ (= Mutterland, eurasisch, weiblich) und. „Otchestvo“ (= Vaterland, männlich, westlich).
4 Der Schriftsteller und eurasische Ahnherr Piotr Tschadev (1793–1856) forderte die Besinnung auf Rußlands Weltmission. Rußland hat noch keinen historischen Beitrag geleistet, es steht abseits und über den irdischen Dingen. Seine himmlische Sendung ist die Erlösung aller Völker in Christo. Das Russentum muß dazu den Leidens- und Märtyrertod Christi gehen. Voraussetzung sei das Prinzip „Sobornost“ (etwa Symphonie). Gemeint ist die Harmonie und Gemeinschaftlichkeit zwischen dem einzelnen und dem Sozialen (v. a. der Orthodoxen Kirche). Der einzelne soll aber nicht restlos im Sozialen aufgehen, sondern sich nur mit ganzer Entfaltung einbringen. Individualismus außerhalb von Sobornost ist geistige Unterentwicklung, da jeder isoliert für sich denkt.
5 Diese Trias wurde erst im 19. Jh. vom Volksbildungsminister Sergej Uvarov (1786–1855) unter Nikolaus I. (1796–1855) explizit dargestellt. Narodnost meint in diesem Zusammenhang Volkstümlichkeit und Volksverbundenheit der Aristokratie.
6 Der Panslawismus des 19. Jh. spielt bei den Neoslawophilen keine Rolle.
7 Die nationalsozialistischen Gruppen sind die einzigen Nationalisten, die sich als immun gegen Dugins Ideen erweisen.
8 Es ist nicht der Raum, die Integrale Tradition darzustellen. Ganz grob läßt sich folgendes sagen:
Es existieren überzeitliche, übermenschliche, unabänderliche und kosmische Gewißheiten, die in allen – als traditional akzeptierten – Religionen und Kulten konserviert werden. Im Kern sind demnach alle diese Religionen gleich, haben nur kulturell und völkisch angepaßte Formen. Die mit dem kosmischen in Verbindung stehende irdische Ordnung und Hierarchie wird durch subversive Kräfte (z. B. Freimaurerei) bedroht.
9 Gleichwohl favorisiert Dugin die altgläubige ursprüngliche Form der Orthodoxie, die sich 1666 von der offiziellen Kirche aufgrund von deren Reformfreudigkeit abspaltete. Die Altgläubigen (auch Raskolniken) glauben an die Legende vom „Weißen Gewässer“ (Belowod’e), wonach sich die letzten wahren Christen auf einer Insel in einem im Norden gelegen Meer (Weißes Gewässer) zum Jüngsten Gericht sammeln.
10 Tatsächlich kennen die traditionalen Strömungen jeder Konfession keine Missionierung. Das gilt auch für die Mehrheit der orthodoxen Kirche und den schiitischen Islam.
11 Goebbels kam ursprünglich aus dem prosowjetischen Strasser-Lager und forderte einen „Notblock der unterdrückten und entrechtetenVölker“ (z. B. mit Indien und China) gegenden imperialistischen Westen.
12 In rudimentärer Form gibt es Rußland schon vergleichbare Regionen, die autonomen Gebiete für nichtrussische Minderheiten. Amweitesten ist diese Form in „Tatarstan“ fortgeschritten. In Zukunft soll es möglich sein, daß in muslimischen Regionen die Scharia als alleiniges Recht gilt.
13 Nach dieser Zählung war das Erste Reich bis 1806 katholisch und das Zweite 1871–1945 protestantisch geprägt.
14 Z. B. China als einzukreisender und zuspaltender Staat, der als atlantisch bewertet wird.
15 Das zeigt sich an der Bewertung Israels. Einmal sympathisiert er mit traditionalen orthodoxen Juden und lehnt das Existenzrecht Israels ab, ein anderes Mal sucht er die Verbindung zu rechtszionistischen Kreisen.