Als Rezept gegen die Probleme im Bildungswesen möchte uns die jetzige Regierung eine Gesamtschule (alias „Neue Mittelschule“) verordnen. Dagegen sollten wir uns mit allen Mitteln wehren, solange noch Zeit ist. Die Propaganda, mit der die „Neue Mittelschule“ beworben wird, ist ein geschickt gemixter Cocktail aus Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Idealvorstellungen, die als Fakten präsentiert werden.
Die Bildungsfrage ist sehr komplex und für eine detaillierte Diskussion müßten mehr Aspekte berücksichtigt werden, als in diesem Rahmen Platz finden können. Ich möchte daher drei Punkte herausgreifen, die in der derzeitigen Bildungsdiskussion besondere Beachtung finden: die angeblich schädliche „frühe Trennung“, die tatsächliche Bedeutung der PISA-Studie und die Eignung des finnischen Schulsystems als Vorbild für Reformen bei uns.
Vom BMUKK (Bundesministerium für Unterrichtm Kunst und Kultur) wird es als Tatsache hingestellt, daß alle Erziehungswissenschaftler sich darüber einig seien, die Trennung in Hauptschüler und Gymnasiasten im Alter von zehn Jahren sei zu früh und schade sowohl den Kindern als auch – längerfristig – der Wirtschaft, weil dadurch Talente verlorengingen, die in diesem Alter noch nicht eindeutig erkennbar seien. Dazu wird behauptet, im Ausland habe sich erwiesen, daß eine spätere Trennung sozial und akademisch bessere Ergebnisse bringe.
In Wahrheit gibt es nach Aussage des früheren „PISA-Papstes“ aus Deutschland, des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Baumert, „keine einzige belastbare Studie, die beweisen würde, daß ein gemeinsamer Unterricht über die vierte Volksschule hinaus sinnvoll ist“ (u. a. Spiegel Online, 27. Mai 2009). Andererseits haben aber zahlreiche vergleichende Untersuchungen aus Deutschland (u. a. die BIJU-Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung) gezeigt, daß Kinder, die nach der Volksschule noch zwei oder sogar vier Jahre weiter gemeinsam unterrichtet werden (d. h., in einer „Orientierungsstufe“ bzw. „Gesamtschule“), gegenüber den Kindern, die bereits mit zehn Jahren in ein Gymnasium gehen, erhebliche Defizite aufweisen. Diese Defizite können nach der achten Schulstufe zu Wissensunterschieden von bis zu drei (!!!) Schuljahren führen. So etwas kann in der Oberstufe nicht mehr aufgeholt werden. Was das vor allem für begabte Kinder aus bildungsfernen Familien bedeutet, spiegelt sich eindrucksvoll in den Zahlen, die aus den Gesamtschulländern berichtet werden: so hat sich etwa in Frankreich die Zahl der Studenten an den Eliteuniversitäten, die aus armen Familien stammen, seit Einführung der Gesamtschule um zwei Drittel reduziert. In England berichten die Universitäten von Oxford und Cambridge über Probleme, ihr gesetzlich vorgeschriebenes Kontingent an Studenten aus staatlichen Schulen vollzubekommen – dank der segensreichen Gesamtschulreform gibt es einfach nicht mehr genug Schüler, die die entsprechenden Voraussetzungen mitbringen (die, die es noch aus einer öffentlichen Schule dorthin schaffen, kommen fast alle aus den 164 verbleibenden Gymnasien, nicht aus Gesamtschulen).
Eine englische Studie (Norman Blackwell, „Three cheers for selection!“, 2007) zeigt, daß begabte Kinder aus „bildungsfernen“ Familien, die ins Gymnasium gehen, bei den Zentralprüfungen signifikant besser abschneiden als die aus den Gesamtschulen. Ebenfalls aus England stammen die Ergebnisse des Gesamtschulbefürworters Prof. David Jesson von der Universität von York, der besorgt feststellen mußte, daß Talente „verschwendet“ werden, weil staatliche Schulen die begabteren Schüler nicht ausreichend fördern (in England sind fast alle staatlichen Schulen Gesamtschulen) und daß überdurchschnittlich begabte Schüler an Gymnasien und privaten Schulen unvergleichlich bessere Ergebnisse erzielen als an staatlichen Gesamtschulen.
Auch das österreichische Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens (BIFIE) stellte in seinem „österreichischen Expertenbericht“ zu PISA 2006 fest, „daß in Ländern mit einer späten Erstselektion der Anteil an Spitzenschülerinnen und -schülern geringer ausfällt als in Ländern mit einem differenzierten Bildungssystem … Den betrachteten Ländern mit differenziertem Schulsystem gelingt offensichtlich die Förderung von Spitzenleistungen besser“.
Der Grund für all das ist nicht schwer zu finden: Je weniger ein Kind von zu Hause mitbekommt, desto wichtiger ist es, es möglichst früh in eine Umgebung zu bringen, wo es seinen Begabungen entsprechend gefordert und gefördert wird. In einer Gesamtschule findet eine solche Förderung aber nachweislich nicht statt. Nicht umsonst sind etwa in Finnland die Begabteren mit der Schule extrem unzufrieden (die HBSC-Studie der WHO hat ergeben, daß finnische Schüler im europäischen Ländervergleich am wenigsten gern in die Schule gehen). Was die Verschwendung an Talenten durch Vergeudung der intensiven Lernperiode vor der Pubertät für die Wirtschaft bedeutet, kann sich jeder selbst ausrechnen.
Die Idee, durch längeren gemeinsamen Unterricht würden Talente besser gefördert und soziale Ungerechtigkeit reduziert, ist eine Idealvorstellung, die in der Realität keine Entsprechung findet. Entgegen den Behauptungen des BMUKK hilft nämlich die spätere Trennung auch den Schwächeren nicht. Sie lernen deswegen nicht mehr, und laut der deutschen BIJU-Studie haben Schüler aus dem untersten Leistungsdrittel an Gesamtschulen zum Ende der Schulzeit ein signifikant niedrigeres Selbstwertgefühl als Hauptschüler. Auch ihre beruflichen und sozialen Chancen verbesserten sich nicht (LifE-Studie). Die katastrophale Bildungssituation in Ländern wie England, Frankreich oder Spanien nach Jahrzehnten der „gemeinsamen Schule der Vielfalt“ (BM Schmied) zeigt, was das in der Praxis wirklich bringt: dramatisch gefallene Standards in den öffentlichen Schulen, eine Reduktion der sozialen Mobilität, hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine „erzieherische Apartheid“ (Janet Daley in „The Telegraph“ 12. Aril 2010), in der Kinder aus wohlhabenden und bildungsbeflissenen Familien schon ab dem Kindergarten von den anderen getrennt in privaten Einrichtungen eine privilegierte Erziehung genießen. Der Rest sitzt in der „Hauptschule für alle“. Wollen wir das wirklich auch in Österreich?
Die PISA-Studie ist eine Querschnitt-Studie, weshalb ihre Ergebnisse von den seriösen Bildungswissenschaftlern sehr kritisch gesehen werden. Die bisher durchgeführten Längsschnittstudien, aus denen man verläßlichere Daten über Bildungssysteme ableiten kann (BIJU, Life etc.), zeigen alle, daß die Gesamtschule sowohl akademisch als auch sozial wesentlich schlechtere Ergebnisse bringt als die differenzierenden Systeme.
Die PISA-Studie sagt über die Qualität eines Schulsystems nichts aus. Dazu war sie auch gar nicht gedacht. Sie mißt nur Grundfertigkeiten – Lesen, Schreiben, Rechnen – und eignet sich daher bestenfalls als Hinweis darauf, wie gut ein bestimmtes System seine schwächsten Schüler fördert. Und das bringt mich gleich zum nächsten Punkt:
Finnland ist der „PISA-Sieger“, was immer das konkret auch bedeuten mag. Warum können finnische Kinder so viel besser lesen, schreiben und rechnen als andere?
Entgegen den Behauptungen des BMUKK hat dieses Ergebnis mit der „Gesamtschule“ (die in Finnland ohnehin etwas anderes bedeutet als bei uns) nichts zu tun. Was die Finnen haben (und was wir auch haben sollten), ist ein Fördersystem für die Schwachen, das in jeder Schule den Lehrern ein ganzes Team an Fachleuten (Krankenschwestern, Psychologen, Speziallehrern, Assistenten etc.) zur Seite stellt. Wenn ein Kind im Unterricht nicht mitkommt oder in der Leistung zurückfällt, wird vom Lehrer nicht „innere Differenzierung“ verlangt, sondern das Kind wird aus der Klasse herausgenommen und einer Speziallehrerin (mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung) zugeteilt, die ihm so lange auf Staatskosten Nachhilfe erteilt, bis es wieder aufgeholt hat. Etwa 17–20 Prozent der finnischen Kinder werden so betreut, manche davon das ganze Jahr über – das sind die 20 Prozent, die bei uns die PISA-Ergebnisse drücken. Dieses Fördersystem ist der Hauptfaktor beim PISA-Erfolg, nicht die Gesamtschule und auch nicht die Ganztagsschule, die es in Finnland nämlich gar nicht gibt.
Trotz der guten PISA-Ergebnisse muß vor „Finnland-Romantik“ gewarnt werden. In einigen Bereichen bringt das finnische Schulsystem nämlich wesentlich schlechtere Ergebnisse als unseres, vor allem, was die Förderung der überdurchschnittlich Begabten betrifft. Außerdem ist in Finnland die Möglichkeit, an einer Universität zu studieren, stärker als in allen anderen europäischen Ländern von der sozialen Herkunft abhängig (Asplund/Leijola, 2005).
Eine Einheitsschule bringt in allen Bereichen schlechtere Ergebnisse als ein differenziertes System. Wenn wir Vielfalt wollen, brauchen wir keinen Einheitsbrei, sondern vielfältige Ausbildungsmöglichkeiten! Eine Gesamtschule würde keine Verbesserungen bringen, sondern – wie man im Ausland sehen kann – nur zusätzliche Probleme.
DAHER: Bitte besuchen Sie uns auf unserer Website (www.schuelerbegehren.at). Wenn unsere Argumente Sie überzeugt haben, unterschreiben Sie bitte das Schülerbegehren und schicken Sie den Link weiter! Wir wollen mit unseren Informationen soviele Menschen wie möglich erreichen – jeder hat das Recht zu erfahren, was uns mit der „Neuen Mittelschule“ für eine „Mogelpackung“ verkauft werden soll. Wir hoffen, den verantwortlichen Politikern zeigen zu können, daß diese „Nicht-Reform“ in Österreich nicht erwünscht ist. Damit wäre der Weg frei für echte Reformen, die sich nicht an politischen Ideologien, sondern an den tatsächlichen Bedürfnissen orientieren.
Severin Vetter ist Schülervertreter und Schulsprecher des Kollegiums Kalksburg. Er hat einen Teil seiner Kindheit im Ausland verbracht, wo er das System „Gesamtschule“ von innen her kennengelernt hat – böses Erwachen beim Wechsel auf ein österreichisches Gymnasium inbegriffen.
Das Schülerbegehren wurde von einer Gruppe österreichischer Schülerinnen und Schüler initiiert, die über ein Jahr lang über die Gesamtschule recherchiert haben. Die Ergebnisse dieser Arbeit kann man (mit genauen Quellenangaben) auf www.schuelerbegehren.at im Menü „Behauptungen und Fakten“ nachlesen.