Die Milchbauern können sich freuen: Erhielten sie in Österreich im Juli 2009 noch 29,27 Cent pro Kilogramm Milch, waren es im Dezember 2010 schon 37,11 Cent. Eine Preissteigerung um fast 27 % in nur eineinhalb Jahren – ein Grund zum Feiern? Ganz und gar nicht, sagt Erna Feldhofer von der IG Milch: Die Grenzkosten in der Milchproduktion liegen trotz aller Förderungen bei 47 Cent pro Kilo, so argumentiert sie. Liefern die Bauern zu einem niedrigeren Preis, zehren sie von der eigenen Substanz.
Manche halten die 47 Cent für überzogen, die Interessensgemeinschaft (IG) Milch und der Bundesverband deutscher Milchviehhalter (BDM) hatten vor einiger Zeit noch mit 40 Cent argumentiert. Aber wie immer man nun rechnet, welchen Stundenlohn für den Bauern man angemessen hält, eines ist klar: Bei Milchpreisen wie in der Vergangenheit können die Landwirte kein ausreichendes Einkommen mehr erzielen, geschweige denn Geld für nötige Investitionen erwirtschaften. Wie ist es dazu gekommen? Als in Kriegs- und Nachkriegszeit Mangel herrschte, war Produktionssteigerung die Devise. Dies führte in den 70er Jahren zu den bekannten Milchseen und Butterbergen, die die EG am Weltmarkt nahezu verschenken mußte. In der Folge wurden Quotenregelungen eingeführt, die den einzelnen Milchbauern bestimmte Liefermengen vorgaben. Doch die Quoten waren, so argumentiert der BDM, zu hoch. Der Verbrauch von Milch, Butter und Käse läßt sich in den meisten EU-Staaten auch durch das beste Marketing nicht mehr wesentlich steigern. Im Zuge der Konzentration – 85 % des Lebensmittelhandels in Österreich sind in den Händen der drei größten Ketten Rewe, Spar und Hofer, die drei größten Molkereien (Berglandmilch, NÖM, Gmundner Milch) verarbeiten fast zwei Drittel der heimischen Milch – sind die Erzeuger immer mehr ins Hintertreffen geraten. Die Preise werden von den Abnehmern diktiert. Daher sank der durchschnittliche Abgabepreis der Erzeuger von 2000 bis 2007 um ganze 6 %, obwohl die Kosten –etwa für Energie – wuchsen. Die Verbraucher haben davon freilich nichts gehabt: Der Milchpreis in den Läden stieg im gleichen Zeitraum um 17 %!
Wie weit können Milchbauern diesem Prozeß durch Intensivierung ihrer Produktion begegnen? Heute gar nicht mehr, meint Romuald Schaber, Gründer des BDM und heute Präsident des European Milkboards, der die Rechte von über 100.000 Milchbauern in Europa vertritt. In seinem Buch „Blutmilch. Wie die Bauern ums Überleben kämpfen“ argumentiert er, daß pro Arbeitskraft höchstens 300.000 Kilogramm Milch pro Jahr erzeugt werden können. 40 bis 60 Kühe sind die Grenze für einen Familienbetrieb, der ohne angestellte Arbeitskräfte auskommt. Die durchschnittliche Milchleistung von Hochleistungskühen sei zwar von jährlich 4.000 Kilo auf bis zu 12.000 Kilo gestiegen, doch würde die Nutzungsdauer dieser Kühe heute im Durchschnitt nur mehr 1,7 Jahre gegenüber früher 5 Jahren betragen. Die Frage, ob die Milch dieser Turbo-Kühe noch ebenso wohlschmeckend und gesund sein kann wie die ihrer – man ist versucht zu sagen: natürlicheren – Verwandten, stellt Schaber dabei zusätzlich in den Raum. Die Grenze des züchterischen und technischen Fortschritts ist für ihn aber heute bereits erreicht, auch neue Entwicklungen wie die Einführung von Melkrobotern werden die Kalkulation, wie viele Kilogramm Milch ein einzelner Bauer im Jahr erwirtschaften kann, nicht mehr wesentlich verändern. Aus österreichischer Sicht ist dazu zu sagen, daß die für den Alpenraum besser geeigneten Rassen von dieser Milchleistung deutlich entfernt sind, insbesondere die Zweinutzungsrassen, bei denen mit der Aufzucht der männlichen Kälber auch noch ein gewisser Verdienst zu erwirtschaften ist. Hochspezialisierte Milchrassen, wie etwa die „Schwarzbunte“, verzeichnen eine so langsame Gewichtszunahme der Jungtiere, daß die Aufzucht bei schlechten Preisen zum realen Verlustgeschäft werden kann. In Österreich beträgt die durchschnittliche Milchleistung jedenfalls 6.000 Kilogramm pro Jahr.
Schon heute liegt also der Milchpreis unter den Erzeugerkosten. Doch die EU will die Milchquoten schrittweise bis 2015 erhöhen und dann den Markt völlig freigeben. Wohin soll das führen? Will die EU stärker in den Milchexport einsteigen? Romuald Schaber zeigt in seinem Buch auf, wohin diese Entwicklung führt: Nachdem auch die USA mit einer überhöhten Milchproduktion zu kämpfen haben und in Ostasien aufgrund der verbreiteten Laktose-Unverträglichkeit wenig Milch getrunken wird, bleibt als Zielgebiet des europäischen Milchexports in erster Linie die Dritte Welt. Doch in Bangladesch sichert die Produktion von 1000 Tonnen Milch 300 Arbeitsplätze, während sie in Deutschland von nur 3 Bauern bewältigt wird. In Indien hat ein durchschnittlicher Hof 5 Kühe und ernährt seinen Besitzer – doch mit den Industriegiganten aus der EU können solche Bauern nicht mithalten. 70 % der Milchexporte der EU gehen in Entwicklungsländer. Nach Burkina Faso und Kamerun liefert die EU Milchpulver und ermöglicht dort damit einen Milchverkauf um 7 bis 10 Cent unter den lokalen Produktionskosten. Ein Entwicklungshilfe-Projekt von „Brot für die Welt“ ist damit zu Grunde gerichtet worden: Die 1997 von deutschen Spendengeldern errichtete Molkerei mußte 2008 schließen, weil ihre Zulieferer mit den Dumping-Preisen des EU-Milchpulvers nicht mithalten konnten. Bangladesch, eines der ärmsten Länder der Welt, ist zugleich der fünfgrößte Importeur von europäischem, subventioniertem Magermilch-Pulver, was den 7 Millionen Bauern des Landes einen guten Teil ihres Einkommens nimmt.
Der European Milkboard hat ein anderes Ziel: Er will die Vollkosten der Produktion von einem Kilo Milch feststellen, wobei dies durch eine von Produzenten und Konsumenten gemeinsam besetzte Kommission erfolgen soll. Damit ergibt sich ein Zielpreis-Korridor, während der echte Preis für Milch weiterhin über den freien Markt gebildet wird. Verläßt er jedoch den Zielpreis-Korridor, wird das Angebot über Quoten gesteigert bzw. gesenkt, bis sich der Preis wieder im erwünschten Rahmen einpendelt.
Ein blauäugiges Konzept? Nein: In Kanada herrscht genau dieses System seit 1970, monatlich überprüft eine gemischte Kommission die Milchpreise und die Erzeugerkosten. Das Ergebnis: Während sich in Europa die Konzerne ihre Taschen auf Kosten der Erzeuger und Verbraucher füllen, lag in Kanada der durchschnittliche Milchpreis im vorigen Jahr bei 45 Eurocent pro Kilo, während die Milch im Laden auch nicht mehr kostete als hierzulande.
Selbst in den USA werden auf Grund der gewaltigen Probleme am Milchmarkt schon Modelle in diese Richtung entwickelt und sogar die EU hat mittlerweile erkannt, daß es nötig ist, die Erzeuger-Seite, also die Milchbauern, gegenüber den übermächtig gewordenen Handelsketten und Molkerei-Riesen zu stärken.
Insgesamt wird aber nur das an Kanada orientierte Modell der Milchrebellen die bäuerliche Landwirtschaft in Europa retten können, die die Konsumenten wollen, und die nicht nur aus ästhetischen und nostalgischen Momenten – glückliche Kühe auf grüner Weide im Landschaftsbild – heraus wünschenswert ist, sondern auch aus gesundheitlichen und aus ökologischen, man denke nur an den jüngsten Skandal mit Schließung Tausender Geflügel- und Schweinemastbetriebe aufgrund dioxinverseuchten Futters.
Schon ein Drittel der 90.000 deutschen Milchbauern ist Mitglied im Bundesverband deutscher Milchviehhalter und noch viel mehr, ganze 85 %, unterstützen die Forderungen des BDM und nicht die den Deutschen Bauernverbandes. In Österreich sind bisher zwar nur 4.500 von fast 40.000 Milchproduzenten Mitglieder der IG Milch, und doch hat dies schon einen Diskussionsprozeß im Lande auslösen können und auch das Bewußtsein der nach wie vor im Bauernbund verbleibenden Milchbauern verändert. Auch das Modell der „Faironika“ stammt von der österreichischen IG Milch. Wer die „faire Milch“ kauft, die in den jeweiligen Landesfarben angeboten wird – in Österreich sind die rot-weiß-roten Packerln in vielen Spar- und Lidl-Märkten erhältlich –, unterstützt damit die Milchbauern: Obwohl der Preis im Laden nur unwesentlich über dem anderer Milchpackungen liegt, erhalten die Bauern der IG Milch doch um 10 Cent mehr pro Liter. Das Modell funktioniert dabei genauso wie jenes des „Grünen Stroms“. „Nicht jammern, handeln“ ist auch das Credo von Romuald Schaber, der die Idee aus Österreich begeistert aufgegriffen und über den European Milk Board in Europa verbreitet hat.
Romuald Schaber
Blutmilch
Wie die Bauern ums Überleben kämpfen
172 Seiten, kart.,
Pattloch 2010, € 18,50